Literarische Wenden und Kehrtwenden

Feldexperimente in der deutsch-deutschen Gegenwartsprosa

Von Carmen UlrichRSS-Newsfeed neuer Artikel von Carmen Ulrich

In einem Vierteljahrhundert mögen sich aus Wörtern Begriffe geformt, aus Blicken Perspektiven gebahnt und vor Begegnungen die Rollen verteilt haben. Angenommen, das Jahr der Wiedervereinigung markiere eine „Epochenschwelle“ (Hans Blumenberg), so ließen sich die literarischen Werke dieses Zeitraums einer historiographischen Kategorie zuordnen und nach bestimmten Eigenschaften, einer gemeinsamen Ordnung oder gar nach ihrer Geschichte befragen. Eine Geschichte für alle?

„Die Geschichte wiederholt sich nicht, doch wo etwas nicht Geschichte wurde und Geschichte nicht gemacht hat, wiederholt sie sich durchaus“, behauptet Ernst Bloch, den Volker Braun eben darum wiederholt.[1] Seine „Erkundungen“ in Das unbesetzte Gebiet (2004) drehen sich nicht nur um das Geschehene und das Gegenwärtige, sondern auch um das Mögliche, um jene sonderbaren, vorläufigen, rückständigen, utopischen und anstößigen Gebilde, die sich keineswegs so schnell einordnen lassen – als könnte es darum gehen, durch Fiktionen eine Welt zu schaffen, „in die viele Welten passen“.[2]

Meditationen über die innere Freiheit seien das Spezifikum ostdeutscher Literatur, behauptet Iris Radisch und verwendet dabei die Wörter „ostdeutsche Literatur“ ganz selbstverständlich zur Beschreibung auch von Neuerscheinungen, die nicht zwangsläufig auf jenem Territorium verfasst wurden, das einmal DDR hieß.[3] Von den zahllosen Definitionen, Beschreibungen und Bewertungen einer Literatur, die im Zuge einer politischen Situation entstand, im Kontext eines Gesellschaftsgefüges, das sich von dem der BRD unterschied und daher stets soziohistorische Parameter hervorrief, haben sich einige Texte der letzten Jahre frei gemacht, den Moment zwischen zwei Systemen abpassend, um nicht blind unter anderen Bedingungen in gleicher Weise weiterzumachen. „Es war umgeschaltet, aber nich verwandelt. Irmisch, hier kann glei der Fehler liechen.“[4] So warnt Volker Braun in Das unbesetzte Gebiet vor den Mechanismen der Realität, hält die Kunst als Korrektiv entgegen, den gesellschaftlichen und ökonomischen Prozessen zum Trotz das Motiv der Verwandlung, keineswegs um die Entwicklung infrage zu stellen oder den SED-Staat zu verklären. Dass jenes Land, das einmal DDR hieß, zum „Tunnelplatz von allerlei literarischen Phantasien“ wurde, zeigt, wie endgültig es verschwunden ist.[5] Dies trifft selbstredend auf nicht alle, aber erstaunlich viele Texte zu, die ein bemerkenswertes Potenzial an Utopien oder Dystopien und damit ein dynamisches Verständnis von Raum aufweisen, als „Ort, mit dem man etwas macht“.[6] In einigen Texten lässt sich dieser neu gestaltbare Raum nur auf der Negativfolie beschriebener ‚Nichtorte‘ konstruieren.

Wolfgang Hilbig, Meister in der Beschreibung existenzieller Ortlosigkeit, fokussiert in seinem Roman Das Provisorium (2000) unentwegt Bahnstationen, die im Trubel der Ankünfte und Abfahrten Veränderung nur vorspiegeln, tatsächlich aber von Stillstand gekennzeichnet sind. Eine Veränderung vermag sich bei dieser Rastlosigkeit nicht einzustellen, das Übermaß an Informationen und Orientierungshilfen macht das Vorläufige und Bruchstückhafte der menschlichen Existenz nur noch spürbarer. Für den in Alkoholexzessen sich ergehenden Protagonisten „ist etwas abgebrochen, etwas hat sich verschoben“,[7] etwas, das die Wahl einer bestimmten Richtung völlig gleichgültig, die Städte in Ost und West nahezu austauschbar und irgendeine Form von Zugehörigkeit unmöglich macht. In der Fremde, in Paris, spürt er plötzlich seine Herkunft, eine „DDR-Identität“, so stark wie nirgendwo sonst, am wenigsten in diesem Land, das zu existieren aufgehört hatte.[8] Gleichzeitig Stillstand und den Rausch zunehmender Geschwindigkeit gestaltend, persifliert Hilbig den Anspruch auf substanzielle Identität, gespeist aus Herkunft und Heimatversatzstücken. Unverkennbar selbstironisch gestaltet sich der Fund eines älteren Tagebuchs, in dem der Protagonist sein persönliches Leiden auf alle Schriftsteller Europas überträgt: „Der Schreibende hat in Europa kein Obdach mehr. Aber wahrscheinlich verbirgt sich hinter diesem Leiden nur die Flucht vor dem Gedanken, daß er seinen Ernst verloren hat.“[9]

