Hoffnungen, Ängste, Missverständnisse

Wie sich deutschsprachige Schriftsteller zur Solidarność in Polen äußerten

Von Marion BrandtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Marion Brandt

Als am 13. Dezember 1981 in Polen das Kriegsrecht verhängt und mit Solidarność die größte Demokratiebewegung militärisch niedergeschlagen wurde, die es bis 1989 in einem sozialistischen Staat gegeben hatte, protestierten etwa 30 deutsche Schriftsteller gegen die Verhaftung von Kollegen. Westdeutsche Schriftstellerorganisationen forderten in Protestnoten, unter anderem an den polnischen Botschafter in Köln, die Freilassung inhaftierter Schriftsteller und organisierten materielle Hilfe für die Internierten. Martin-Gregor Dellin, der Präsident des westdeutschen PEN-Zentrums, bat Stephan Hermlin, sich für die Entlassung von Kollegen aus den Internierungslagern einzusetzen. Der Freie Deutsche Autorenverband antwortete als einzige Schriftstellerorganisation auf einen Appell, in dem sich polnische Exilschriftsteller (unter ihnen Czesław Miłosz und Gustaw Herling-Grudziński) im Frühjahr 1982 an die Deutschen gewandt hatten.

Wenige Monate nach der Verhängung des Kriegsrechts wurde der 150. Jahrestag des Hambacher Festes gefeiert, auf dem die deutschen Frühliberalen ihre Solidarität mit dem Unabhängigkeitskampf Polens bekundet hatten. Auf der Feier im Mai 1832 traten polnische Offiziere, die nach der Niederschlagung des Novemberaufstandes 1830/31 nach Frankreich  ins Exil gezogen waren, als Redner auf. An diese Tradition wollten  Politiker der Grünen anknüpfen, als sie den Organisatoren der Jubiläumsfeier 1982 – zu denen unter anderen der Verband deutscher Schriftsteller und die Deutsche Journalisten-Union zählten – vorschlugen, einen Solidarność-Vertreter auf der zentralen Kundgebung sprechen zu lassen. Ihr Vorschlag wurde abgelehnt. Es war dann der Literarische Verein der Pfalz, der eine Anthologie zur Erinnerung an das Hambacher Fest herausgab und an die deutsche Polenfreundschaft des Vormärz erinnerte.[1]

Auch die Reaktion des Verbandes deutscher Schriftsteller (VS) auf die Zwangsauflösung des polnischen Schriftstellerverbandes im August 1983 verrät einiges über die Haltungen deutscher Schriftsteller zur Solidarność. Bernt Engelmann, der damalige Vorsitzende des VS hatte in einem Telegramm an den polnischen Regierungschef Armeegeneral Wojciech Jaruzelski gegen das Verbot des Verbandes protestiert und zugleich die Gründung einer Interessenvertretung der Schriftsteller gefordert. Damit hatte er der Neugründung des Verbandes, die von der polnischen Regierung bereits eingeleitet worden war, grünes Licht gegeben. Nach Protesten gegen diese zweideutige Stellungnahme trat der Vorstand des VS zurück. Der Verband rang sich nach heftigem Streit zwar zu einer neuen Resolution durch, zur Wahl eines Vorstandes, der sich von der Engelmannʼschen Politik distanziert hätte, kam es jedoch nicht.

