Der ästhetische Ort der Literatur als Wissensquelle für Modi der Zeitlichkeit

Über Birgit Erdles „Lektüren zu Kant, Kleist, Heine und Kafka“

Von Ralf BlittkowskyRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ralf Blittkowsky

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Bei der Erforschung der Quellen der Erkenntnis über das Phänomen Zeit kommt der Literatur eine besondere Bedeutung zu: Sie ist ein „doppelter Ort“, an dem einerseits Antinomie besteht, die andererseits im Nachhinein durch die Ästhetik aufgelöst wird. Birgit Erdle geht in ihrem Buch „Literarische Epistemologie der Zeit. Lektüren zu Kant, Kleist, Heine und Kafka“ der Frage nach, ob Literatur Konzepten einer Zeitlichkeit einen Ort gibt, der durch Diskontinuität und Nicht-Homogenität bestimmt ist. Diesen Überlegungen stellt sie naturwissenschaftliche Konzepte eines Zeitkontinuums gegenüber.

Die in der neueren Kulturwissenschaft geforderte Abkehr von der Vorstellung einer kontinuierlich ablaufenden Zeit wurde in der Literatur schon längst durchgeführt. Dafür stehen Beispiele von Heinrich von Kleist, Heinrich Heine und Franz Kafka zur Diskussion und loten Phänomene wie „Nachträglichkeit, Latenz, Vorfall, Augenblick, Geistesgegenwart, Zeitverschränkung, Zeitsprung, Vorzeit und Vorwelt“ in poetischen Figuren der Zeitlichkeit aus.

Ausgehend von Norbert Eliasʼ Studie „Über die Zeit“ (1988 veröffentlicht), die der Soziologe und Kulturphilosoph präziser als jeder andere bisher formuliert hat, sind zwei „Fallstricke“ beim Nachdenken über Zeit bestimmend: Man gerät zum einen unversehens in eine traditionelle Gedankenwelt, die als Vorstellung oder Idee existiert, zum anderen obliegt man dem Denkzwang, den die Sprache abverlangt. „Zeit messen“ etwa unterstellt, dass es ein „Ding, ein physikalisches Objekt“ gäbe. Uhren, Kalender, Jahrhunderte und Einteilungen in Epochen lassen Zeit als kontinuierlichen Fluss erscheinen und wurden so als Idee auf die Wissenschaft übertragen. Jedoch ist Zeit „nicht als eine unabhängige Gegebenheit jenseits einer Geschichte des Wissens aufzufassen“. Die physikalische und soziale Zeit muss zueinander in Beziehung gesetzt werden, denn die soziale Zeit ist die Matrix, aus der die physikalische Zeit hervortritt – und nicht umgekehrt. Exemplarisch an naturwissenschaftlichen Zeitkonzepten im 18. und 19. Jahrhundert wurde die Ausdehnung und Entgrenzung der Zeitschemata durchdekliniert, etwa mit der chronologischen Ordnung der Zeit in der Naturgeschichte, mit der Katastrophentheorie, die Unterbrechungen integriert und mit göttlicher Schöpfungstheorie verbindet, bis hin zur Evolutionstheorie.

Der Ort der Literatur ist aber durch eine nicht-homogene Zeit gekennzeichnet. Dabei fordert Siegfried Kracauer („Geschichte – von den letzten Dingen“, 1966) die Macht der chronologischen, leeren Zeit und das Vertrauen in die Kontinuität des Geschichtsprozesses zu erschüttern, so wie Walter Benjamin die „Zeit der Geschichte“ anders denken will. Die Literatur Marcel Prousts zum Beispiel bietet dafür in ihrem „Sammelsurium kaleidoskopischer Veränderungen“ den Ort „an dem die Antinomie, die zwischen der diskontinuierlichen und inkohärenten Versammlung ‚geformter Zeiten‘ einerseits, und der chronologischen Zeit als homogenen Fluss andererseits besteht, ausgelegt wird“, so Erdle.

Die Autorin fragt auf diesem breiten Diskursfundament basierend, ob Literatur Konzepten von Nicht-Homogenitäten und Diskontinuitäten in der Zeit einen ästhetischen Ort gibt. Dabei geht es ihr nicht um eine Motivgeschichte der Zeit oder um die Zeit der Literatur (wie bei Walter Benjamin, Erich Auerbach, Michail Bachtin oder Paul Ricœur diskutiert), sondern um ein nicht-kohärentes Zeitwissen, das die Literatur als Wissens- und Erkenntnisform vermitteln kann.

In der Genese des Themas Geistesgegenwart am Beispiel von Immanuel Kants „Zerstreuung“, in „Der Streit der Fakultäten“, 3. Abschnitt, aus dem Jahr 1798, lokalisiert Erdle Übergänge zur Literatur, wobei etwa ordentliche „Zeitfolge“ im Gegensatz zu dem der „Zerstreuung“ beim Denkvorgang zwei verschiedene Orte des Sprechens bedeuten (nach Roland Barthes). Kant bezeichnet letzteren als „Fehler der Geistesgegenwart“ oder gar als eine Krankheit. Somit fand ein Gefühl des Versagens Eingang in den philosophischen Text. Da Kant „Zeit und Raum als transzendentale Bedingung der Wahrnehmung denkt, so verweist die diskutierte Textstelle […] auf eine Irritationsstelle in diesem Konzept selbst.“

Ein anderer wissenstheoretischer Zusammenhang, der nahtlose Verknüpfung voraussetzt, ist die enzyklopädische Darstellung des Wissens von Jean Baptiste le Rond d’Alembert. Durch Ordnung und Verkettung von Wissen könne man gleichsam „eine literarische Weltreise ohne Verirrungsgefahr“ antreten. Kants vermeintlich fehlerhafte „Zerstreuung“ oder auch sein „Fragmentarisches Herumtappen“ beim Denkvorgang wäre bei d’Alembert die Lücke und damit die Unterbrechung in der Verknüpfung der Zusammenhänge in der Wissensordnung; ein kleiner Störfaktor in der fehlerlosen Struktur des aufklärerischen Wissensideals. Der Philosoph muss der souveräne Herrscher über alle Wissensgebiete sein – ist er’s nicht, dann zeigt er sich sterblich und gelangt eigentlich erst dann hinüber an den Ort, an dem die fortgesetzte Erkenntnis der Zeit möglich ist: die Literatur.