Den Ernst verloren haben glücklicherweise nicht nur Hilbig, sondern auch jene Autoren, die angesichts des Übermaßes an historischer Aufarbeitungsliteratur die Geschichte hemmungslos umschreiben. Die Mauer ist nicht gefallen – nicht in Simon Urbans Roman Plan D (2011) und auch nicht in Thomas Brussigs fiktionaler Autobiographie Das gibts in keinem Russenfilm (2015).[10] Während Urbans Politthriller im Jahr 2011 den Mord an einem ehemaligen Berater des Regierungschefs Egon Krenz, inmitten eines zerfallenen und verdreckten Ostberlin aufzudecken sucht, berichtet Brussig von einer wirtschaftlich erfolgreichen DDR, die es 2006 ins Fußball-WM-Finale schafft, ihre Stasispitzel zu Steuerfahndern umschult und mit umweltfreundlicher Windkraft eine weltweit begehrte Energieversorgung entwickelt. Kontrafaktische Fiktionen, denen Brussig die Botschaft voranstellt, das Leben sei von Zufällen bestimmt, die Historie hätte anders verlaufen können und der Glaube an notwendige Abläufe sei ohnehin passé. Ob dieser Roman mit seiner Überfülle an rhetorischen Stilmitteln, allen voran die Übertreibung, tatsächlich die Denkbarkeit alternativer Geschichtsverläufe vermittelt, sei dahingestellt. Es wäre auch belanglos, denn zwanghafter Schicksalsglaube scheint nicht unbedingt das Problem der gegenwärtigen Leserschaft zu sein.

Brisanter erscheinen die Textstellen zur so genannten ‚DDR-Literatur‘, beschrieben als „nichtssagend, enttäuschend“, durch das als Denkverbot wirkende Druckverbot beschränkt und unzeitgemäß.[11] Die Abrechnung mit einer DDR-Literatur, die ihre Bedeutung allein aus den politisch schwierigen Existenzbedingungen beziehe, kulminiert in dem Satz: „Die mögliche Abschaffung der Zensur wurde von einigen Autoren allen Ernstes als ‚Entwürdigung‘ bezeichnet.“[12] Demnach gäbe es ohne Zensur keine ernstzunehmende DDR-Literatur, ohne Überwachung keinen Text, in dem über die Freiheit sinniert würde. Sie muss sich rar machen, um erotisch zu wirken und begehrt zu werden. Dafür braucht es keine Stasi, behauptet Brussig. Die Quote im Westen wirke gleichermaßen vernagelt und doktrinär wie die Zensur im Osten.[13]

Sozialismus und Kapitalismus – zwei austauschbare Ideologien, weil Staat und Markt, trotz inhaltlicher Gegensätze, ähnlich funktionieren und geschlossene Systeme bilden, die alles absorbieren und keine Gegenkraft dulden? Oder verhält es sich etwa so, wie der Philosoph Richard David Precht behauptet, dass mit dem Fortschreiten des Kapitalismus, wenn alles durch und durch kapitalisiert sei, die Gesellschaft notwendig umkippe in eine kommunistische Gesellschaft, in der alle gleichermaßen beteiligt und frei sind?[14] Haben die gesellschaftlichen Utopien also wieder Konjunktur? Sind wir Leser und Talkshow-Konsumenten dermaßen glückshungrig? An der Precht’schen Freiheitsutopie lässt sich zweifeln, auch wenn die Vernetzung der Produktion infolge einer umfassenden Digitalisierung mit Händen greifbar ist. Die Frage ist, ob Systeme überhaupt die Autonomie des Einzelnen befördern können, ob im Gleichklang aller nicht eher eine Dissonanz vonnöten ist. Vielleicht gibt die DDR, wie sie war, wie sie hätte sein können, genau dieses notwendige Biotop für alternative Lebensentwürfe ab. Und weil die Literatur der Post-DDR so gar nicht aufdringlich, vernagelt und doktrinär daherkommt, sondern ganz leicht, bescheiden und selbstironisch, passt sie so gut in unsere Zeit.

