Notizen während der Abschaffung der Gewissheiten

Zu Jürgen Beckers neuem Roman „Jetzt die Gegend damals“

Von Britta CaspersRSS-Newsfeed neuer Artikel von Britta Caspers

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das Bild auf dem Umschlag des jüngsten Buches von Jürgen Becker, Jetzt die Gegend damals, zeigt eine Landschaft von unwirklicher Ruhe, mit einmal sonderbar scharfen, dann wieder verwischten Konturen. Zu sehen ist eine Andeutung von Wolken, ein Weg, der ein Stück weit ins Bild hineinführt, dann abbricht; verschattet ein wenig vom Getreidefeld zur Linken. Rechts am Wegrand ein Gebüsch, im Feld ein Hochspannungsmast, der seine Drähte in die Ferne spannt. Irritierend das Abfallen der Horizontlinie zum rechten Drittel des Bildes hin. Eine verrutschte Landschaft. Und, wie man später erfährt, eine von Lenes Collagen: eine Kombination fotografischer Ansichten und gemalter oder übermalter Bildteile, in denen für Jörn das „Jetzt der vergangenen Augenblicke erscheint.“

Jetzt die Gegend damals von Becker, 1932 in Köln geboren und im vergangenen Jahr mit dem Büchner-Preis ausgezeichnet, ist nicht nur Lebenssumme, angetrieben durch die stets das Schreiben initiierende und seine Stockungen bedingende Frage, was noch (anders diesmal oder ganz neu) zu erzählen und zu sagen ist. Der Roman ist auch eine (vorläufige) Summe des über Jahrzehnte Geschriebenen – was nicht bedeutet, dass sein Verfasser mit ihm fertig wäre. Wie bei Becker kaum anders zu erwarten, haben wir es also mit einem dichten Netz aus Verweisen und Wiederaufnahmen von Themen und Motiven aus früheren Texten des Autors zu tun.

Als Becker in seinem 1972 erschienenen Essay Gegen die Erhaltung des literarischen status quo die Frage nach den individuellen und gesellschaftlichen Voraussetzungen sowie der Legitimation einer Textgattung wie der des Romans aufwarf, war dies dem zeitgemäßen Konstatieren einer Krise der erzählenden Literatur geschuldet. Der Autor, so Becker damals, habe seine Position als repräsentativer Sprecher einer Gesellschaft, die von ihm Belehrung oder Aufklärung wünscht, längst eingebüßt. Beckers Antwort seinerzeit, sicherlich geschult am französischen Nouveau Roman der fünfziger und sechziger Jahre, ist das Konzept der ‚eingezogenen Distanz‘ zwischen Erzähler und Leser*in, der/die zum unmittelbaren Miterleben aufgefordert werden sollte. Inzwischen ist diese epische Distanz zum/zur Leser*in zwar wieder hergestellt und die Protokollierung von Wahrnehmungsvorgängen in der frühen Prosa Beckers längst der Reflexion gewichen, doch sieht sich auch sein jüngster Roman nicht der Aufgabe verpflichtet, Abbild oder Modell einer Welt zu sein. Vielmehr folgt der Text dem Vorbild der von Jörn – ebenfalls Schriftsteller – vorgetragenen Romanpoetik. Jörn, so heißt es gleich zu Beginn, „sagt, daß er in diesen Jahren noch einen Roman schreibt, vielleicht auch zwei oder drei, und jeder Roman besteht aus einem einzigen Satz, vielleicht auch aus zweien oder dreien.“ Auch wenn die einzelnen Abschnitte des vorliegenden Romans meistens aus mehr als zwei Sätzen bestehen, so werden doch, bisweilen auf humorvoll widersprüchliche Weise, Momente konkreter Erfahrung als Momente innerhalb fortlaufender Veränderung und Umwertung – sozusagen das Material des eigenen Lebens – in eine verdichtete und zugleich unprätentiöse Sprache gefasst. Lebenserfahrungsgesättigt ist noch die unscheinbarste Beobachtung von Natur und Landschaft, Gegenwartsbilder, die bisweilen an japanische Haikus erinnern: „Überm Kopf ein Rauschen, wie von Flügelschlägen eines Kranichschwarms, der sich von den Wiesen am Bodden erhoben hat.“

Die offene Form tagebuchartiger Notizen, in der sich die Gleichwertigkeit der Befragung der eigenen Subjektivität und der Naturbeobachtung einerseits und der Reflexion der ‚großen‘ Themen der deutschen Vergangenheit, namentlich des Krieges, der Judenvernichtung und, blickt man in die Jetztzeit, des Umgangs mit all dem, mit Wirtschaftskrise und Umweltzerstörung andererseits abbilden, hat Becker vor allem in seinen Journalgedichten entwickelt. Diese offene Schreibweise (Walter Hinck) – hier nun formale Entsprechung des Versuchs des Protagonisten, sich aus Erinnerungsmustern zu befreien – erscheint zugleich als Aufforderung zu noch größerer Offenheit des Textes für unterschiedliche literarische Verfahren. So hat es fast den Anschein, als stelle Jetzt die Gegend damals selbst eine Art Textspeicher dar. Bisweilen stößt man auf Ansätze, die an jene frühen Bewusstseinsprotokolle anzuknüpfen oder jedenfalls: sich ihrer zu erinnern scheinen; dann wieder scheint der Text geradezu auf dokumentarische, den Diskurs festhaltende Techniken zu drängen. Auch eine Reminiszenz an Beckers wohl ausgeprägteste ‚dokumentarische‘ Arbeit findet sich hier, wenn Jörn über zwei Bilderserien aus dem 1971 veröffentlichten Foto-Text-Band Eine Zeit ohne Wörter spricht; Bemerkungen, die Beckers – gleichwohl der Vergangenheit angehörende – Experimentierfreude gegenüber dem Medium Fotografie und dessen Möglichkeiten und Grenzen im Rahmen der Erkundung jenes „analogen Damals“ erhellen.

