Die Ästhetik der Magersucht

Lara Schützsack betont in ihrem Jugendroman „Und auch so bitterkalt“ die Sinnlichkeit literarischer Krankheitsnarrative

Von Iris SchäferRSS-Newsfeed neuer Artikel von Iris Schäfer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In Lara Schützsacks Roman „Und auch so bitterkalt“ dominiert eine sinnliche Sprache. Es geht um die Wahrnehmung und Entschlüsselung einer psychischen Krankheit, die über den Körper kommuniziert und deren Wesen sich einer Fixierung entzieht. Die Unfähigkeit der Sprache, Krankheit und subjektives Leiden adäquat abzubilden, kommt etwa darin zum Ausdruck, dass die im Roman beschriebene Krankheit nie benannt wird und doch stets präsent bleibt.

Mit seinem Fokus auf die Ästhetik der psychischen Krankheit, hebt sich „Und auch so bitterkalt“ deutlich von anderen Jugendromanen über Magersucht ab – einer Krankheit, die bereits in den 1980er-Jahren in den Fokus der Jugendliteratur geraten ist. Im Laufe der Zeit hat sich die Distanz zu den erkrankten Figuren stetig verringert, so dass der Leser mittlerweile, wie etwa in Alexa Hennig von Langes „Leute, ich fühle mich leicht“ (2008) durch die Augen der erkrankten Protagonistin blicken und die Krankheit miterleben kann.

Schützsack jedoch tritt einen Schritt zurück und lässt den Leser durch die Augen der jüngeren Schwester der erkrankten Figur Lucinda blicken. Er wird daher nicht zum Mitleidenden sondern zum Beobachter, der aus der Distanz die Krankheit der Schwester verfolgt und ihre Symptome deutet. Die Beobachtungen und Reflexionen der Erzählerin Malina sind naiv und von Unsicherheit geprägt. Lediglich an einigen wenigen Stellen wird die Stringenz der Erzählung gebrochen, da sich in den Äußerungen der jugendlichen Erzählerin kindlich anmutende Fragen mit Begriffen mischen, die nicht dem Repertoire der Jugendsprache entstammen. Konstanten bilden hingegen die vielen Metaphern und Leerstellen, die sich wie ein roter Faden durch den Text ziehen und die ebenfalls auf die Unfähigkeit hindeuten, einen solchen Zustand sprachlich zu fassen: Sterne, die vom Himmel Fallen, ob als Sternschnuppen oder aber als leuchtende Aufkleber, die langsam von der Decke fallen; die Rede vom Abgrund, der beide Schwestern anzieht und auf die von der Magersucht ausgehende Gefahr verweist, oder aber die immer wieder betonte Verbindung zwischen dem maroden Haus der Familie und dem körperlichen Zustand der Schwester, eröffnen vielfältige Assoziationsspielräume. Was im Keller, im tiefsten Inneren des Hauses geschieht, bleibt im Verborgenen, ebenso wie das Leiden der Schwester Rätsel aufgibt.

Dass diese Krankheit die Fähigkeit zur Kommunikation aufweist, wird an mehreren Stellen deutlich. Da die Magersucht durch körperliche Signale kommuniziert wird, muss der Versuch des überforderten Vaters, die Äußerungen der Tochter schriftlich zu fixieren, um abends dem Geschriebenen eine Bedeutung zu entlocken, erfolglos bleiben. Die Krankheit wird weder diagnostiziert noch kategorisiert, sondern im Stillen beobachtet und entschlüsselt. Der stets unbenannten Krankheit wird auf diese Weise ein geheimnisvoller Charakter verliehen, der an das Mysterium der Hysterie erinnert und das ästhetische Potenzial literarischer Krankheitsnarrative verdeutlicht.

Zwar wird auch hier eine Liebesbeziehung geschildert, die in Jugendromanen nicht fehlen darf, doch wird die so häufig im Bereich der Sick Lit präsente Vorstellung von der positiven Macht der Liebe als Gegenpol zu Krankheit und drohendem Tod dekonstruiert. Der Nachbarjunge, in den sich beide Schwestern verlieben, ist ebenfalls psychisch krank. Sein Freitod stürzt die Schwestern in tiefe Trauer und nimmt Lucinda jeglichen Lebenswillen. Malina beobachtet, wie sich ihre Schwester langsam auflöst. Ähnlich wie in Ingeborg Bachmanns Roman „Malina“ (1971), in welchem der Tod der psychisch erkrankten Figur Malina durch das Verschwinden im Spalt einer Hauswand symbolisch dargestellt wird, macht Schützsack deutlich, dass der Tod beziehungsweise das Sterben am besten durch Metaphern oder Vergleiche veranschaulicht werden kann. So wie Leben und Tod langsam verschwimmen und ineinander übergehen, erscheint auch die Adoleszenz Lucindas stets mit ihrer psychischen Krankheit verbunden.

„Und auch so bitterkalt“ ist daher in mehrfacher Hinsicht ein höchst ungewöhnlicher Roman über Magersucht, dem es weder darum geht, über das Leben im Angesicht dieser Krankheit aufzuklären noch den didaktischen Zeigefinger zu erheben. Schützsak lenkt den Fokus primär auf die ästhetische Dimension literarischer Krankheisnarrative, deren Potenzial sie auf eindrucksvolle Weise veranschaulicht.

Titelbild

Lara Schützsack: Und auch so bitterkalt. Roman.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2014.
175 Seiten, 14,00 EUR.
ISBN-13: 9783596856190

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