Phantastische Ausschweifungen des Autors und die Bescheidenheit des Illustrators

Rudyard Kipling erzählt seine Kindergeschichten „genau so“

Von Stefan CernohubyRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Cernohuby

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Obwohl er ein Autor von Weltformat war und sogar den Literaturnobelpreis erhielt, ist der in Indien geborene Schriftsteller Rudyard Kipling hauptsächlich für seine Kinder- und Jugendromane bekannt, allen voran den „Dschungelbüchern“. Für seine eigenen Kinder hat er Gutenachtgeschichten geschrieben, die unter anderem ein ganz besonderes Kriterium erfüllen mussten.

Es gibt Fragen, die man sich als Kind stellt. Bei vielen ist man enttäuscht, weil man keine Antwort bekommt. Bei etlichen, weil der Gesprächspartner sie gar nicht kennt, bei anderen, weil es darauf keine richtige Antwort gibt. In Märchen und Fabeln gilt diese Logik aber nicht. Und mit genau solchen phantastischen Antworten hat sich Kipling auseinandergesetzt. So kann der Leser erfahren, wie das Kamel seinen Buckel bekam – aufgrund stetiger Arbeitsverweigerung. Auch der lange Rüssel des Elefanten wird erklärt – da gab es wohl ein Intermezzo mit einem Krokodil. Die Zähmung vieler Haustiere, mit Ausnahme der Katze, ist Teil einer Geschichte. Man erfährt sowohl wie das Gürteltier als auch wie Schrift und Alphabet entstanden sind. Und natürlich gibt es die Titelgeschichte, wie der Leopard zu seinen Flecken kam. Jeder Geschichte ist eine Illustration beigefügt, die in diesem Fall von Kipling selbst stammt. Er beschreibt dabei, was auf ihr zu sehen ist, und macht sich einerseits etwas über die eigene, von ihm erfundene Handlung lustig, andererseits über seine eigenen Zeichnungen, deren Stil sich teilweise der ornamentalen Technik bedient.

Ein Autor ist in der Regel froh über aufmerksame Leser. Aber ist er auch froh über aufmerksame Zuhörer, vor allem wenn sie ihn bei Variationen derselben Geschichte verbessern? Vermutlich eher weniger. Kipling hatte zwei Töchter, die ihre Gutenachtgeschichten immer auf die gleiche Art erzählt haben wollten, also „just so“ – „genau so“, und nicht anders. Unter diesen Geschichten, die 1902 zum ersten Mal als Buch erschienen, gibt es zahlreihe Anleihen an existierende Märchen und Fabeln, die aus einem außereuropäischen Kulturkreis stammen. Darüber hinaus hat es Kipling geschafft, Unsinn und Wissen miteinander zu verbinden. So transportieren einige der Geschichten tatsächlich interessante Fakten, die jedoch in absonderliche Handlungen eingebunden sind. Andere Erzählungen wirken so weit hergeholt, dass sie einfach nur zur Unterhaltung dienen und als Parabeln zu verstehen sind. Die zusätzlich beigefügten Illustrationen des Autors sind spannend, da daran sichtbar wird, dass Kipling nicht nur Talent für das Verfassen von Texten, sondern auch für künstlerisch wertvolle Bilder besaß. Ein wenig schade ist allerdings, dass auf einige Elemente des Originalbuchs verzichtet wurde. Diese besaßen zusätzlich ein weiteres Gedicht pro Geschichte und auch eine großflächige Illustration, die lose zu einem der Werke gehörte.

Zusammengefasst enthält „Wie der Leopard zu seinen Flecken kam“, ein Vorlesebuch, das sich an kleinere Kinder richtet, nicht nur zeitlose und amüsante Erzählungen, sondern auch gleichermaßen Wissen und Unsinn. Man kann das Buch für Gutenachtgeschichten nutzen und dabei gleichzeitig witzige Bilder erklären, über welche die kleinen Zuhörer noch ein zweites Mal lachen können. Ein Buch, das man Eltern aber auch Kennern von Kiplings anderen Werken nur empfehlen kann.

Titelbild

Rudyard Kipling: Wie der Leopard zu seinen Flecken kam. Tierfabeln.
Übersetzt aus dem Englischen von Sebastians Harms.
Verlag C.H.Beck, München 2015.
176 Seiten, 14,95 EUR.
ISBN-13: 9783406683497

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