Wie diese hier nur kurz skizzierten Ereignisse dokumentieren, hielt sich die Mehrheit der deutschen Schriftsteller und ihrer Organisationen mit Solidaritätsbekundungen gegenüber Solidarność zurück. Bereits Zeitgenossen kritisierten dies, unter anderem Heinrich Böll, der auf einer Pressekonferenz am 22. Dezember 1981 öffentlich über die Gründe für die verhaltenen Reaktionen auf das in Polen verhängte Kriegsrecht nachdachte. Dabei verwies er auf die blinden Flecken in der Wahrnehmung des Sozialismus  durch die westeuropäische Linke, der es schwer fiele, die Verbrechen der Sowjetunion und die Verletzungen demokratischer Grundrechte in den osteuropäischen Staaten zur Kenntnis zu nehmen beziehungsweise angemessen zu beurteilen. Seiner Ansicht nach waren es überdies aus dem Zweiten Weltkrieg herrührende Schuldkomplexe, die es vielen Deutschen unmöglich machten, die Politik einer polnischen Regierung zu kritisieren und sich in polnische Angelegenheiten einzumischen. Schließlich erklärte Böll die Zurückhaltung westdeutscher Intellektueller auch mit „antikirchlichen Komplexen“, einem „töricht laizistisch-areligiösen Element“.[2] Weitere Gründe ließen sich hinzufügen: So konnte sich 1981 kaum jemand vorstellen, dass die sogenannte Jalta-Ordnung – die europäische Teilung, dessen Symbol die Berliner Mauer war – auf friedliche Weise aufgehoben werden könnte. An dieser Nachkriegsordnung aber hatte Solidarność gerüttelt, indem sie das Machtmonopol der kommunistischen Partei in Polen in Frage stellte. Während die meisten Schriftsteller so wie Stefan Heym realpolitisch argumentierten und davor warnten, den internationalen Status quo anzutasten, da es ansonsten zu einer militärischen Konfrontation zwischen dem Warschauer Pakt und der NATO kommen könnte, die in einen Dritten Weltkrieg münden würde, gab es nur vereinzelte Autoren, die wie Peter Schneider forderten, dass in den Äußerungen über Polen doch zumindest „die Differenz zwischen dem tatsächlichen und dem wünschbaren politischen Zustand nicht zugeschmiert“[3] werden solle. Dies ist allerdings oft der Fall gewesen, zumal einflussreiche Schriftsteller, etwa der Vorsitzende des VS Bernt Engelmann, aber auch bekannte Publizisten wie Theo Sommer, Peter Bender oder Rudolf Augstein die Ostpolitik der SPD-geführten Bundesregierung wortmächtig unterstützten. Diese aber sah in Solidarność eine Störung der Entspannungspolitik und der deutsch-deutschen Annäherung. Fragt man nach den Gründen für die mangelnde Solidarität mit Solidarność muss man leider auch auf das Fortwirken der traditionellen deutschen Polenstereotypie verweisen, denn anders ließe sich eine Äußerung wie diese wohl kaum erklären: „Mehr als Arbeit und Disziplin verschreiben kann der polnischen Nation ohnehin kein Mensch auf der Welt – doch wer bringt neben der nötigen Courage auch noch den Mut auf, sie tatsächlich zu verordnen?“[4]

Nicht jeder Schriftsteller musste oder konnte den Weitblick eines durch die GULAG-Erfahrung geprägten Horst Bienek haben, der nach dem Ende des Streiks auf der Danziger Leninwerft im Spätsommer 1980 in sein Tagebuch schrieb: „Mir erscheint, was jetzt in Polen geschieht, als ein Riß im kommunistischen Monolith. Die Russen begreifen noch nicht ganz (und sogar der Westen nicht), daß hier die Sterbestunde des Kommunismus eingeläutet wird.“[5] Dennoch hegten polnische Schriftsteller die Erwartung, dass ihr Kampf für Demokratie und Freiheit bei den deutschen Kollegen auf Interesse stoßen würde. Dies war allerdings nur bei wenigen der Fall. Für Solidarność interessierten sich oft diejenigen, die wie Günter Grass, Siegfried Lenz oder Arno Surminski aus Danzig und den Masuren stammten, aus Gebieten also, die seit 1945 zu Polen gehören, und daher eine persönlichere Beziehung zu dem Land hatten. So ist Surminski wohl der einzige Schriftsteller, der ein literarisches Bild des Danzigs vom August 1980 geschaffen hat, und zwar in seinem Roman Polninken oder Eine deutsche Liebe (1984), für dessen Handlung, eine tragisch endende deutsch-deutsche Liebe, der Streik und dann auch die Solidarność Hintergrund und Bezugsfolie sind.