Am Beispiel von Kleists „Marquise von O“ erforscht Erdle eine radikal andere Wissenslücke, die zunächst als Lücke in der Beschreibung eines Vorgangs und zugleich als Bewusstseinslücke der Protagonistin hervortritt. Jene Lücke durchtrennt die Zeit der Geschehnisse von der Zeit der Erzählung. Jedoch schon bald wird das Bewusstsein des Leibes der Marquise, die Schwangerschaft nämlich, als Erinnerung des Unerinnerbaren dienen. Mit dem Wunsch, die Ordnung wieder herzustellen, die auf der chaotischen, gewalttätigen Uneinholbarkeit des Krieges basieren muss, greift die Marquise zum Mittel der berühmten Zeitungsannonce auf der Suche nach dem Vater ihres Kindes. Somit stellt Kleist Verbindungen zwischen Zahlen, Worten und Bedeutungen wie „Generationen“ und „Genealogien“ her, die im Nachhinein zwar wieder ihre patriarchalische Ordnung (durch Heirat des Vergewaltigers) erfahren, dabei aber ihren Anfang unmissverständlich in Krieg, Gewalt und Menschenverachtung haben. Über „das Moment des uneinholbaren Anfangs“ entwirft Kleist als Erster „eine inverse Logik der Abfolge, die als Zeitfigur der Nachträglichkeit“ beschrieben werden kann.

In Heines „Florentinische[n] Nächte[n]“ wird die lungenkranke, todgeweihte Maria von ihrem Arzt in körperliche Erstarrung versetzt, die wiederum nur geistige Bewegung erlaubt. Diese wird ihr in Form von Geschichten zuteil, die die Grenzen der Hermeneutik, des Verstehens und der Nicht-Mitteilbarkeit von Leidenschaft am Beispiel des Tanzes vermittelt. In den poetischen Text trägt sich eine an der Leidenschaft orientierte Geschichtsschreibung ein, die wie eine Ablagerung von Geschichten fungiert. Körper sind Medien und Orte des kulturellen Gedächtnisses und die öffentliche Aufführung des Tanzes wird zu einem Geschichtsraum. Auch die Musik wird damit zum „Medium eines Zugangs zur Lektüre“. Die „Klangfigur“ etwa ist bei Heine eine tönende Bilderschrift, die Geschichten schreibt. In seiner Poetik bezieht sich „Latenz“ auf Erregungen und Leidenschaften, die sich einer Historisierung widersetzen. In Heines Geschichtsdenken wird das Konzept der Privatgeschichte umgeschrieben: Die individuelle Geschichte eines Lebens verheddert sich mit der Unabgeschlossenheit einer fremden Vorgeschichte. Dabei wäre am Beispiel des Tanzes die Bruchstelle im Topos des Austauschs mit den Toten zu sehen. Heines „Kulturtheorie der Latenz“ bedeutet, den Schauplatz der Wiederkehr von überwunden Geglaubtem in der aktuellen Gegenwart sichtbar zu machen, und ein anderes Denken des Verhältnisses von Zivilisation und Barbarei zu entwerfen. „Was in den neueren Kulturwissenschaften gern Nachgeschichte genannt wird, könnte mit Heine als Latenzzeit einer Vorgeschichte bezeichnet werden.“

Erdles Stärke ist es, Zeitfiguren anhand von ausgewählten Textstellen durchzukonjugieren und dabei dem Leser und der Leserin ungewöhnliche Perspektiven anzubieten. Ohne hier jede Zeitfigur im Einzelnen nachvollziehen zu wollen, lässt sich zusammenfassend sagen: Die Studie bietet Gelegenheit, Literatur als Wissensquelle bei der Frage nach dem Modus der Zeitlichkeit hinzuzuziehen, und dabei an der Schwelle von Philosophie andere Blickwinkel einzunehmen und interdisziplinär zu denken.

In einer Geschichte des Wissens spielt die Herauslösung der Zeitfiguren aus eingefahrenen Denkweisen zu neuen Erkenntnissen in der Betrachtung von poetischem und wissenschaftlichem Wissen. Damit schlägt Erdle vor, Literatur als eine Wissensform zu etablieren, die selbst kulturtheoretische Zusammenhänge erforscht. Die literarische Epistemologie zeichnet sich durch das Vermögen aus, „figurative Qualitäten wissenschaftlicher Denk- und Aussageweisen in Erinnerung zu rufen und jene Momente des Wissens, die in der Etablierung des fachwissenschaftlichen Wissens verschwinden, hervortreten zu lassen“. Erdle ist es gelungen, ihre Kriterien der Erkenntnis beim Zustandekommen von Wissen über Zeit zu vermitteln und mit ihrer Beweisführung zu überzeugen.

Titelbild

Birgit R. Erdle: Literarische Epistemologie der Zeit. Lektüren zu Kant, Kleist, Heine und Kafka.
Wilhelm Fink Verlag, Paderborn 2012.
313 Seiten, 39,90 EUR.
ISBN-13: 9783770553006

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