Hilbig beschreibt in Provisorium die Haltung, mit der die anerkannten DDR-Schriftsteller vor dem westdeutschen Publikum auftraten: Sie hatten „mit ihrer kritischen Solidarität sogar etwas wie ein neues Establishment auf dem westdeutschen Literaturmarkt errichtet, sie waren zu einer schwer rückgängig zu machenden Modeerscheinung geworden“.[15] Tatsächlich lässt sich die Literatur zum Thema ‚Deutsche Teilung und Wiedervereinigung‘ als eine Modeerscheinung lesen, nicht im abschätzigen Sinne, sondern ganz neutral betrachtet als eine Zeiterscheinung, ein Phänomen, das sich selbst über seine zeitliche Bedingtheit, Herkunft und Bedeutung durchaus im Klaren ist – als Alternative und zugleich Teil des bundesrepublikanischen Buchmarkts, als Einschluss des Gegenteils, eine dem Markt inhärente Alternativkultur, die, eingebettet in eine stabile Demokratie von mehr als 65 Jahren, alles darf, der alles erlaubt ist, diese ganze Spielerei mit der Geschichte.

Auch der mit zahlreichen Preisen bedachte Roman Kruso (2014) von Lutz Seiler arbeitet mit abseitigen Gesellschaftsentwürfen inmitten realer Schauplätze. Die Insel Hiddensee bot zu DDR-Zeiten tatsächlich eine Nische für Andersdenkende und Aussteiger. Seilers Roman experimentiert mit der Idee einer völlig losgelösten Freiheit, einer Inselfreiheit für Schiffbrüchige mit einer eigenen Ordnung und eigenen Werten. Neben der Küchenarbeit im Klausner bleibt genug Zeit für Poesie und freie Sexualität. Und doch scheint dieses Leben so „vollkommen jenseits, weit entfernt, den Kosmonauten aus den Kosmodromen ähnlich“, dass sich ein Empfinden von Realität nicht einzustellen vermag.[16] Alles wirkt irgendwie „geisterhaft“, eine Geisterinsel, angeführt von Kruso, dem Prediger der Freiheit, einer Freiheit, die nur hier existiert, in „Krusos System“.[17] Die „Insel der Seeligen“, wie Iris Radisch sie nennt,[18] entpuppt sich schon bald als Robinsonade, in der die ursprüngliche Idee von Freiheit eben keine Gegenrepublik zum Osten oder Westen hervorbringt, sondern sich vielmehr in eine persönliche Hörigkeit pervertiert – für den Protagonisten Ed wird der Titelheld die alles entscheidende Instanz. Das gleichzeitige Verschwinden der DDR wird buchstäblich verschlafen, Realität und Traum sind kaum unterscheidbar. So kippt die Utopie – mit dem Verschwinden dessen, wovor man floh – unversehens um in eine Dystopie und zwar ganz von selbst, mit der sich einschleichenden Unglaubwürdigkeit eines vermeintlich besseren Systems. Die Alternative zur DDR ist nicht ein anderes System, sondern nach Möglichkeit gar kein System oder allenfalls eine Ordnung, die sich selbst unterläuft, sich selbst nicht allzu ernst nimmt. Vorläufige, provisorische, in die Luft gehängte Gedankengebäude, fragil wie Spinnennetze, besetzen die Gegenwartsliteratur.

Der sich selbst aller Glaubwürdigkeit beraubende Roman Das gibts in keinem Russenfilm stellt die Frage, ob es ein Buch gebe, „das die Erfahrungen derer, die von Deutschland nach Deutschland gegangen sind, auf eine für alle gültige Weise thematisiert“, so wie für die Kriegsheimkehrer nach 1918 der Roman Im Westen nichts Neues oder für die Untergetauchten und Deportierten Das Tagebuch der Anne Frank.[19] Brussigs Figur findet die einschlägige Geschichtsliterarisierung in Uwe Tellkamps „Die Wand“ – eine bemerkenswerte Fiktion, die Tellkamps Monumentalwerk Der Turm (2008), die detaillierte Schilderung des Dresdener Villenviertels der 1980er-Jahre, in das sich regimekritische, aber weitgehend unpolitische Bildungsbürger zurückzogen, mit Marlen Haushofers Roman Die Wand (1963) verknüpft, in der eine Städterin in einsamer Natur plötzlich von einer unerklärbaren gläsernen Gefängnismauer umgeben ist, hinter der alles Leben erlischt. Bei aller Unterschiedlichkeit der Schauplätze sind doch beides Robinsonaden, die unfreiwillig bewohnt, keinen wirklichen Ausweg bieten, auch keine Ordnung erkennen lassen, die mit anderen Ordnungen vergleichbar oder Außenstehenden vermittelbar wäre. Der 2012 von Julian Pölsler verfilmte Roman Haushofers könnte, wenn man es nicht besser wüsste, gut als ‚DDR-Literatur‘ durchgehen. Wäre Haushofer 1920 nicht in dem oberösterreichischen Wallfahrtsort Frauenstein, sondern im mittelsächsischen Frauenstein geboren, wäre ihr Roman Die Wand, erschienen zwei Jahre nach dem Bau der innerdeutschen Grenze, sicher nicht als das Werk einer Naturliebhaberin und Feministin, sondern eher als das einer Dissidentin interpretiert worden. Die autobiographische Lesart mitsamt hermeneutischer Interpretation haben die „Der Autor ist tot“-Debatte gründlich überlebt, scheint es. Und gleichzeitig verschwindet innerhalb der Literatur die Bedeutung der DDR in ihrer realen Beschaffenheit rapide, ersetzt durch ein Spielfeld mit weniger Konstanten als Variablen.

