Haftende Verse

Erich Kästners Gedichte bleiben aktuell – das zeigt eine Neuausgabe von „Ein Mann gibt Auskunft“

Von Erhard JöstRSS-Newsfeed neuer Artikel von Erhard Jöst

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Atrium Verlag hat Erich Kästners Buch „Ein Mann gibt Auskunft“ neu aufgelegt. Im Klappentext liest man: „Dieses Buch aus dem Jahr 1930 versammelt lyrische Geniestreiche von bestürzender Aktualität. Erich Kästner lotet nicht nur gesellschaftliche und politische Untiefen aus, sondern bringt auch den Wahnwitz zu Papier, der immer dann aufblitzt, wenn Menschen sich begegnen – ob auf dem Gehweg, in der Straßenbahn oder im Bett.“ Auf der Rückseite wird Peter Rühmkorf mit dem Satz zitiert: „Es ist ein Wunder eigener Art, dass Kästners Verse so anhaltend haften und sitzen.“

Klappentexte sind mit Vorsicht zu genießen, denn sie werden gezielt eingesetzt, um den Leser zum Kauf des jeweiligen Buches anzuhalten. Deshalb finden sich darin meist Sätze, die es in den höchsten Tönen loben. Da auch die zitierten Äußerungen über Kästners Lyrik-Band wie übertrieben formulierte Lobeshymnen klingen, lösen sie beim Leser Skepsis aus. Aber, um das Urteil über „Ein Mann gibt Auskunft“ vorwegzunehmen: Sie treffen Wort für Wort zu. Die in diesem Buch versammelten 48 Gedichte zeigen, dass Erich Kästner ein Meister der sozialkritischen Lyrik ist. Mit dem Erzählband „Der Herr aus Glas“, der variantenreiche Geschichten aus seiner Feder enthält, demonstrierte er sein Können als Erzähler. Man darf, ja man muss demnach die Werke sowohl des Lyrikers als auch des Erzählers Kästner dringlich zur Lektüre empfehlen.

Der Kabarettist Dieter Hildebrandt erhielt zahlreiche Auszeichnungen, zuletzt knapp drei Monate vor seinem Tod vom Dresdner Presseclub den Erich Kästner-Preis. In seiner Dankesrede, gehalten am 1. September 2013 im Schloss Albrechtsberg in Dresden, bekannte er: „Erich Kästner war und ist mein Vorbild.“ Und er wies zugleich darauf hin, dass der in Dresden geborene Schriftsteller einer der wichtigsten politischen Satiriker in Deutschland gewesen ist: Mit großem Engagement habe er den blinden Gehorsam bekämpft, der bewirkt habe, dass die Deutschen vor jeder Autorität hätten stramm stehen müssen. Die im neu aufgelegten Buch „Ein Mann gibt Auskunft“ enthaltenen Gedichte liefern den Beweis dafür, dass diese Aussage stimmt.

Eines der bekanntesten Gedichte Kästners ist „Dem Revolutionär Jesus zum Geburtstag“ gewidmet; es beschreibt eindrucksvoll, wie Jesus sich sein Leben „mit Schiebern und Gelehrten“ schwer gemacht und tapfer „gegen Staat und Industrie und die gesamte Meute“ gekämpft habe: „Bis man an dir, weil nichts verfing, / Justizmord, kurzerhand, beging. / Es war genau wie heute.“ Die Bilanz fällt ernüchternd aus: „Die Menschen wurden nicht gescheit. / Am wenigsten die Christenheit, / trotz allem Händefalten. / Du hattest sie vergeblich lieb. / Du starbst umsonst. Und alles blieb / beim Alten.“ Viele Kästner-Gedichte liefern präzise Milieu-Studien, welche die Monotonie des Alltags und den brutalen Arbeitsstress thematisieren, der manchen Arbeiter, wie am Beispiel von Kurt Schmidt aufgezeigt wird, in den Selbstmord treibt: „Und in dem Stündchen, das ihm übrig bleib, / brachte er sich um.“ Ebenso wie Bertolt Brecht und Kurt Tucholsky bekämpft Kästner in vielen Gedichten mit Verachtung und Zynismus Militarismus und Krieg. In der politischen Satire „Die andre Möglichkeit“ malt er bilderreich aus, was herausgekommen wäre, wenn Deutschland den Ersten Weltkrieg gewonnen hätte, und provozierte damit die Nationalisten: „Wenn wir den Krieg gewonnen hätten, / dann wären wir ein stolzer Staat. / Und pressten noch in unsern Betten / die Hände an die Hosennaht.“ Sogar der Himmel wäre dann national geworden, „die Pfarrer trügen Epauletten. / Und Gott wär deutscher General“. Kästners Schreckensvision endet in einem Stoßseufzer: „Dann läge die Vernunft in Ketten. / Und stünde stündlich vor Gericht. / Und Kriege gäbʼs wie Operetten. / Wenn wir den Krieg gewonnen hätten – / zum Glück gewannen wir ihn nicht!“

Im Gedicht „Ein Mann gibt Auskunft“, das als Titel für das Buch ausgewählt wurde, liefert Kästner Einblicke in eine partnerschaftliche Beziehung: „Ich riet dir manchmal, dich von mir zu trennen, / und danke dir, dass du bis heute bliebst. / Du kanntest mich und lerntest mich nicht kennen. / Ich hatte Angst vor dir, weil du mich liebst.“ Schonungslos wird die Unterschiedlichkeit der Gefühle geschildert, an der das Verhältnis scheitert: „Es ist bequem, mit Worten zu erklären. / Ich tu es nur, weil du es so verlangst. / Das Jahr war schön und wird nie wiederkehren. / Und wer kommt nun? Leb wohl! Ich habe Angst.“

