Rettung vorm Ertrinken

Stefanie Höflers Kinderroman „Mein Sommer mit Mucks“ erzählt von Mut, lässt jedoch am Ende erzählerische Courage vermissen

Von Ines GallingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ines Galling

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Ich möchte die Erde mal von oben sehen. […] Bestimmt fühlt sich das gut an. So weit weg von allem zu sein“. Mucks kennt alle Sternbilder und träumt von einem Flug ins All. Unten auf der Erde ist er dauernd umgezogen, er hat Pfefferspray in der Tasche und kann nicht schwimmen. Zumindest das ist erstmal gut, denn so lernt er Zonia kennen: Als er im Freibad ins Becken fällt, rettet ihn Zonia – und so beginnt keuchend und Wasser spuckend ihre Freundschaft. Beide mögen Himbeereis und Scrabble – und das Schwimmen, das soll Mucks nun lernen, beschließt Zonia. Die beiden sehen sich daraufhin jeden Tag, doch irgendwas stimmt nicht. Zonia merkt: Mucks hat Angst – nicht vor Spinnen oder Mäusen, sondern richtige Angst. Angst vor seinem Vater. Wegen ihm ist er dauernd umgezogen, vor ihm laufen Mucks, seine Mutter und seine Oma davon. Auf einmal ist dieser aber trotzdem da, groß, laut und bedrohlich. Und Mucks schwebt nicht im All, sondern befindet sich mittendrin im Gebrüll, in Scherben und Pfefferspray. Auch Zonia ist mit ihrer Mutter da. Ihr couragierter Auftritt lässt zwar den Vater davonstürzen, kann jedoch nicht verhindern, dass wenig später auch Mucks weiterzieht: Zonias Sommer mit Mucks endet so plötzlich wie er begann.

Stefanie Höfler lässt in ihrem Debüt die zwölfjährige Zonia von Mucks und von sich selbst erzählen. Sie, das belesene, redegewandte und altkluge Mädchen mit den Bilderbucheltern, trifft einen Jungen aus desolaten Verhältnissen – mit einem prügelnden Vater, einer in Lethargie erstarrten Mutter und einer hilflosen, in Loyalitätskonflikten gefangen Großmutter. Allerdings spricht Mucks nur wenig und wenn, dann nur andeutungsweise über sein Zuhause; Zonia muss sich allerlei zusammenreimen. Sie will Mucks helfen, denn er ist schließlich ihr Freund. Freunde hatte sie, die Einzelgängerin, bislang kaum – und mag Zonia auch betonen, wie sehr sie sich selbst genügt, verbirgt ihre Erzählung ihr freudiges Staunen über den unverhofften Seelenverwandten und das Glück einer Freundschaft nicht.

Mein Sommer mit Mucks will ein ambitionierter Roman sein, thematisch und sprachlich anspruchsvoll. Allerdings nimmt die Skandinavistin Stefanie Höfler – Zufall oder nicht – mit ihrem Debüt in auffälliger Weise auf Leo und das ganze Glück (dt. 2013) der Norwegerin Synne Lea Bezug. Sowohl Thema als auch Figuren- und Erzählkonstellation erinnern an deren Roman, der von Mei und ihrer Freundschaft zu Leo, der von seinem Vater misshandelt wird, erzählt. Während aber Synne Lea eine Erzählhaltung entwickelt, in der allein Meis Wahrnehmung die Geschichte steuert, bricht Mein Sommer mit Mucks dies auf: Wie Mei ist Zonia eine Ich-Erzählerin, der aber klar ist, dass sie nur eine Beobachterin von Mucks sein kann. Anders als Mei, die den Leser mit einer kompromisslosen subjektiven Ausschließlichkeit konfrontiert und ihn zu keiner Zeit aus ihr entlässt, versucht Zonia dem Leser die Grenzen ihrer subjektiven Sicht zu zeigen. Sie weiß, dass sie nicht für Mucks sprechen kann. Diese Reflexionen über die eigenen Fähigkeiten führen zu einer Doppelstimme, welche aber die erzählerische Radikalität nicht unbedingt steigern muss, sondern diese auch schmälern kann: Denn sie mindert die Kokonhaftigkeit und Unzuverlässigkeit eines subjektiven Erzählens und schreibt dem Text ein Mehr an „Botschaft“ ein. Dazu trägt auch bei, dass Zonia viel mit ihren Eltern spricht: Das entlastet sie und den Leser und gibt beiden obendrein Deutungsmöglichkeiten an die Hand. Synne Lea hingegen lässt ihre Leser mit Mei allein –  und das ist irritierend, herausfordernd und mutig.

Zonias Mutter nun geht zwar couragiert gegen Mucks Vater vor, dennoch ist der Schluss von Mein Sommer mit Mucks mutlos. Denn nachdem Mucks endgültig wieder verschwunden ist, verkünden Zonias Eltern ihr, dass sie einen Bruder bekommt. Dies weist in die Zukunft und in Richtung Happy End, allerdings schmeckt diese Substitution auch ziemlich schal. Indes hätte man mit ein bisschen Kühnheit genau diesen Schluss doch noch einmal erzählerisch fruchtbar machen können: Hätte man das rosige Zonia-Ende mit einem grauen Muck-Schluss kontrastiert, hätte das die Verschiedenheit von Zonia und Mucks markieren und somit auch die erzählerische Linie, die der Text verfolgt, zu Ende führen können. Doch das macht der Roman nicht. Auch wenn er offen lässt, wie genau es mit Mucks weitergeht, sendet dieser in einem Brief an Zonia zaghafte zuversichtliche Signale. Das kann man gut finden – dennoch wirkt es, so vage es auch formuliert ist, einen Tick zu idyllisierend: Trotz hilfloser Mutter, trotz prügelndem Vater scheint sich nach seinem Sommer mit Zonia für Mucks alles zu fügen. Suggeriert wird Hoffnung, was angesichts dessen, was passiert ist, doch ein wenig unglaubwürdig anmutet. Aus diesem Grund wirkt der Schluss letztlich mehr wie eine Konzession an das gute Ende im Kinderbuch –  ein Wunsch, oder besser: eine Forderung zahlreicher, nicht selten erwachsener Leser an die Kinderliteratur. Doch gerade weil Mein Sommer mit Mucks große Ambitionen hegt, wären ein wenig mehr Emanzipation und Courage schön gewesen.

Titelbild

Stefanie Höfler: Mein Sommer mit Mucks. Roman.
Schwerpunkt: Kinder- u. Jugendliteratur.
Beltz Verlagsgruppe, Weinheim 2015.
139 Seiten, 12,95 EUR.
ISBN-13: 9783407820631

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