Vor allem interessierten sich solche Autoren für die polnische Revolution, die nach einem dritten Weg zwischen Sozialismus und Kapitalismus auch als Alternative zu bundesrepublikanischen Verhältnissen suchten und ihn im Projekt des demokratischen Sozialismus fanden, wie es im Prager Frühling wohl am attraktivsten formuliert wurde. Zu ihnen gehörten Westberliner Schriftsteller wie Hannes Schwenger, Johano Strasser und Hans Christoph Buch, die seit Mitte der 1970er-Jahre die Opposition und Demokratiebewegungen in den osteuropäischen Ländern unterstützten. Schwenger war Mitbegründer des Schutzkomitees Freiheit und Sozialismus im Dezember 1976, das in Westberlin und der Bundesrepublik sowie auf internationaler Ebene Solidaritätsaktionen für  Gefangene in der DDR und in anderen sozialistischen Ländern organisierte. Aus dem Kreis der Berliner Schriftsteller kam auch die stärkste Kritik an Bernt Engelmanns Politik der Annäherung an die Schriftstellerverbände in den sozialistischen Staaten.

Wenn Dorothee Sölle die Kranführerin Anna Walentynowicz, deren Entlassung von der Danziger Werft unmittelbarer Auslöser für den Streik im August 1980 wurde, in ihrem Gedicht Spiel doch von Rosa, Anna und Rosa mit Rosa Luxemburg und der US-amerikanischen Bürgerrechtlerin Rosa Parks verglich, stellte sie den Streik der polnischen Werftarbeiter in eine Reihe mit dem Kampf für den Sozialismus und für die Menschenrechte in den USA. Diese Erweiterung der Perspektive ist für die Äußerungen von Schriftstellern charakteristisch, die nach einem dritten Weg zwischen den beiden sich nach dem Zweiten Weltkrieg gegenüberstehenden Machtblöcken suchten. Heinrich Böll, Max Frisch und Günter Grass richteten ihre Kritik oft gegen die Politik der Sowjetunion und der USA gleichzeitig, letzterer verglich Solidarność sogar mit der sandinistischen Befreiungsbewegung in Nicaragua. Günter Grass war zweifellos der namhafteste Schriftsteller, der seit Mitte der 1970er-Jahre die polnische Opposition und dann auch Solidarność unterstützte sowie in mehreren Romanen (Der Butt, Die Rättin, Unkenrufe) auf sie Bezug nahm (siehe hier).

Schriftsteller, die aus der DDR in den Westen zwangsausgebürgert worden waren und dort später Solidaritätsaktionen für Solidarność organisierten oder sich aktiv an ihnen beteiligten, hegten meist die Hoffnung, dass die polnische Revolution im gesamten sozialistischen Lager zu demokratischen Veränderungen führen möge. Wolf Biermann schrieb Lieder für Solidarność und gegen das Kriegsrecht, die er auf mehreren Solidaritätsveranstaltungen sang. Während der Konzerte und in Interviews hielt er nicht mit seiner Meinung zurück: Er warf der Bundesregierung ihre Zusammenarbeit mit den polnischen Generälen vor sowie den westdeutschen Linken und der Friedensbewegung ein „brutales Desinteresse“ an Polen.[6] Jürgen Fuchs, der die polnische Revolution von Westberlin aus unterstützte, bemühte sich unermüdlich, in Reden und Publikationen linke und friedensbewegte Bekannte für die Situation in den sozialistischen Staaten zu sensibilisieren, polemisierte aber auch scharf mit Hermann M. Gremliza, dem Herausgeber von „Konkret“, in dessen Publikationen er genau die Rhetorik wiederfand, die er aus der DDR kannte. Helga M. Novak interessierte sich besonders für die „anarchosyndikalistische Komponente der Betriebsbesetzungen, der Selbstverwaltung und der anderen Solidarność-Sachen“.[7] Wohl als einzige Ausgebürgerte konnte sie mehrere Male Spenden nach Polen bringen, weil sie die isländische Staatsbürgerschaft besaß. Utz Rachowski gelang es sogar noch nach der Verhängung des Kriegszustandes nach Polen zu fahren, wo er Adam Zagajewski, Ryszard Krynicki und Julian Kornhauser besuchte, Geldspenden überbrachte und Informationen über inhaftierte Schriftsteller sammelte.