Doch die Zeit, so lesen wir, vergeht, und die Geschichte um die literarische Figur Jörn Winter – dem Leser seit Beckers Erzählung Der fehlende Rest vertraut und gerne als dessen Alter Ego bezeichnet – verdichtet sich zusehends. Man gewinnt den Eindruck größerer Nähe, vielleicht wird es auch etwas stiller um Jörn, der sich nun auch schon mal von einer überraschend provokativen Seite zeigt. Die Figur ist jedoch, obschon ausgestattet mit den Erfahrungen und Gewohnheiten des Verfassers, ebenso wenig dessen Spiegelbild wie die Erfindung des Anderen seiner selbst. Das Erschaffen dieser Figur ist nicht dem Wunsch geschuldet, mit der eigenen Geschichte auch der eigenen Identität und Verantwortung ledig zu sein, gleichwohl ist sie Ausdruck der Selbstdistanz. Vielleicht ist es auch aus der Erkenntnis gespeist, dass die eigene Geschichte nicht nur die Summe persönlicher Erfahrungen und Handlungen darstellt, sondern ebenso die der Beschreibungen und Deutungen, die unser Verhalten und unsere Äußerungen durch andere erfahren. Jörn Winter ist also gleichermaßen Gegenstand wie Medium der schreibenden Identitätsermittlung, eine Art Sonde. Mit Jörn soll es gelingen, die eigene Lebensgeschichte ins Unbekannte hinein zu erweitern; nicht bloß den Spuren der Erinnerung zu folgen, sondern für sie neue Fährten auszulegen. Es scheint, als verkörpere Jörn das Festhalten an einer Behauptung, so ungewiss sie sein mag: „Wenn hier einer ich sagt, sagt Jörn, dann bin ich es.“

Beckers literarische Collage ist ein widersprüchliches Unterfangen: Sie knüpft eine Tages- und Momenttextur zu einem dichtmaschigen Netz, das Augenblicke der Vergangenheit, die Bilder einer Landschaft und all die verlorenen Dinge wieder einzuholen vermag. Und sie knüpft dieses Gewebe immer wieder auf, löst die Zusammenhänge eines Lebens in einzelne Bild- und Reflexionsstränge auf und verabschiedet die (vermeintlichen) Gewissheiten. Jörn stellt sich Fragen, die oft nicht einmal ins vage Vergewissern führen, geschweige denn in die Verifizierung von Antworten. Fragen, die oftmals keinen Anker werfen in Vergangenes. Stattdessen Grübeln über Verschüttetem, das Suchen nach Antworten auf seinen Verbleib, die das Gesuchte nur noch ferner rücken. So ist das poetologische Verfahren, das Becker in diesem Text erprobt, als eine Anverwandlung, eine Antwort auf das bildkünstlerische Verfahren der Collage der Ehefrau und Künstlerin Rango Bohne – deren literarisches Abbild im Roman die Figur der Lene, Jörns Frau ist – zu verstehen. Dadurch entsteht ein literarästhetisches Gefüge, das sich nicht in der Adaption von Verfahrensweisen erschöpft; Literatur und Bildkunst teilen das assoziative Vorgehen, das Herauslösen von Teilen aus ihrem gewohnten Zusammenhang und das Generieren neuer Sinnbezüge, die wiederum Einfluss nehmen auf die Prozesse des Erinnerns. Beide rufen Wiedererkennen und Befremden hervor, sind begleitet vom Gefühl des Verlustes und dem Wunsch des Aufbewahrens. Sie sichern den Bestand des Erinnerten und setzen ihn zugleich aufs Spiel.

Es mag der Sammlung von Daten für die Hauschronik geschuldet sein, die Lene in Fotos und Erzählungen anlegt, dass immer wieder alte Fotografien betrachtet werden. Manchmal ist der kleine Jörn darauf zu sehen, manchmal der Vater oder einer der Onkel, zuweilen auch fremde Soldaten. Fotografien, die Krieg und Zerstörung bezeugen und dabei immer wieder die Frage nach dem eigenen Wissen um die Zusammenhänge aufwerfen, die für uns inzwischen historische sind. Zweifellos dienen Fotografien der Vergegenwärtigung, der Stiftung und Bewahrung von Identität, ebenso jedoch wird in ihnen eine Objektivität und Faktizität der Ereignisse manifest, welche die eigene Deutung der Ereignisse in Frage stellen. So sind es nicht zufällig gerade die Bilder aus der Zeit des Zweiten Weltkrieges, in der die beschädigten Landschaften der Erinnerung (wieder) sichtbar werden.

Und immer wieder spricht Jörn vom „Gehöft“, von Jörns und Lenes Fachwerkhäuschen im Bergischen Land – selbst ein Ort, durch den die Zeiten mit ihren Veränderungen und vermeintlichen Fortschritten ziehen; von wo man auf die Beerdigung der Nachbarn geht, in Gedanken noch einmal zum „Holzer Höfchen, in dem Lise ihre Gastwirtschaft betrieb“, oder wo man die Leute, die ungebeten über die Wiese gehen, auch schon mal nach ihrer Einreisegenehmigung fragt. Ein Ort, an dem sich auf die bewahrte und verrinnende Lebenszeit besinnen lässt. Eine gefährdete heimatliche Schwere geht von ihm aus.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Jürgen Becker: Jetzt die Gegend damals. Journalroman.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2015.
162 Seiten, 20,95 EUR.
ISBN-13: 9783518424889

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