Artifizielle Authentizität

Im fünften Teil seiner ‚Min Kamp‘-Reihe beschreibt Karl-Ove Knausgård seine Lehrjahre in Bergen

Von Sascha SeilerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sascha Seiler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Debatte um die höchst erfolgreiche sechsteilige „Min Kamp“-Reihe, in welcher der norwegische Schriftsteller Karl Ove Knausgård sein Leben erzählt, dreht sich meist um die Frage, woher das Bedürfnis einer weltweit derart großen Anzahl an Lesern herrührt, Berichte eines mehr oder weniger durchschnittlichen Menschen über sein in großen Teilen unspektakuläres Leben regelrecht zu verschlingen. Die Antwort ist häufig dieselbe: Es ist die Suche nach Authentizität in einer gerade durch ihre Langeweile mitreißenden Schilderung alltäglicher Banalitäten, weil uns nur über jenes Banale, Alltägliche ein Mensch wirklich nähergebracht werden kann. Der Sog, der unbestritten von den jeweils sehr dicken Büchern ausgeht, basiert demnach auf dem Voyeurismus des Lesers, den Knausgård mit der vorgeblich authentischen Schilderung seines Lebens zu befriedigen weiß. Schaut man sich das Werk jedoch näher an, sollte schnell klar werden, dass diese Begründung Unfug ist. Knausgårds Bücher sind hochgradig artifiziell, nicht etwa, weil er lügen oder erfundene Geschichten erzählen würde, sondern weil die Beiläufigkeit des Erzählten nur eine scheinbare ist, wobei die Verweigerung narrativer Grundmuster den Leser bewusst in die Irre führt.

An den Anfang des ersten Bandes, der in Deutschland den Titel „Sterben“ trägt, stellt der Autor einen komplexen, philosophischen, sprachlich wunderbar  auskomponierten Traktat über das Sterben, nur um dann in den fortan in allen Bänden dominanten Duktus der Alltagssprache zu verfallen. Die Passage ist als Mahnung an den Leser gedacht, die besagt: „Schaut her, ich kann richtig gut schreiben, das habe ich hiermit bewiesen, aber ich weigere mich, dies in den folgenden, auf sechs Bände verteilten 5000 Seiten zu tun.“ Und gerade weil er im bislang schwächsten zweiten Band der Reihe, auf Deutsch „Lieben“, dann doch zu oft in den philosophischen Duktus der Anfangsseiten zurückfällt, will dieser nicht so recht zünden.

Überhaupt waren die ersten vier Bücher nicht so einheitlich wie allgemein kolportiert. „Sterben“ besteht aus zwei Teilen, der erste im später als typisch wahrgenommenen Knausgård-Stil geschrieben: Lange, die Grenze zur Banalität oft überschreitende Berichte über Kindheit und Jugend, Geschichten ohne Pointe, dazu mit vielen, oft nur gedanklichen, Zeitsprüngen versehen. Der zweite Teil von „Sterben“ indes beschreibt nur die wenigen Tage nach dem Tod des Vaters, er spielt fast ausnahmslos in der Wohnung der Großmutter, in welcher der Vater starb, und gerade diese Verdichtung steht im Kontrast zur Weite, die der erste Teil vermittelt, was einerseits die Faszination des Buches ausmacht, andererseits aber ein bereits recht artifizieller Kunstgriff ist, der die Authentizität nicht unbedingt des Gesagten, sondern der Art, wie es gesagt wird, in Frage stellt.

„Lieben“, in dem es um Knausgårds gegenwärtiges Leben als Ehemann und Vater geht, ist durchsetzt mit längeren philosophischen Abschweifungen über das Verhältnis von Mann und Frau, die verlorene Männlichkeit, die Sexualität und das Altern. Natürlich besteht auch dieses Buch in großen Teilen aus alltäglichen Geschichten, doch werden diese wie bereits erwähnt immer von langen, oft ermüdenden philosophischen Abhandlungen unterbrochen. Der dritte und beste Band, „Spielen“, schildert die Kindheit des Erzählers. Die zeitlichen Grenzen sind eng gesetzt: Das Buch beginnt mit der Ankunft der jungen Familie auf der Insel Tromoya, ihrem neuen Zuhause, und endet einige Jahre später mit dem nächsten Umzug. „Spielen“ ist die schonungslose Auseinandersetzung mit Knausgårds Vater, das gestörte Verhältnis zu dem verstörten und aggressiven Mann steht im Mittelpunkt der ganzen Reihe. Es gibt in dem Buch nur einen nennenswerten Sprung in die Gegenwart, wenn der schreibende Knausgård das Verfassen seiner Erinnerungen unterbricht und dem Leser versichert, er werde niemals zulassen, dass seine eigenen Kinder Angst vor ihm hätten, wie er sie zeitlebens vor seinem Vater hatte.

Der bereits leichte Erzählton der Kindheitserinnerung geht im vierten Band „Leben“ in den noch lockereren Plauderton eines jungen Erwachsenen über. Der Erzähler hat gerade die Schule beendet und begibt sich im Alter von 18 Jahren in den Norden Norwegens, um auf einer kaum bevölkerten Insel als Lehrer zu arbeiten. Auch hier spielt die ganze Erzählung auf dieser Insel, unterbrochen allerdings von einer mehrere hundert Seiten langen Passage über das Jahr, bevor Knausgård sich dorthin begibt. Auch in diesem Rückblick dreht sich alles wieder um den Vater.