Für Reiner Kunze hatte die Idee eines Sozialismus mit menschlichem Antlitz zu dieser Zeit keinerlei Faszinationskraft mehr. Er schrieb im Dezember 1980 angesichts der drohenden Intervention der Staaten des Warschauer Vertrages in Polen mit Die küste von Danzig ein Gedicht, in dem er eindringlich von der Hoffnung und der Furcht sprach, mit denen er die Ereignisse in Polen wahrnahm. Von seinem anhaltendem Interesse an Polen zeugen die Gedichte die verurteilten von Thorn (nach der Ermordung des Priesters Jerzy Popiełuszko) sowie das bereits nach 1990 entstandene Posen, denkmal der aufstände. In einem Interview von 1990 sagte Reiner Kunze, dass sich mit dem Jahr 1989 für ihn der berühmte Satz Georg Herweghs „Kein freies Deutschland ohne ein freies Polen und kein freies Polen ohne ein freies Deutschland“ bewahrheitet habe.[8]

Auf eine neue deutsche Polenfreundschaft in der Tradition der frühliberalen Polensympathie des Völkerfrühlings hatte auch Horst Bienek gehofft. Die Hoffnungen erfüllten sich aber nur teilweise. Zwar gründeten sich 1980 in einigen Städten der Bundesrepublik und in Westberlin Komitees „Solidarität mit Solidarność“, die mit polnischen Emigrantenorganisationen zusammenarbeiteten, Hilfs- und Protestveranstaltungen organisierten und Informationen über die Opposition in Polen verbreiteten, sie hatten aber für die politische Öffentlichkeit in Deutschland eine wesentlich geringere Bedeutung als die Polenvereine von 1830–32. Vor allem aber waren es nur wenige Intellektuelle, die wie die deutschen Frühliberalen ein Junktim zwischen den nationalen Interessen Polens und Deutschlands sahen. Diejenigen, in deren Augen sich die nationale Idee angesichts der deutschen Verbrechen im Zweiten Weltkrieg nicht völlig diskreditiert hatte, sahen den Schlüssel zur deutschen Einheit meist im Kreml liegen und nicht bei einer auch noch so starken sozialen Bewegung in einem der Ostblockländer. 

Bezugnahmen auf Solidarność findet man in den 1980er-Jahren auch in den literarischen Werken einiger bekannter deutschsprachiger Schriftsteller. So thematisierte Friedrich Dürrenmatt in seinem letzten Stück, der Komödie Achterloo (1983–1988), die „Notwendigkeit des Verrats in der Politik“.[9] Dabei ging er von der damals durch die polnische Militärregierung verbreiteten, heute aber durch Historiker widerlegten Information aus, dass General Jaruzelski das Kriegsrecht verhängt habe, um einer militärischen Intervention der Armeen des Warschauer Paktes in Polen zuvorzukommen.

Hans Magnus Enzensberger schrieb nach einer Polenreise im Herbst 1986 den Text Polnische Zufälle, in dem er das Bild einer in Polen herrschenden „kollektiven Depression“ zeichnet, aus der kein Weg herauszuführen scheint. Die Regierung habe „kein Projekt“ und die Opposition huldige dem Irrationalismus, sei „wundergläubig“.[10] Dass Enzensberger sich ähnlich wie Dürrenmatt vor allem für die Dilemmata der Macht interessierte, zeigt sein am 9.12.1989 in der „FAZ“ veröffentlichter Essay, in dem er neben N. Chruschtschow, J. Kádár, A. Suárez und M. Gorbatschow auch General Jaruzelski als einen „Helden des Rückzugs“ bezeichnete, weil dieser es vermocht habe, die diktatorische Macht auf friedlichem Wege abzugeben.

