Reizvolle DDR?

Ein Sammelband beschäftigt sich erstmals mit den Motiven der West-Ost-Migration von Autoren

Von Jaqueline WolframRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jaqueline Wolfram

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Reizland DDR. Deutungen und Selbstdeutungen literarischer West-Ost-Migration lautet der Titel des Sammelbandes, der 2015 im Anschluss an die gleichnamige Konferenz im Mai 2013 von Margrid Bircken und Andreas Degen im Verlag Vandenhoeck & Ruprecht herausgegeben wurde. Der Begriff „Reizland“ ist ein Neologismus, der in Suchmaschinen nur mit dem Sammelband verbunden wird. Aber kann man den ehemaligen deutschen Staat DDR tatsächlich als „Reizland“, als „reizvolles Land“ bezeichnen? Ein Land, das im Zusammenhang mit dem 25-jährigen Bestehen der deutsch-deutschen Einheit häufig mit Unterdrückung, Unfreiheit und Flucht aus diesem beschrieben wird.

Tatsächlich gingen nachweislich mehr als eine halbe Million Menschen aus der BRD in die DDR, darunter zahlreiche Autoren und Intellektuelle wie beispielsweise Peter Edel, Stephan Hermlin, Wolf Biermann, Rudi Goguel, Ronald M. Schernikau. Aber was war an der DDR reizvoll? Was waren die Motive der Schriftsteller und inwieweit prägte die neue Heimat die schriftstellerische Arbeit?

Ihrer Arbeit zugrunde legen die Herausgeber vier Auswahlkriterien, nach denen die migrierten Autoren zugeordnet werden: In die erste Gruppe gehören Autoren, die schon während der Übersiedlung bekannt waren und im Exil „nicht in der Sowjetunion, sondern in einem anderen Land lebten“. Zur zweiten Gruppe zählen jene „Autoren, die zwischen 1933-1945 im Deutschen Reich lebten“. Die dritte Gruppe umfasst „Autoren ohne Exilerfahrung“, die aus der BRD oder einem anderen „westlichen Staat“ kamen. Diese waren zum Zeitpunkt ihrer Übersiedlung in die DDR meist noch jung und traten erst später als Autoren hervor. Zur vierten und letzten Gruppe gehören „nichtdeutsche Autoren, die politische Verfolgte“ waren, und in die DDR flüchteten.

Anhand dieser Kriterien werden in den Beiträgen des Sammelbandes 16 Einzelschicksale in chronologischer Reihenfolge näher beleuchtet und Motive für die West-Ost-Migration herausgearbeitet. Hierbei wird ersichtlich, dass die Gründe der Literaten, die sich für ein Leben in der DDR entschieden haben, vielschichtig waren. Helen Thein zeigt am Beispiel der 1947 aus den USA in die DDR immigrierten Autorin und Übersetzerin Edith Anderson, dass durchaus auch persönliche Motive bei der Entscheidung eine Rolle spielten. So verließ Anderson vorranging aus Liebe zu ihrem Mann Max Schroeder, der dann Cheflektor des Aufbau-Verlages Berlin wurde, die USA. Sie fühlte sich in der DDR als „Brücke zweier Welten“.

Margrid Bircken arbeitet in ihrem Aufsatz „Anna Seghersʼ Figuren in der Entscheidung“ überzeugend die Beziehung zwischen einem Leben in der DDR und dessen Einfluss auf die literarische Arbeit am Beispiel des viel kritisierten Romans Die Entscheidung von Seghers heraus. Bircken appelliert, dass der Roman diskursanalytisch betrachtet werden solle, „nicht um die weltanschaulichen Überzeugungen der realen Autorin Seghers, die sie außerhalb der fiktiven Welten äußerte, in Frage zu stellen, sondern um zu erkunden, ob im literarischen Diskurs noch andere Diskurseigenschaften hörenswert sind“, da der Prozess der Entwicklung des eigenen Selbst und der Arbeit im sozialistischen Staat an diesem literarischen Werk sichtbar werde.

Auch nach dem Bau der Berliner Mauer 1961 gab es für Autoren und Intellektuelle durchaus Gründe, in den sozialistischen deutschen Staat überzusiedeln. Der Theaterwissenschaftler und Autor Ernst Schumacher ging 1962 aus politischen Gründen in die DDR, um sich der Verhaftung aufgrund seiner Mitgliedschaft in der verbotenen KPD zu entziehen. Schumacher, so informiert der Aufsatz von Helmut Peitsch, „verhandelte an der Brecht-Forschung seinen eigenen Zugang zum Marxismus“. Die Herausgeber betonen, dass jede Übersiedlung in die DDR, selbst wenn wirtschaftliche oder persönliche Gründe ausschlaggebend waren, immer auch eine politische Dimension hatte, da sie mit einem Wechsel des politischen Systems verbunden war.

Die wirtschaftlichen Motive der migrierten Autoren Maxie und Fred Wander sowie Joachim Seyppel werden vor allem in den Aufsätzen von Ulrike Schneider und Roland Berbig in den Blick genommen. Die Beiträge von Hans-Christian Stillmark und Christoph Kleßmann widmen sich den Schauspielern Alexander Jakob Stillmark und dem Zeithistoriker Rudi Goguel.

Anhand der Beiträge wird deutlich, dass die Motive für die West-Ost-Migration vielschichtig waren und die historischen Daten und Fakten, vom Historiker Bernd Stöver zu Beginn des Sammelbandes vorgestellt, nur als Matrix dienen, da die Thematik weitaus komplexer ist. Des Weiteren zeigen die Beispiele in den Beiträgen, dass die DDR durchaus als „Reizland“ bezeichnet werden kann, auch wenn die West-Ost-Migration in der Geschichts- und Literaturwissenschaft lange ein Tabu gewesen ist. Der Sammelband leistet damit einen bedeutenden Beitrag zum Forschungsschwerpunkt „Deutsch-deutsche Literaturgeschichte seit 1945“ von Helmut Peitsch, dem aus Anlass seines 65. Geburtstags diese Publikation gewidmet ist.

Der Sammelband ist sowohl für die weitere wissenschaftliche Forschung geeignet als auch für ein allgemein interessiertes Publikum sehr empfehlenswert. Sind die dargestellten Lebensläufe und die sich in der Literatur der Nachkriegszeit besonders häufig wiederfindenden „Entscheidungen“ doch nicht nur für die Gedächtnisforscher bedeutsam, sondern auch insgesamt für das kulturelle Gedächtnis der deutschen Nachkriegsgenerationen.

Titelbild

Andreas Degen / Margrid Bircken (Hg.): Reizland DDR. Deutungen und Selbstdeutungen literarischer Ost-West-Migration.
Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2015.
429 Seiten, 49,99 EUR.
ISBN-13: 9783847102557

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