Nun also „Träumen“, und wenn dieser fünfte Band eines bestätigt, dann einen Verdacht, der bereits bei „Lieben“ aufkam: So bewegend und mitreißend Knausgård über seine Familie, das schwierige Verhältnis zu seinem Vater oder die Nähe zu seiner Mutter und seinem Bruder schreiben kann, so schwer fällt es ihm, über die Liebe zu schreiben. Das hat vielleicht System, da der Autor wiederholt bekennt, zu jeglicher Art von ehrlicher Intimität unfähig zu sein, und doch ist es so überraschend wie erstaunlich. Keine der weiblichen Weggefährtinnen kommt dem Leser so nahe wie die Familie, weder seine jetzige Ehefrau Linda (in „Lieben“) noch seine langjährige Freundin in Bergen und schon gar nicht seine erste Ehefrau Tonje, deren Darstellung in „Träumen“ auf fast schon ärgerliche Weise unausgegoren wirkt.

Auch die in den vorherigen Bänden vorherrschende Verdichtung ist nicht mehr anzutreffen; tatsächlich verteilt sich die Handlung des Buches über die gesamten 14 Jahre, die Knausgård nach dem Ende seines Lehrerjahres im Norden in Bergen gelebt hat; das Buch schließt somit auch recht unmittelbar an „Leben“ an. Wird im ersten Teil noch sehr detailliert sein erstes Jahr in der Stadt und auf der Schreibakademie, die er besucht, geschildert, so widmet sich der zweite Teil von „Träumen“ den verbleibenden dreizehn Jahren und die Zeitsprünge sind teilweise nicht mehr nachzuvollziehen. Vielleicht ist diese erneute erzählerische Kehrtwende aber auch bewusst gewählt, denn wie bereits angesprochen erscheinen die bisherigen fünf Bände doch recht heterogen, auch wenn dies in Hinblick auf das im Mittelpunkt stehende Subjekt, also den Autor selbst, nicht unbedingt naheliegend ist. Tatsächlich gewinnt man beim Lesen verstärkt den Eindruck, Knausgård wolle – dem deutschen Titel entsprechend – eine traumgleiche Atmosphäre schaffen, durch die sein dauerberauschter Erzähler wandelt. Alles Gesehene, Erlebte, alle Menschen, die ihm nahestehen, werden wie durch Milchglas wahrgenommen und können somit für den Leser niemals so greifbar werden wie die diesem bereits mehr als vertrauten Familienmitglieder. Diese Vermutung wird bestärkt von der Klarheit und Melancholie, die immer dann zum Vorschein kommt, wenn es an wenigen ausgewählten Stellen doch wieder um den Vater geht. Hier zelebriert Knausgård sowohl die Kunst der Wiederholung als auch das Spiel mit dem Wissen des Lesers, denn im Grunde erzählt er im letzten Teil des Buches genau die gleiche Geschichte wie in „Sterben“, nur kompakter, aufs Wesentliche beschränkt.

Doch sind vor allem die Beschreibungen seiner Jahre mit Tonje, seiner ersten Ehefrau wenig gelungen. Diese bleibt dem Leser fremd, erscheint wie eine willenlose, langweilige Person, von der wir zwar wiederholt erfahren, sie sei hübsch und wenig nachtragend, doch weniger, welche Rolle sie tatsächlich im Leben Knausgårds eingenommen hat. Dennoch hat dieser Autor und das ist sein großer Verdienst, der auch anhand dieses, insgesamt nicht ganz überzeugenden Buches, deutlich wird – eine ganz neue Form des Erzählens erschaffen: eine innovative Art artifizieller, kunstvoll durchkomponierter Authentizität, auch wenn das auf den ersten Blick widersprüchlich klingt. Knausgård erzählt, was die Ereignisse an sich angeht, mit großer Wahrscheinlichkeit sein Leben, wie es auch stattgefunden hat. Aber es ist das Leben aus der Perspektive des heutigen Knausgård und damit keinesfalls ein Versuch, das Vergangene etwa anhand von aufbewahrten Tagebüchern, Augenzeugenberichten und Ähnlichem möglichst wahrheitsnah zu rekonstruieren. Was zutage tritt, ist vielmehr das Bestreben, aus der gegenwärtigen Erinnerung mit den gegenwärtigen Empfindungen und dem gegenwärtigen Wissen ein Leben nachzubauen. Manches Mal filtert Knausgård, manches Mal schmückt er – dies ist in „Träumen“ in hohem Maße auffällig – seine Geschichten großzügig mit Details aus, an die er sich nach über zwanzig Jahren beim besten Willen nicht in dieser Häufung erinnern kann. Er schreibt Ereignissen eigenständig Bedeutung zu und verschweigt (mutmaßlich) andere. Er überhöht Erlebnisse, indem er trotz der ihnen innewohnenden Banalität immer und immer wieder auf sie zurückkommt. Und so schafft er sich eine eigene Parallelexistenz, einen Karl Ove Knausgård wie ihn sein Autor gerne sehen will. Große Kunst, ja, aber keine Authentizität.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Karl Ove Knausgård: Träumen. Roman.
Übersetzt aus dem Norwegischen von Paul Berf.
Luchterhand Literaturverlag, München 2015.
794 Seiten, 22,99 EUR.
ISBN-13: 9783630874142

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