Melancholie und süße Bitterkeit prägen die Gedichte, in denen Kästner Liebesbeziehungen beschreibt. Die von tiefer Zuneigung geprägte weibliche Emotion wird von dem gefühlskalten Mann in der Regel nicht erwidert, wie beispielsweise in „Ein gutes Mädchen träumt“ zu lesen ist: „Sie lief wie durch die Ewigkeit! / Sie weinte. Und er lachte. / Ihr flossen Tränen in den Mund. / Auch noch, als sie erwachte.“ Auch in „Die unverstandene Frau“ geht der Mann auf seine Partnerin in keiner Weise ein. Treffend beschreibt Kästner, wie das Zusammenleben in der Ehe die Liebe töten kann: „Denn sie kennen sich auf jede Weise, / tags und nachts und viele Jahre schon. / Und sie teilten Schlaf und Trank und Speise / und die Sorgen und das Telefon. […] Und sie mustern sich wie bei Duellen. / Beide kennen die Anatomie / ihrer Herzen und die schwachen Stellen. / Und sie zielen kaum. Und treffen sie!“ Bei „gewissen Ehepaaren“ sehe der Alltag dann so aus: „Man spricht durch Schweigen. Und man schweigt mit Worten.“

Schonungslos sind die Einblicke in die von Tristesse und Verzweiflung geprägte soziale Wirklichkeit: „Geht dein Fenster auch zum Hof hinaus? / So ein Hof ist eine trübe Welt. / Wo du hinsiehst, steht ein andres Haus. / Und der Blick ist wie ein Wild umstellt.“ Die Vorstadtstraßen offenbaren das Elend der Arbeiterschaft: „Die Häuser sind so traurig und so krank, / weil sie die Armut auf den Straßen trafen. / Aus einem Hof dringt ganz von ferne Zank. / Dann decken sich die Fenster zu und schlafen.“ Der kleine Junge, der „ein halbes Brot und ein Viertelpfund Speck“ holen soll und das Geldstück verliert, traut sich nicht mehr nach Hause. Die Mutter findet ihn im Hof, das Gesicht zur Wand gekehrt: „Sie fragte erschrocken, wo er denn bliebe. / Da brach er in lautes Weinen aus. / Sein Schmerz war größer als die Liebe. / Und beide traten traurig ins Haus.“

Beißender Spott gießt Kästner hingegen über die genusssüchtige bourgeoise Gesellschaft aus, in der „die Echten falsch und die Falschen echt“ sind, ebenso über die „sogenannten Klassefrauen“, die jede verrückte Mode mitmachten. Das Gedicht schließt mit dem bösen Wunsch: „Wennʼs doch Mode würde, zu verblöden! / Denn in dieser Hinsicht sind sie groß. / Wennʼs doch Mode würde, diesen Kröten / jede Öffnung einzeln zuzulöten! / Denn dann wären wir sie endlich los.“

Die „Ansprache an Millionäre“ enthält die Aufforderung: „Die Welt verbessern und dran verdienen – / das lohnt, drüber nachzudenken.“ Für die Menschen, die im sozialen Elend hausen, gelten die ersten Zeilen des Gedichts „Kurzgefasster Lebenslauf“: „Wer nicht zur Welt kommt, hat nicht viel verloren. / Er sitzt im All auf einem Baum und lacht.“ In „Misanthropologie“ wird die Aussage noch radikaler zugespitzt: „Diese Menschheit ist nichts weiter als / eine Hautkrankheit des Erdenballs.“

Kästners Gedichtband ist überaus variantenreich. Unterhalten Gedichte wie „Gefährliches Lokal“ mit groteskem Humor, so liefern andere – wie beispielsweise „Genesis der Niedertracht“ – Lebensweisheiten: „Jeder Charakter ist durch zwei teilbar, / da Gut und Böse beisammen sind. / Doch die Bosheit ist unheilbar, / und die Güte stirbt als Kind.“ Und immer wieder findet man den leidenschaftlichen Einsatz gegen die militaristische Erziehung, zum Beispiel im Gedicht „Primaner in Uniform“: „Der Rektor dankte Gott pro Sieg. / Die Lehrer trieben Latein. / Wir hatten Angst vor diesem Krieg. / Und dann zog man uns ein. // Wir hatten Angst. Und hofften gar, / es spräche einer halt! / Wir waren damals achtzehn Jahr, / und das ist nicht sehr alt.“

Anders als in der Zeit nach 1968, steht das politische Gedicht heute nicht hoch im Kurs. Dabei bräuchten wir es dringend, um das Niveau der Streitkultur anzuheben. Kästners Gedichte könnten den Anstoß geben, der politischen Lyrik wieder ihren Platz zu geben. „In heutigen Zeiten täte uns ein Kästner gut!“, verkündete Dieter Hildebrandt in seiner Rede vom 1. September 2013. Wie wahr! Bleibt zu hoffen, dass das Buch „Ein Mann gibt Auskunft“ eine weite Verbreitung findet und Kästner (wieder) gelesen wird.

Titelbild

Erich Kästner: Ein Mann gibt Auskunft. Gedichte.
Mit Zeichnungen von Erich Ohser.
Atrium Verlag, Zürich 2015.
110 Seiten, 19,99 EUR.
ISBN-13: 9783855353859

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