In der DDR äußerte sich die überwiegende Mehrheit der Schriftsteller nicht öffentlich zu Polen, was mit Blick auf die Fülle von Polentexten, die nach der Öffnung der Grenze zwischen beiden Ländern in den 1970er-Jahren entstanden waren, besonders auffällig ist. Nicht nur die Grenzschließung im Oktober 1980 und die Zensur waren ein Grund dafür, dass selbst Schriftsteller, die wie zum Beispiel Christa Wolf der Politik der DDR-Regierung in mancher Hinsicht kritisch gegenüberstanden, zu deren Polenpolitik und -propaganda schwiegen. Hinzu kam auch hier die Angst vor einer Zuspitzung der internationalen Lage und einer militärischen Intervention in Polen, die angesichts der Aussicht, dass sich die Armee der DDR an diesem Einmarsch beteiligen müsste, nur umso größer war. Viele Schriftsteller hielten trotz ihrer Kritik an einzelnen politischen Entscheidungen der DDR-Regierung an der sozialistischen Idee beziehungsweise Utopie fest und sahen in der polnischen Demokratiebewegung eine Gefahr für den Sozialismus. Andererseits fällt auf, dass sich die negative Einschätzung von Solidarność als einer antisozialistischen Terrororganisation, die in den Medien der DDR dominierte, nur auf internen Veranstaltungen des Schriftstellerverbandes und des PEN-Zentrums zu finden war und sich etwas abgemildert in ganz wenigen, literarisch eher schwachen Texten niederschlug. Literarische und publizistische Texte, deren Autoren mit offener Sympathie über Solidarność schrieben, konnten in keinem Verlag der DDR erscheinen. Wie es jemandem erging, der es dennoch versuchte, zeigt die Geschichte von Monika Nothing, die wegen ihres Romans Zu den Wurzeln steigen (1990) Opfer verschiedener Repressalien einschließlich einer durch die Stasi eingeleiteten operativen Personenkontrolle wurde.

Einige Autoren bewahrten ihre nicht publizierbaren Texte bis 1989 in der Schublade auf, so F. Eckhard Ulrich, dessen Gedicht Meinen polnischen Freunden zugeeignet gemeinsam mit anderen Polengedichten erst 1994 erschien.[11] Ulrich gehörte zu den Schriftstellern, die in der DDR so gut wie nichts veröffentlichen konnten. Er war seit dem Herbst 1980 als habilitierter Arzt für Innere Medizin an der Universität Poznań tätig und erlebte so den Aufbruch der polnischen Gesellschaft aus nächster Nähe mit. Sein Gedicht, in dem er den polnischen Freunden Mut zuspricht, wurde ins Polnische übersetzt und an der Universität in Poznań öffentlich ausgehängt. Sein Rhythmus folgt Julius Mosens Die letzten zehn vom vierten Regiment, das nach dem Novemberaufstand 1831 entstand und zu dem der französische Komponist Joseph-Denis Doche die Musik schrieb. In der polnischen Übersetzung ist dieses Lied heute bekannter als im Original. Ebenfalls erst nach 1989 wurde Axel Reitels Gedicht So ging es publiziert, das von einem Hungerstreik im Cottbusser Gefängnis erzählt, in dem die Häftlinge am 13. Dezember 1981 ihre Solidarität mit Solidarność bekundeten und an dem der Verfasser selber teilnahm.[12]

