Erzählte Kontingenz

Michael Robotham hat mit seinem Thriller „Um Leben und Tod“ eine interessante Aufgabe gelöst – und unterhält dabei

Von Walter DelabarRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Delabar

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Kontingenztoleranz ist in der Moderne, so der Berliner Soziologe Michael Makropoulos, ein entscheidendes Kriterium. Nur wer die Zufälligkeiten erträgt, besser noch hinnimmt, die ein derart eng verwobenes Handlungssystem wie die moderne Gesellschaft erzeugt, hat überhaupt die Chance, in diesem System zu bestehen. Wer sich an ihnen abkämpft, geht unter.

Da es aber nun mögliche, aber nicht notwendige Zusammenhänge ohne Ende gibt, werden Intrigen und Komplotte zu attraktiven Denkmustern, mit denen erklärt werden kann, was besteht und geschieht. Und gerade deshalb ist der Krimi derart beliebt in der Moderne, ist er mithin das spezifische Genre der Moderne überhaupt.

Eines der gängigsten Motive in diesem Bereich ist die Vermutung, dass Verbrechen und Ordnungshüter eng miteinander verknüpft sind. Gerade amerikanische Krimiautoren – Dennis Lehane oder James Ellroy zum Beispiel – haben die bösen Polizisten, zumal als historische Folie zum Muster erhoben. Michael Robotham folgt ihnen. Allerdings schreibt er nicht notwendig an einem eigenen amerikanischen Kriminalregister, sondern arbeitet sich an einer intellektuell höchst interessanten Aufgabe ab, die man als Inversion der Kontingenz beschreiben könnte: Aus Chaos mache Ordnung.

Ein Mann, der einen Geldtransporter überfallen hat und dabei mindestens einen Mord begangen hat – beides hat er gestanden –, flieht einen Tag vor seiner Entlassung aus dem Gefängnis. Er hat, wie aus den Rückblenden der Erzählung zu schließen ist, ein Ziel, das irgendwie mit seiner Geliebten zusammenhängt. Welches genau, ist jedoch nicht zu erkennen – jedenfalls weiß er sich mit Glück und Intelligenz seinen Häschern zu entziehen, zu denen ein paar legale und ein paar illegale gehören.

An seine Fersen heften sich ein Auftragskiller und sein einziger Gefängniskumpel, der allein zu diesem Zweck aus der lebenslangen Haft geschleust wird. Hinzu kommt eine FBI-Agentin, die ein wenig zu klein geraten ist und die sich später in ein Team einfügen muss, das von einem FBI-Mann geführt wird, der damals bereits den Raubüberfall untersuchte. Die örtliche Polizei von damals mischt auch noch mit, was der Übersichtlichkeit nicht eben förderlich ist. Ein Chaos, für das das englisch Wort „mess“ ein so schöner Ausdruck ist.

Dass irgendetwas nicht mit rechten Dingen zugeht, erkennt der geneigte Leser auch daran, dass auch ein paar Politiker und Unternehmer mitmischen, die anscheinend ein Interesse daran haben, unseren Mann seinen Ausbruch nicht überleben zu lassen. Das Geld, das wird schnell klar, ist anscheinend nicht beim Bruder des Inhaftierten gelandet, wie offiziell vermutet wird, sondern bei den Offiziösen im Hintergrund.

Soweit die Handlung. Erkennbar hat Robotham mit „Um Leben und Tod“ ein Spiel entworfen, in dem aus disparaten Elementen schließlich eine sinnvolle Ordnung gebildet werden kann. Denn die Hauptfigur Audie Palmer ist sichtlich zu positiv gezeichnet, als dass sie für irgendeines der Verbrechen, derer sie sich schuldig bekannt hat, verantwortlich sein kann. Als dann noch eine junge Frau samt Kind – eine Zufallsbekanntschaft, die mit Audie ein paar Tage verbringt – zu Tode kommt (und wir wissen, wer‘s war), sollte alles klar sein.

Ist er, Audie, der Täter, muss es einen guten Grund geben. Ist er es nicht, ist die Frage zu beantworten, wer es denn gewesen sein könnte. Hinzu kommt, dass es einen Störfaktor in diesem Überfall gibt, der seinerzeit nicht weiter verfolgt worden ist: Der Geldtransporter, der von der Polizei verfolgt wird, verursacht einen Unfall, bei dem in einem nicht identifizierten Wagen eine gleichfalls unbekannt gebliebene Frau umkommt. Für den gediegenen Krimileser ist das naheliegend der Schlüssel, der für die Auflösung des Rätsels, das Robotham stellt, entscheidend ist.

Was Robotham in „Um Leben und Tod“ macht – wobei der vermeintlich reißerische Titel, der im Englischen auch kaum besser ist, in die Irre führt –, ist gute alte amerikanische Krimikunst. Aus einer chaotischen und unentwirrbaren Mischung ein geordnetes und in sich logisches System zu entwickeln, in dem alle Akteure ihren Platz und alle Handlungen ihren Sinn erhalten. Und das, ohne den Lesern zu früh zu viel zu verraten. Selbstverständlich ist das Rätsel dazu da, intellektuell vergnüglich zu sein, denn die Frage geht nicht nur dahin, wer was getan hat, sondern auch und gerade dahin, wie Robotham das alles auf die Reihe bringt. Insofern singt auch dieser Krimi ein Loblied seines Autors, der als großer Organisator dastehen kann (wie jene Feuerwehrleute, die einen Brand legen, den sie als erste melden und löschen). Hier ist das erlaubt, ja, mehr noch, hier ist das äußerst sinnvoll und geboten.

Titelbild

Michael Robotham: Um Leben und Tod. Thriller.
Übersetzt aus dem Englischen von Kristian Lutze.
Goldmann Verlag, München 2015.
474 Seiten, 9,99 EUR.
ISBN-13: 9783442482818

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