Unabhängigkeit in künstlerischen Meinungen

Antje Neumann hat den Briefwechsel zwischen Harry Graf Kessler und Henry van de Velde ediert

Von Jens FlemmingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jens Flemming

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im Sommer 1891, ein Jahr nach der Entlassung des Kanzlers Bismarck durch den jungen Kaiser Wilhelm II., machte sich eine Abordnung farbentragender Studenten nach Bad Kissingen auf, um dem Heros der deutschen Politik – eben jenem Otto von Bismarck – eine Huldigung darzubringen. Einer der Unterzeichner war Harry Graf Kessler, damals Student der Rechtswissenschaft in Bonn und Mitglied in einem der dort ansässigen feudalen Korps. In seinen Erinnerungen hat er die Szenerie festgehalten, die unter begeisterter Anteilnahme zahlreicher Kurgäste zwei Tage lang die kleine Welt des Badeorts beschäftigte. Sie erschien ihm einigermaßen bizarr. Bismarck sei beim anschließenden Empfang zwar von „bestrickender Courtoisie“ gewesen, aber das, wovon er erzählte, habe einer älteren Generation gegolten, deren Horizonte an der Vergangenheit klebten. „Alles war rückwärts gerichtet“, urteilt Kessler: „Seine Konversation hatte trotz ihres Glanzes etwas Gespenstisches, als ob wir ihn von seinen verstorbenen Zeitgenossen fort aus dem Grabe geholt hätten.“ Der Jugend, die bei ihm „Anschluß und Ziele suchte“, hatte er offenkundig „nichts zu sagen“, bot ihr „als Lebenszweck ein politisches Rentnerdasein, die Verteidigung und den Genuß des Erworbenen“. Bismarck im Jahr 1891 – das war nicht „Anfang“, sondern „Ende“, ein Zurückgebliebener am Rande des Weges, auf dem, so Kessler, „wir Jungen, etwas unsicher, aber kampfbereit in die Zukunft schritten“.

Mit diesen Worten schließt der erste Teil der Memoiren. Sie hätten das Motto sein können für den Folgeband, der krankheitshalber nicht mehr geschrieben worden ist. In mancher Hinsicht Ersatz dafür liefern seine Tagebücher sowie seine reichhaltigen Korrespondenzen. Die Briefe, die Kessler mit Henry van de Velde, einem engen Weggefährten, wechselte, liegen nun in einer akribischen, von der Kunsthistorikerin Antje Neumann besorgten und kenntnisreich eingeleiteten Edition vor: eine Fundgrube, angefüllt mit erhellenden Details über Leben und Werk, mit biografischen Informationen über Freunde und Gegner, über die Netzwerke, die Kessler zu knüpfen verstand und in denen er sich souverän bewegte, über Personen, die er von seinen ambitionierten Projekten zu überzeugen suchte. Er selber, der Spross aus reichem Hause, der Vater ein erfolgreicher Bankier, die Mutter die Tochter eines englischen Marineoffiziers, war ein Mäzen von Rang, zugleich ein Mann mit persuasiven Gaben, die ihm ermöglichten, Gönner und Geldgeber für sich und seine Pläne zu mobilisieren.

Einer, der daraus erheblichen Nutzen zog, war Henry van de Velde, geboren 1863 in Antwerpen. Dieser hatte an der dortigen „Académie des Beaux Arts“ studiert, fühlte sich in seinen ersten Schaffensjahren hingezogen zu den Neo-Impressionisten Georges Seurat und Paul Signac, bewunderte Vincent van Gogh und verkehrte in den Milieus der damals Progressiven. Nebenher schrieb er in einschlägigen Journalen über Ausstellungen und aktuelle Ereignisse aus der Welt der Künste, über Kollegen und deren Hervorbringungen. Um die Mitte der 1890er-Jahre verabschiedete er sich von der Malerei, um sich fortan der Architektur, dem Kunsthandwerk und dem Design zuzuwenden. Hier fand er die ihm gemäße Berufung und zunehmende Resonanz, was man daran ablesen kann, dass er zahllose Häuser und Wohnungen der Betuchten entwarf und einrichtete.