Literarische Werke, die von einem Verständnis für Solidarność sprachen, konnten nur im Westen oder im Untergrund veröffentlicht werden. Von den bekannten DDR-Schriftstellern publizierte lediglich Volker Braun einen solchen Text. Fortschritt, unverhofft gehört zu den von der Zensurbehörde gestrichenen Prosastücken aus den Berichten von Hinze und Kunze (1983), die fast gleichzeitig in unzensierter Form im Suhrkamp Verlag in Frankfurt a.M. erschienen. Braun lässt in ihm die beiden Figuren Hinze und Kunze entgegengesetzte Haltungen zu den Ereignissen in Polen einnehmen: Kunze vertritt die offizielle Position der SED-Führung, nach der in Polen „Chaos“ herrsche, der Sozialismus auf dem Spiel stehe und – dies laut zu sagen, traut er sich jedoch nicht – endlich „Ordnung“ geschaffen werden müsse. Hinze hingegen erkennt in Polen eine schöpferische Unruhe, in der etwas Neues für den Sozialismus entstehen könne. Auch die Notate im ersten Arbeitsbuch der Werktage zeigen, dass Braun die Entwicklung in Polen aufmerksam verfolgte und Vorbereitungen für einen militärischen Einmarsch registrierte. Den Hauptakteur, der die in Polen entstandene Krise produktiv hätte meistern und den Sozialismus zu einer neuen Qualität hätte führen sollen, sah er allerdings nicht in Solidarność, für ihn eine „bloß liberale[] kraft, die auf das bäuerliche eigentum und die religion setzt“,[13] sondern in der polnischen kommunistischen Partei.    

Die Braunʼsche Sorge um den Sozialismus findet sich in den Texten, die in unabhängigen Zeitschriften publiziert wurden, nicht mehr, vielmehr sympathisierten deren Autoren mit Solidarność, weil sie sich Alternativen zum Leben in der DDR ersehnten und weil sie hofften, mit einer Liberalisierung in Polen könnte es auch zu positiven Veränderungen in der DDR kommen. Die wichtigste unabhängige Publikation zu Polen war die Anthologie Oder. Literarische Texte, die 1987 in Berlin erschien und mehrere Gedichte enthielt, die sich auf Solidarność bezogen.[14] Deren Verfasser – Esther-Marie Ullmann-Goertz, Uwe Kolbe, Rüdiger Rosenthal, Wilfried M. Bonsack und Beate Petras – waren 1980 zwischen 20 und 30 Jahre alt. Ihre Texte sind keineswegs sensu stricto politische Gedichte: Die mit Solidarność verbundene Hoffnung hat wenig konkrete Konturen und ist vor allem ein Versprechen von Glück und einem erfüllten, authentischen, würdigen Leben. Die Zerschlagung dieser Hoffnung mit der Verhängung des Kriegszustandes am 13. Dezember 1981 wird in einem Teil dieser Texte als eine existentielle Zerstörung wahrgenommen, als ein Verlust, der tief in das eigene Leben einschneidet. So heißt es in dem Gedicht Syrena 81 von Wilfried M. Bonsack: „nichts bleibt als die höhenangabe / der hoffnung“.[15] Das Bild eines möglichen Neubeginns, wie es am Ende des Gedichts Slawischer Marsch von Esther Ullmann-Goertz aufscheint („Da wird aus dem Pfau ein Phönix / Bei seinem Erscheinen istʼs Tag“[16]) ist eher ungewöhnlich. Von dem Willen, etwas gegen die Ohnmacht zu tun, welche die Nachricht von der Verhängung des Kriegszustandes auslöste, spricht hingegen das Gedicht Die Wehen im verfolg, das Martin Siebert nach seiner Ausreise aus der DDR 1984 in der Zeitschrift „Akzente“, veröffentlichte.

Die Hoffnung, die Solidarność in einem kleinen Teil der DDR-Bevölkerung weckte, beschreibt Gert Neumann in seinen Essays wohl am eingehendsten. Er verband mit der polnischen Revolution eine geistige Alternative, ein Denken, „das sich mit einem Ausweg aus den Tatsachen des Realsozialismus beschäftigen möchte, oder muß“.[17] Dieses Denken „jenseits der Macht“ sei nur dann möglich, „wenn es die Solidarität der Antwort erfährt“.[18] Das auf solche Weise geborene Gespräch eröffne den Weg zu geistiger Freiheit und Würde. Neumann schrieb, er assoziiere diesen Dialog deshalb mit „Solidarität“, „um den Akzent [anzudeuten], den dieses Wort bei uns aus dem polnischen erhalten hat, als die über die Verhältnisse tatsächlich hinausreichende Methode der Begegnung“.[19] Er hebt damit etwas hervor, was auch einige Oppositionelle und Bürgerrechtler in der DDR – etwa Wolfgang Templin, Ludwig Mehlhorn und Christoph Wonneberger – in der Begegnung mit Polen inspirierte, nämlich die breite Selbstorganisation der Gesellschaft außerhalb der existierenden, staatlich vorgegebenen Strukturen. In der auf diese Weise geschaffenen unabhängigen Öffentlichkeit konnte die Gesellschaft 1980 in Polen ebenso wie 1989 in der DDR den politischen Raum wiedergewinnen, der Jahrzehnte zuvor mit der Errichtung totalitärer Herrschaft zerstört worden war.

