Quelle der Inspiration

Viola Hildebrand-Schat zeigt, wie sich heutige Künstler beim Versuch der Entschlüsselung ungelöster Welträtsel von mittelalterlichen Weltchroniken und Stundenbüchern inspirieren lassen

Von Barbara BeisinghoffRSS-Newsfeed neuer Artikel von Barbara Beisinghoff

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Viola Hildebrand-Schats Zusammenschau mittelalterlicher Weltchroniken und zeitgenössischer Künstlerbücher macht zunächst einmal neugierig mehr zu erfahren über die ganz Alten, über Albertus Magnus, den Physiologus, den Anicia Juliana-Codex des Dioskurides und das Ashmole Bestiary. Allemal rekurrieren zeitgenössische Künstler auf illuminierte Handschriften der Antike und des Mittelalters. Diese strahlen eine magische Qualität aus, an denen sich Generationen von Künstlern abarbeiten.

Das fängt beim Material an, beim Naturselbstdruck. Das kommt schon bei Dioskurides vor, bei seinen Materia Medica für die byzantinische Prinzessin Anicia. Leonardo da Vinci versucht, ein rußgeschwärztes Salbeiblatt in seinen Codex atlanticus zu drucken. Die verzweigten Rammelgänge des Fichtenborkenkäfers oder Buchdruckers, Ips typographus, werden immer wieder von Künstlern direkt als Druckstock verwendet. Maria Sibylla Merian verwendete für ihre Aquarelle carta non nata, Haut von ungeborenen Tieren. Herrliches Material zum Beschreiben geben beide her, die alten und die neuen Bücher, so zeigt es sich in Kunst verbucht. Das all over der Einbandverzierung auf dem Schnitt des Buches lässt einen Prachtband für Ulrich Fugger 1560 wie eine Schatztruhe erscheinen. Schriftbänder sind zu entschlüsseln bei den illuminierten Alten und Gedankenschleifen bei Ulrike Stoltz.

Einen weiten Bogen schlägt die Autorin von der fenestralen Durchdringung und den illusionistischen Durch- und Ausblicken des südniederländisch-katalanischen Gebetsbuchs zur Perforierung von Seiten in der zeitgenössischen Buchkunst. Überhaupt das Loch: gestanzt, gestochen, gelasert in Mauro Belleis Cent mille petits points, auf den Punkt gebracht als Stichpunkt, als Stichreproduktion, als Rasterpunkt im Stundenbuch Remake von Peter Malutzki und als Zeitloch. Der einzige Nadelstich von Kunst verbucht sind Rechtschreibfehler. Sind es Zeiten mit Lochstanzungen oder Seiten mit Lochstanzungen? Wegwitz? Wegewitz. Da könnte Kunst verbucht selbst zum Künstlerbuch werden, wenn man bei den Rechtschreibfehlern jeweils ein Loch stanzte und einen Faden durchfädelte wie beim Palmblattcodex – Löcher zwischen Buchstaben avant la lettre – avant la lette – Zeitlöcher.

Die Autorin rekurriert überwiegend auf die Künstlerbuchsammlungen des Klingspor Museums in Offenbach (Stefan Soltek hat das Nachwort geschrieben) und der Universitätsbibliothek in Frankfurt am Main.

Das Stundenbuch ist Quelle der Inspiration für Tatjana Bergelts gestanztes Insel-Buch, als Zeitrundblick über einen Tag für Ken Leslies Space + Time und als Zeitstrom für Ulrike Stoltz Fahrten über den Rhein mit der S-Bahn von Frankfurt nach Mainz. Daniela Deeg und Cynthia Lollis nähern sich dem modernen Zeitgefühl mit dem Fotoapparat und einem Zeitplan als Maßeinheit für Distanzen. Das Menschenbild in Très riches heures 1412 inspiriert Ryoko Adachi 2004/2005 zu irisierenden Wesen.

Was für herrliche Wörter und Alphabete findet der Leser: ein Alefbet in Joshua Reicherts Schöpfungsalphabet, das Traumalphabet von Roswitha Quadflieg und ein Architectonisches Alphabet von Johann David Steingruber, Schwabach 1773.

Viola Hildebrand-Schat zeigt Querverbindungen der verbuchten Kunst auf zwischen den Alten und der Jetztzeit, zwischen Galileo Galileis Siderius Nuncius 1610 und Karin Innerlings Sterntagebüchern 1996. Aus dem 19. Jahrhundert ragen William Blake mit seiner ganz eigenen Spiritualität und Drucktechnik und William Morris und sein Gesamtkunstwerk heraus und inspirieren uns Heutige, genauso wie die Leuchttürme der Buchkunst des 20. Jahrhunderts Henry van de Velde, Frans Masereel, Rudolf Koch und Claire Van Vliet.

Das eigenwillige zeitgenössische Künstlerbuch versucht sich mit ganz subjektiven Erklärungsmodellen zur Entstehung und Entwicklung der Welt (Kosmogonie) und zur Kosmologie, der Lehre von der Welt.

Künstler schreiben weiter an der Kosmographie, der Wissenschaft von der Beschreibung der Erde und des Weltalls. Bei der Beschäftigung mit den ungelösten Welträtseln spielen gerade der einsame Künstlerstandpunkt, der verrückte Blickwinkel und die daraus resultierende originelle Perspektive eine wichtige Rolle. Viola Hildebrand-Schats hervorragend bebildertes und systematisch gegliedertes Kunst verbucht verhilft dem von den Künstlern leidenschaftlich betriebenen und vom Kunstmarkt stiefmütterlich behandelten Betätigungsfeld der Künstlerbücher zu mehr Aufmerksamkeit und findet hoffentlich eine zahlreiche Leserschaft.

Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg

Titelbild

Viola Hildebrand-Schat (Hg.): Kunst verbucht. Handschriften und frühe Drucke als Quellen der Inspiration für das Künstlerbuch.
Ch. A. Bachmann Verlag, Essen, Ruhr 2015.
277 Seiten, 29,90 EUR.
ISBN-13: 9783941030497

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