Nach einem nicht sonderlich geglückten Zwischenspiel in Berlin ging er 1902 nach Weimar, wo er unter dem Protektorat des dort residierenden Landesherrn, des Großherzogs Wilhelm Ernst, das Kunstgewerbliche Seminar ins Leben rief, ein Vorläufer der 1908 begründeten Kunstgewerbeschule und des 1919 errichteten Bauhaus. Dabei sollte, wie Kessler formulierte, „zum ersten Mal eine wirklich praktische, moderne Form für die Stellung des Künstlers zum Gewerbe gefunden“ und erprobt, sollte eine „Art von Kunstlaboratorium in den Dienst der Industrie gestellt“ werden. „An der Spitze einer neuen  Kunst- und Kulturbewegung“, so Antje Neumann in ihrer informativen Einleitung, die den Rang einer eigenständigen Studie hat, „legte van de Velde damit den Grundstein für die Moderne und reihte sich in jene Reihe von Wegbereitern ein, die in Überwindung des Historismus den Boden für die nachfolgende Generation der Architekten Walter Gropius, Le Corbusier oder Ludwig Mies van der Rohe bereitet haben“.

Kessler hatte vermutlich noch im September 1897 seine Fühler ausgestreckt, um van de Velde zu bewegen, seine Wohnung in Berlin sowie eine Luxusausgabe von Friedrich Nietzsches „Also sprach Zarathustra“ auszustatten. Der so Umworbene war beeindruckt vom kulturellen Klima, auf das er in Deutschland stieß. Nirgendwo sonst in Europa, notierte er Jahrzehnte später, sei „in die Vorherrschaft der offiziellen Kunst eine derartig große Bresche geschlagen worden“. Dabei habe sich die hier allenthalben zu beobachtende „geistige Erregung“ nicht bloß auf die bildende Kunst beschränkt, sondern auch Literatur und Musik erfasst: „Eine leidenschaftliche Neigung zu Neuem und zur Entdeckung bisher unbekannter künstlerischer Ausdrucksmöglichkeiten griff um sich und förderte das Entstehen kühner Unternehmungen.“ Van de Velde war dabei Teilhalber und Profiteur zugleich. Das Fundament, das die langjährige und intensive Kooperation mit Kessler trug, war beider Überzeugung, dass sich „in künstlerischen Meinungen“ ebenso sehr „Unabhängigkeit“ wie „fortschrittlicher Geschmack“  zu manifestieren und zu bewähren hätten.

Die Eintrittskarte in die Weimarer Gesellschaft hatte ihm Kessler verschafft. Als zeitweiliger Leiter des Museums für Kunst und Kunstgewerbe verfolgte dieser hochfliegende Pläne. Ihm schwebte nichts Geringeres vor als ein ‚Neues Weimar‘, eine Stadt, die nicht mehr ausschließlich von versteinerten Traditionen zehren, sondern sich den in der Epoche um 1900 aufbrechenden Strömungen einer vielgestaltigen kulturellen Moderne öffnen sollte. So projektierte er für den Sommer 1903 ein zweiwöchiges Festival, um die Residenz in einen „Hof der Renaissance“ zu verwandeln. „Weimar würde dadurch erwachen“, schrieb er begeistert; es würde, wie er Hugo von Hofmannsthal anvertraute, wieder zum „Kulturzentrum“ werden mit einer weithin ausstrahlenden „geistigen Atmosphäre“. So wie gedacht, ließ sich dies jedoch nicht verwirklichen. Antje Neumann macht dafür Kesslers „Unvermögen“ verantwortlich, „sich konkret auf eine Sache zu konzentrieren“. Wie auch sonst häufig, klafften hier „Anspruch und Wirklichkeit auseinander“.

Hinzu kam, so die Bearbeiterin, „dass van de Veldes und Kesslers Bestrebungen zur Modernisierung Weimars nicht gänzlich auf das Wohlwollen des Hofes und der Regierung stießen“. Schon ein Jahr zuvor hatte Kessler sich über den Habitus der in der Stadt tonangebenden Schichten keine Illusionen gemacht. Alles werde von Eitelkeiten, Gereiztheit und Verbitterung „untergraben“, notierte er:

Alle Leute haben Nichts zu tun und haben unendlich viel Zeit. Alle Leute fühlen sich zurückgesetzt, schon weil sie an einem kleinen Hof und in einem kleinen Land agieren statt in Berlin. Allen bieten sich die Intrige und der Klatsch als die am leichtesten zu erreichende Beschäftigung. Daher knistert und knattert es immerfort im Untergrund von springenden Minen, oder richtiger von Lustfeuerwerk, mit dem man sich die Zeit vertreibt. Ein Studium hier lehrt einen die kleinen Seiten der menschlichen Seele besser kennen als irgendwo anders: Reinkulturen des menschlichen Schimmelpilzes.

