Sexuelle Befreiung und der Beginn des Drogenrausches

Eine Zeitreise in die späten 1960er Jahre und ins Epizentrum der Popkultur: William Shaws „Kings of London“

Von Walter DelabarRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Delabar

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Unsere heutige Politik, Kultur, Alltag und Gesellschaft würden ohne den Aufbruch Ende der 1960er-Jahre völlig anders aussehen. Ohne die Studentenbewegung gäbe es keine hinreichend demokratische Kultur, ohne die Popmusik keine Konsumkultur, ohne die Zerschlagung aller Verhaltensmuster und Rollenbilder keine Wählbarkeit von Identitäten und ohne dies alles keine offene Gesellschaft. Die 1960er waren wahrscheinlich so etwas wie die entscheidende Phase gesellschaftlicher Entwicklung hin zur Moderne, wie wir sie heute kennen, und in der wir leben gelernt haben.

Denn auch wenn es immer wieder sehnsüchtige Rückblicke in eine Zeit gibt, in der noch alles wunderbar geordnet gewesen ist, gibt es kein Zurück. Zumal dann nicht, wenn die Zeiten vermeintlicher Ordnung nur anders waren als das, was uns heute so verstört: dass das Leben in der Moderne anstrengend und ständig vom Absturz bedroht ist.

Um sich also mit der Gegenwart beschäftigen zu können, ist es durchaus sinnvoll, in jene bewegten Jahre zurückzugehen und die Experimente, die die damaligen Zeitgenossen machten, als das zu sehen, was sie sind: als Versuche eine basalen Neuorientierung nach dem Bankrott der formierten Gesellschaft.

Das muss man ernst nehmen, auch wenn einem das Resultat nicht gefällt: der grassierende Drogenkonsum, eine selbstbezügliche hedonistische Kultur, die Zerrüttung jeglicher selbstverständlicher Selbstgewissheit und die Engführung von Befreiung und neuen Gewaltverhältnissen.

Das Ende von allem ist allerdings in William Shaws Roman allzu stark gegenwärtig. „Kings of London“ spielt in den guten 1960ern, in denen Popmusiker Stars wurden und ein Leben außerhalb der gewohnten Formen möglich schien. Miniröcke und harte Drogen, die plötzlich kriminalisiert wurden, exzentrische Popmusik und eine entfesselte Kunst, sexuelle Libertinage und die Herrschaft von Gurus über ihre hilflosen Gefolgsleute – die Sechziger stießen erneut vor auf das offene Meer des nie Gekannten, und wussten nicht, was ihnen dabei geschehen würde.

Eben nichts Gutes: Frauen sind sexuelle Objekte, die sich nunmehr auch noch freiwillig entblößen und irgendwelchen Gurus unterwerfen. Drogen werden nicht mehr experimentell zur Bewusstseinserweiterung genommen, sondern führen zu massiven Abhängigkeiten, die wirtschaftlichen Aspekte einmal ausgenommen. Die Szene, die sich antibürgerlich gibt, wird kriminell.

Für das Krimigenre naheliegend sind es der Tod und die Gewalt, die in dieser frühen Phase bereits erkennbar werden. DS Cathlan Breen – irischer Herkunft, Paddy genannt und in London lebend – wird mit seiner Kollegin Tozer auf einen Toten angesetzt, der in einem abgebrannten Haus gefunden wird. Er ist offensichtlich verstümmelt worden. Außerdem ließ man ihn post mortem ausbluten. Ritualmord à la Charles Manson?

Das Ganze wird problematisch, als bekannt wird, dass der Tote der Sohn eines Staatssekretärs ist, der für die Drogenpolitik der neuen Labour-Regierung zuständig zeichnet. Als von Breen den Toten mit der Drogenszene in Verbindung bringt, wird es auf einmal ungemütlich für ihn. Was ihn jedoch nicht davon abhält, weiter zu fragen, bis er weiß, wie alles zusammenhängt. Der Schwenk der britischen Drogenpolitik von der Versorgungs- zur Verbotspolitik in Sachen Drogen wird freilich im Roman als Fehler gekennzeichnet, ist die Zahl der Drogensüchtigen doch heute wesentlich höher als zuvor (was allerdings nur ein schwaches Argument ist).

Nichts ist mit dem Hinweis verraten, dass am Ende alles irgendwie zusammenhängt, und die Drogenpolitik von Anfang an ihre schwachen, soll heißen drogenaffinen Seiten hat. Auch dass die sexuelle Befreiung und die Selbstermächtigung des Subjekts negative Folgen haben, ist nicht überraschend. Auffällig ist, dass das Polizistenmilieu, in dem der Roman spielt,  extrem gewaltbereit ist. Immer wieder werden aufgegriffene Betrunkene von den Polizisten verprügelt, was so lange folgenlos bleibt, bis eines der Opfer stirbt. Korrupte Polizisten gibt es ebenso, und bieder bis ins Extrem sind die Ordnungshüter auch noch – was Verhalten, Kleidung und Geschmack angeht.

Mittendrin befinden sich Breen und Tozer. Tozer ist dabei die einzige unter den Polizisten, die das neue Milieu immerhin so attraktiv findet, dass sie wenigstens schaut, was dort passiert. Aber auch sie sieht mehr die schlechten als die guten Seiten. Breen lässt sich mitziehen, bleibt aber der Polizist, der er war: moralisch einwandfrei, bei allen Fehlern, und vor allem weder gewalttätig noch korrupt. Und immer an der Wahrheit interessiert.

Womit wir bei der Anlage von Shaws Krimi wären: Die Protagonisten Breen und Tozer dienen offensichtlich als erkenntnisleitende Instanzen, die die Szenerie der späten 1960er-Jahre für Shaws Leser aufbereiten sollen. Deshalb müssen sie den Drogenexzess, der in den folgenden Jahrzehnten auf die Gesellschaft zurollen würde, im Ansatz erkennen und benennen. Sie müssen das Machtgefälle zwischen den Geschlechtern wahrnehmen. Sie müssen die Polizeigewalt, die in den Siebzigern massiv zunehmen würde, bereits geißeln. Sie müssen die Guten sein, die sich im Schlechten zu positionieren haben – Vorläufer oder Abklatsch von Henning Mankells Kurt Wallander, der die Verirrungen der Moderne derart präzise zu benennen wusste. Aber gerade weil sie so positioniert werden, funktioniert der Roman nicht. Weder bringt Shaw sein London der Sixties zum Schwingen noch kann er seine beiden Ermittler tatsächlich zum Leben erwecken. Der Roman bleibt zu bieder und angestrengt, um mehr zu sein als eine halbherzige Warnung vor dem, was die Szene in den Sechzigern angefangen haben soll. Dass die „Kings of London“ schließlich eben nicht die Pop-Könige sind, deren Herrschaft offensichtlich ist, sondern die Polizistenhorde, die am Mittag schon säuft, um in der Nacht Betrunkene zu Tode zu prügeln, ist da schon plausibler.

Titelbild

William Shaw: Kings of London. Kriminalroman.
Übersetzt aus dem Englischen von Conny Lösch.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2015.
470 Seiten, 14,99 EUR.
ISBN-13: 9783518466100

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch