Sag, Alpenland, wie hältst du es mit der Literatur?

Ein von Hermann Korte herausgegebener, durchwachsener Sonderband widmet sich einigen österreichischen Portalfiguren wie auch neueren und neuesten Tendenzen in der Belletristik

Von Markus Oliver SpitzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Markus Oliver Spitz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Eine Ausgangsfrage dieses bezeichnenderweise in München editierten Bandes, auf die auch mehrfach rekurriert wird, ist, ob es – jenseits der schon zum Klischee geronnenen Ästhetisierung des Morbiden – so etwas wie eine spezifisch österreichische Literatur gebe. Die Antwort hierauf fällt uneinheitlich aus: Negativ bei denjenigen, die wie Robert Renk auf die Subjektivität bei der Nennung von Alleinstellungskriterien verweisen. Auch David-Christopher Assmann sieht Österreich nicht als Ausnahme von der neuen Unübersichtlichkeit. An seine Betrachtungen des gegenwärtigen Kulturbetriebs mit seinen Positionskämpfen schließt er die Analyse von Walter Gronds Roman „Der Soldat und das Schöne“ an, den er als Fiktionalisierung der Kulturtechnik des Netzwerks deutet. Eine naive Ineinssetzung des Protagonisten Brand mit Grond selbst weist Assmann zu Recht zurück; anstatt den „Soldaten“ als Schlüsselroman der Vorkommnisse um das „Grazer Forum Stadtpark“ anzusehen, plädiert Assmann vielmehr überzeugend dafür, ihn als für die Zusammenhänge zwischen Literaturproduktion einerseits und deren betrieblicher Distribution andererseits symptomatischen Text zu lesen.

Für andere Beitragende allerdings ist ausgemacht, dass sich die österreichischen Schriftsteller durch die kritische, mitunter obsessive Auseinandersetzung gerade mit Sprache als Kulturträger im Allgemeinen und als Träger der (austrofaschistischen wie nationalsozialistischen) Ideologie im Besonderen hervorgetan haben (und dies auch nach wie vor tun). Als Beispiele für literarische Ansätze zur Zerstörung der traditionellen Kulturauffassung werden wiederholt die „Wiener Gruppe“, aber auch Ernst Jandl genannt. Helmut Gollner beispielsweise identifiziert in diesem Zusammenhang einen tiefverwurzelten Antihumanismus und Kulturpessimismus sowie eine gehörige Dosis Skepsis gegenüber sämtlichen Versuchen der Sinnstiftung überhaupt: Denken diene nicht zum Verständnis der Welt, sondern sei vielmehr der Ursprung allen Übels – Werner Schwab lässt grüßen.

Im Einzelnen versammelt der text+kritik-Sonderband „Österreichische Gegenwartsliteratur“ zwei Dutzend Artikel, in denen Portalfiguren wie Peter Handke und Elfriede Jelinek, aber gerade auch VertreterInnen der Nachfolgegeneration thematisiert werden, wobei ein deutlicher Akzent auf Prosa liegt. Dabei vermag Christoph Parry zwar die Semantik des Volksbegriffs bei Handke auszuleuchten, wenn er darauf verweist, dass jener aufgrund seiner Biografie unter „Volk“ nicht unbedingt „Staatsvolk“, sondern eher eine (idealisierte) Form von „Gemeinschaft“ verstehe. Wie der Autor sich selbst, aber auch sein Werk gegenüber dem Begriff der „Enklave“ positioniert, bleibt hingegen unklar, bestenfalls ambigue: Autonomes Gebiet mit potenzieller Option auf organische Solidarität oder doch nationalistisches, da auf ethnischer Distinktion gründendes Pulverfass? Nicht viel Neues hingegen an der Jelinek-Front, außer der sattsam bekannten Misanthropie, die der Autorin (von Beginn an) als Motivation gedient hat.

Zwei Beiträge nähern sich Karl-Markus Gauß beziehungsweise Alois Hotschnig auf essayistische Weise; das geht methodisch auf, auch wenn die Ergebnisse aus literaturwissenschaftlicher Perspektive eher unbefriedigend sind. Überhaupt lesen sich verschiedene Artikel wie Verlagsinformationen mit viel name-dropping bei wenig konkreter Analyse.

In Bezug auf die Bedeutung der Figurenrede im Romanwerk Olga Flors bietet Alexandra Millner immerhin analytisch brauchbare Ansätze. Špela Virant unternimmt es, Ewald Palmetshofers Dramatik aus dem Umfeld postmodern ausgerichteter Interpretationsstränge herauszulösen, wenn sie feststellt, dass der Dramatiker den Gegenwartsglauben, die Geschichte sei an ihr Ende gelangt, parodiert. Marie Gunreben verweist in ihrer Arbeit zu Norbert Gstrein, deren Fokus auf „Eine Ahnung vom Anfang“ liegt, auf die Dichotomie von Fakt und Fiktion und die Unmöglichkeit der direkten Übertragung realer Tragödien in Fiktion. Jürgen Nelles widmet sich den Figurenkonstellationen in Arno Geigers Familiengeschichten, insbesondere im generationenübergreifenden Familienroman „Es geht uns gut.“

Peter Gendolla konstatiert, dass sich Thomas Glavinics Schreibverständnis aus Romantik und Naturalismus gleichermaßen speise. Indem er die Rolle der neuen Medien thematisiert, schildere Glavinic – beispielsweise in „Der Kameramörder“ – das „Zerbrechen sicherer Subjekt-Objekt-Positionen“. Es vermag zu überzeugen, dass Gendolla hierin letztlich eine Kritik medialer Selbstdarstellungsprozesse sieht, die lediglich die Isolation des Einzelnen offenbaren. Gewohnt souverän setzt sich Kurt Bartsch mit Erich Hackl und dem Zusammenspiel von „Fakten und Vermutungen“ in dessen Prosa auseinander. Vergleichbar dem Ansatz in Christoph Ransmayrs „Morbus Kitahara“ geht es Hackl darum, individuelle Erfahrungen im Umgang mit Geschichte über den Modus der Erzählung in das kollektive Gedächtnis einzuschreiben und somit zu bewahren.

Juliana Kaminskaja behandelt die gegenwärtige experimentelle Poesie und hat hierfür eine originelle Ansatzweise gewählt: Die von ihr herangezogenen grammatikalischen Fälle verleihen ihrem Aufsatz Struktur. So gibt der Nominativ an, mit welchen KünstlerInnnen die Autorin in Dialog getreten ist (Christine Huber, Erika Kronabitter, Friederike Mayröcker, Kurt Neumann und andere). Im Genitiv werden Podien, Foren, Zeitschriften und Distributionsmöglichkeiten experimenteller Poesie angesprochen. Im Dativ erfolgt die Benennung von Zentren wie dem Literaturhaus Wien oder – erneut – dem „Forum Stadtpark“. Der Akkusativ schließlich geht auf die konkrete künstlerische Produktion – inklusive der neuen poetischen Medien – ein. Tenor der Interviewpartner ist in diesem Kontext, dass die experimentelle Kunst nach ihrer Blütezeit zwischen den 1950er- bis 1970er-Jahren mittlerweile wieder zu einem Randphänomen geworden ist.

Gollners Ausführungen zur österreichische Neoavantgarde, ihrer Lyrik und ihrem happening theatre stimmen den Leser auf den Doyen der „Wiener Gruppe“, Gerhard Rühm, ein. Als jener dann selbst zu Wort kommt, stellt dies einen der Höhepunkte des Sammelbandes dar. Er äußert sich zum Ursprung der „laut- und wortdichtung“, beschreibt den aufgrund des Austrofaschismus und Nationalsozialismus notwendigen „reinigungsprozess der poetischen sprache“ und liefert somit eine Begründung für die „äußerste ökonomie der mittel“, die zuvorderst für sein eigenes künstlerisches Schaffen, aber auch für dasjenige der Gruppe charakteristisch ist.

Vielleicht mag es dem Leser eingangs etwas forsch vorkommen, wenn er mit der Aussage konfrontiert wird, die österreichische Literatur sei ein Impulsgeber der deutschen. Allerdings liest sich dieser Anspruch nach der Lektüre (natürlich nicht nur) dieses Sonderbandes zumindest aus literaturhistorischer Sicht durchaus überzeugend. In Bezug auf die zukünftige Entwicklung muss man allerdings skeptisch bleiben, ob ein derartiges Potenzial dann noch in diesem Umfang gegeben sein wird.

Titelbild

Hermann Korte (Hg.): Text+Kritik. Österreichische Gegenwartsliteratur. Sonderband.
edition text & kritik, München 2015.
326 Seiten, 32,00 EUR.
ISBN-13: 9783869164281

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