Insofern ist es nicht verwunderlich, dass Kesslers Ambitionen rasch an Grenzen stießen. Ebenso wenig verwundert es, dass sich der finanziell unabhängige, bisweilen auch hochfahrende Aristokrat um die  Befindlichkeit der städtischen Eliten wenig scherte. Über eine Ausstellung von Aquarellzeichnungen des französischen Bildhauers Auguste Rodin kam es 1906 zum Eklat. Die gezeigten weiblichen Akte erregten in der Öffentlichkeit erheblichen Unmut. Ein ortsansässiger Portraitmaler beklagte in der lokalen Presse den darin zum Ausdruck kommenden „Tiefstand der Sittlichkeit“ auf Seiten des Künstlers, zugleich aber auch die „Laxheit der Auffassung“ auf Seiten des „Ausstellungvorstandes“. Man müsse die Frauen und Töchter warnen, sich dergleichen „ekelhaftes“ Zeug, das dem „Künstlerkloakenleben“ eines Franzosen entsprungen sei, anzuschauen. Dass Repräsentanten des Hofes dieser Polemik beipflichteten, bestärkte Kessler darin, im Juli 1906 seinen Abschied zu nehmen. Van de Velde harrte zwar aus in der Stadt, sah sich aber zunehmend isoliert. Er habe sich „niemals so fremd gefühlt in Deutschland wie jetzt“, schrieb er im Juli 1908 an Kessler. Das damals von diesem initiierte Projekt eines Nietzsche-Denkmals und eines Nietzsche-Hains scheiterte an allerlei Unzulänglichkeiten, auch an eigenen. Nicht zuletzt am Widerstand von Elisabeth Förster Nietzsche, die als schwesterliche Gralshüterin über Erbe und Nachruhm des Philosophen wachte.

Der Krieg verwandelte die Konstellationen in der Stadt von Grund auf. Als Belgier galt van de Velde nun als feindlicher Ausländer, wurde diffamiert und war mancherlei Schikanen ausgesetzt. 1915 musste er mit der Schließung der Kunstgewerbeschule seinen Dienst quittieren, zog sich zunächst nach Bayern zurück und emigrierte von da aus „mit Hilfe einflußreicher Gönner“ in die Schweiz. Kesslers Interessen verschoben sich auf das Feld der Politik und Diplomatie. Wenige Wochen nach Ausbruch des Krieges hatte er, mittlerweile als Kavallerieoffizier im Einsatz an der Ostfront, an van de Veldes Frau einen Brief gesandt, in dem sich Resignation mit Zukunftshoffnung paarte: „Ich erfreue mich so sehr an alldem, was mich an die Welt von gestern erinnert, die für immer verschwunden ist. Nach dem Krieg werden wir eine neue Welt erschaffen. Doch wird diese nicht mehr dieselbe sein, und noch oft werden wir an das ‚ancien régime‘ denken, das unsere Jugend war.“

Zwischen den beiden Männern wurden die Kontakte sporadischer. Kessler und van de Velde bewegten sich fortan in getrennten Sphären. Die Epoche gemeinsamer Projekte und Visionen war an ein Ende gelangt. Was jetzt noch kam, war Abgesang. Zum letzten Mal sahen sie sich im Mai 1937 in Paris. Ein halbes Jahr später starb Kessler. Beim Begräbnis auf dem Pariser Friedhof Père Lachaise war van de Velde nicht anwesend. Die Gründe dafür ließen sich nicht ermitteln. Sie bleiben, wie Antje Neumann anmerkt, ein vermutlich „nie zu lüftendes Geheimnis“: Vielleicht, so könnte man spekulieren, das Sinnbild für einen zuvor sich schon andeutenden, gleichsam schleichenden Prozess der Entfremdung.

Titelbild

Harry Graf Kessler / Henry van de Velde: Der Briefwechsel.
Herausgegeben von Antje Neumann.
Böhlau Verlag, Köln, Weimar, Wien 2014.
728 Seiten, 69,90 EUR.
ISBN-13: 9783412222451

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