Brussigs kontrafaktische Autobiographie, eine Satire, die sich permanent umdreht und überhöht, stellt indirekt die Henne-und-Ei-Frage: Was war zuerst da – der Staat oder die Literatur? Hat die DDR die DDR-Literatur hervorgebracht? Oder umgekehrt: Hat die Literatur den DDR-Staat erst glaubhaft gemacht? Die hohe Kunst dieses „Windmühlen-Romans“ – buchstäblich gegen die Windmühlen der DDR anschreibend, die das politische System durch erhöhte Wirtschaftskraft stabilisieren – besteht in der Selbstentlarvung des Protagonisten Brussig als Ideologe: Er besitzt zu wenig Phantasie, um im Car-Sharing den Beginn des Kommunismus gepaart mit Mobilität gleich Freiheit zu sehen.[20] Könnte der Kapitalismus zum Kommunismus mutieren, ohne die Freiheit zu verlieren, ließen sich die Gründe für den jahrzehntelangen Kalten Krieg nicht mehr so einfach nachvollziehen, und jeder, der aus der Geschichte etwas zu lernen sucht, stände im Verdacht ideologisch verbrämt zu sein.

Jedoch legt das Ganze, eingekleidet in eine Prosasatire, genauso gut die gegenteilige Schlussfolgerung nahe: Die Geschichte lehrt, dass es niemals nur eine gibt. Den universalen, für alle Bürger Deutschlands gültigen Roman vermag dieses Ost-West-Gebilde vermutlich nicht hervorzubringen. Und zu einer richtigen Epoche haben wir es in den letzten 25 Jahren auch nicht gebracht. Es bleiben viele, in sich ambivalente Geschichten – je unwahrscheinlicher und verschrobener, desto allgemein gültiger.

Anmerkungen:

[1] Volker Braun: Das unbesetzte Gebiet / Im schwarzen Berg. Frankfurt am Main 2004, S. 101.

[2] Ebd., S. 116.

[3] Iris Radisch: Literaturgespräch zu Lutz Seilers Roman „Kruso“, 4.09.2014. Siehe hier.

[4] Braun: Das unbesetzte Gebiet, S. 30.

[5] Volker Hage: Letzte Tänze, erste Schritte. Deutsche Literatur der Gegenwart. München 2010 (2007), S. 27.

[6] Michel de Certeau: Kunst des Handelns. Berlin 1988 (1980), S. 218.

[7] Wolfgang Hilbig: Das Provisorium. Roman. Frankfurt am Main 2001 (2000), S. 14.

[8] Ebd., S. 150.

[9] Ebd., S. 193.

[10] Simon Urban: Plan D. Roman. Frankfurt am Main 2011; Thomas Brussig: Das gibts in keinem Russenfilm. Frankfurt am Main 2015.

[11] Brussig: Das gibts in keinem Russenfilm, S. 45, 63.

[12] Ebd., S. 197.

[13] Ebd., S. 350.

[14] Richard David Precht diskutiert mit Sahra Wagenknecht: Wann kommt der Kommunismus, 26.04.2015. Siehe hier.

[15] Hilbig: Provisorium, S. 128.

[16] Lutz Seiler: Kruso. Roman. Frankfurt am Main 2014, S. 246.

[17] Ebd., S. 243, 407.

[18] Radisch: Literaturgespräch zu Lutz Seilers Roman „Kruso“.

[19] Brussig: Das gibts in keinem Russenfilm, S. 321f.

[20] Ebd., S. 366.