Anmerkungen:

[1] Süsses Hoffen Bittre Wahrheit. Lyrik und Prosa. 150 Jahre Hambacher Fest. Hrsg. v.  Wolfgang Diehl. Landau 1982.

[2] Böll, Heinrich: Ein neues Vokabularium finden. Protokoll einer Pressekonferenz. In: Verantwortlich für Polen? Hrsg. von Heinrich Böll, Freimut Duve und Klaus Staeck. Hamburg 1982, S. 9-17, hier S. 16.

[3] Schneider, Peter: Warnung vor diesem Frieden, in: Kursbuch, 1982, Nr. 68, S. 180-187, hier S. 184

[4] Rühmkorf, Peter: Nebelbänke. In: Verantwortlich für Polen?, S. 158-163, hier S. 162.

[5] Bienek, Horst: Beschreibung einer Provinz. Aufzeichnungen. München 1986, S. 162.

[6] Desinteresse an Polen. Wolf Biermann ist von seinen linken Genossen bitter enttäuscht, Vorwärts, 9.12.1982, S. 2.

[7] Ein hohes Maß an Denkfaulheit. Interview mit Helga M. Novak. In: Die Tageszeitung v. 07.10.1982.

[8] Vgl. Nie jestem pisarzem emigracyjnym. Rozmowa z Reinerem Kunze. In: Res Publica 4 (1990) 1, S. 136f.

[9] Dürrenmatt, Friedrich: Werkausgabe, Bd. 18: Achterloo I. Komödie in zwei Akten / Rollenspiele. Protokoll einer fiktiven Inszenierung von Charlotte Kerr sowie Achterloo III / Achterloo IV. Komödie. Zürich 1998, S. 157, auch S. 553.

[10] Hans Magnus Enzensberger: Ach Europa! Wahrnehmungen aus sieben Ländern. Mit einem Epilog aus dem Jahre 2006. Frankfurt a.M. 1987, S. 351.

[11] Vgl. Ulrich, F. Eckhard: ich habe aufgegeben dieses land zu lieben. Gedichte. Eine Auswahl aus den Jahren 1960 bis 1987. Halle/Saale 1994, S. 22-24.

[12] Die erste Fassung wurde veröffentlich in Brandt: Für Eure und unsere Freiheit? Der Polnische Oktober und die Solidarność-Revolution in der Wahrnehmung von Schriftstellern aus der DDR. Berlin 2002, S. 359 f.

[13] Braun, Volker: Werktage. 1. Arbeitsbuch. Frankfurt a.M. 2009, S. 489.

[14] Oder. Literarische Texte. Hrsg. von Michael Bartoszek, Ludwig Mehlhorn und Joachim Zeller (= radix-blätter 4). Berlin 1987.

[15] Bonsack, Wilfried M.: syrena 81. In: ebd., S. 73.

[16] Ullmann-Goertz, Esther-Marie: Slawischer Marsch. In: ebd.., S. 62, Nachdruck u.a. in: dies.: Ferse Verse. Gedichte 1976-1999. Berlin 2001, S. 29.

[17] Neumann, Gert: Übungen jenseits der Möglichkeit. Frankfurt a.M. 1991, S. 51.

[18] Geheimsprache „Klandestinität“ / mit Gert Neumann im Gespräch. In: Sprache & Antwort. Stimmen und Texte einer anderen Literatur aus der DDR. Hrsg. von Egmont Hesse. Frankfurt a.M. 1988, S. 128-144, hier S. 137.

[19] Neumann, Übungen, S. 15.