Ein Schelm, der positiv denkt

Matthias Nawrat erzählt „Die vielen Todes unseres Opas Jurek“ mit Witz und etwas langem Atem

Von Beat MazenauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Beat Mazenauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Opa Jurek ist in seinem ereignisreichen Leben viele Tode gestorben, die er – mit Ausnahme des letzten – allesamt gut überlebt hat. Ein Aufenthalt in Auschwitz und viele Erfahrungen im real existierenden Polen haben ihn gelehrt, dass man sterben könne „ohne wirklich zu sterben“. Aus Anlass seiner Beerdigung und um ihm den Wunsch zu erfüllen, ja nichts zu vergessen, ruft sich ein Wir-Erzähler den Opa und seinen Sohn, den Vater des Erzählers, nochmals in Erinnerung. Opa Jurek wie sein Sohn waren begabt mit einem bemerkenswerten Talent fürs Handeln und Geschäftemachen. Unter dem Sozialismus galt diese Tugend zwar als verpönt, zugleich aber war sie unentbehrlich, wenn man sich im rauen politischen Umfeld behaupten wollte. Als Parteimitglied schwang sich Opa Jurek zum Direktor eines staatlichen Delikatessengeschäfts auf, dem die meiste Zeit über bloß die Produkte fehlten. Wären die vorhanden gewesen, hätte Opa alles perfekt organisiert. Sein Sohn dagegen machte sich selbständig und betrieb erfolgreich ein Geschäft für Alpinbedarf. Eine gute Wander- und Kletterausrüstung taugte allerdings auch dazu, über alle tschechischen Berge zu wandern und in den Westen zu gelangen. Ein guter Grund für die Behörden im „Grauen Quader“, Verdacht zu schöpfen. Sie luden deshalb den Vater hin und wieder zur Befragung ein und boten ihm gerne, wenn diese wieder einmal länger dauerte, auch ihr „Gästezimmer“ für die Nacht an.

Die vielen Tode unseres Opas Jurek erzählt mit schelmischem Understatement ein halbes Jahrhundert polnischer Lebens- und Leidensgeschichte. Mit all den Omas, Onkeln und Tanten ergibt das eine Fülle von Anekdoten, die der nicht näher bezeichnete kollektive Wir-Erzähler vom Hörensagen kennt. Weil sich die Realität manchmal einfach als zu komisch erweist, auch wo sie traurig und tragisch ist, besinnt er sich auf die „umgekehrte Humoristik“ seines Opas Jurek. Diese verdrehte Komik und der Hang zur Untertreibung machen die bösesten Dinge sagbar. Nawrat bedient sich des Tricks mit großer Fabulierlust. Schon sein schmaler Roman Unternehmer (2014) – ein wahrhafter Geniestreich – demonstrierte, dass er ein Meister im Fach der doppelten Erzählböden ist. Dies bestätigt sich in diesem breiter mäandernden und zuweilen etwas ausufernden Roman.

Allerdings nimmt der ironische Erzählgestus hin und wieder auch zwiespältig verniedlichende Züge an. Die sarkastische Zuspitzung droht zu misslingen, sie schärft nicht den Wahnwitz, sondern wattiert ihn ungewollt. Der schelmische Ton erhält etwas Schales bei brisanten Themen. Im Ton des Naiven berichtet der Erzähler beispielsweise, wie Opa aus Auschwitz zurückkehrt, wo viele Menschen „einfach so getötet“ worden waren, „die meisten von ihnen waren jüdische Männer, Frauen und Kinder und sie hatten überhaupt nichts Falsches getan“. Auch die wiederkehrenden ‚Besuche‘ des Vaters bei den Herren im Grauen Quader, von gut aussehenden Männern in Lederjacken mit dem Wagen abgeholt, geraten zu fürsorglichen Scharmützeln mit netten Verhörknechten, die in einen drôle de torture münden. Schließlich missrät der Witz vollends im Fall jener Frau, der bei einem Rencontre fast nichts passierte, „außer dass sie später im Rollstuhl sitzen musste“. So legt sich ein leichter Schatten über diesen munteren Roman, dem stellenweise die erzählerische Ökonomie etwas abgeht.

Titelbild

Matthias Nawrat: Die vielen Tode unseres Opas Jurek. Roman.
Rowohlt Verlag, Reinbek 2015.
407 Seiten, 22,95 EUR.
ISBN-13: 9783498046316

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