Auf der Suche nach dem „Neuen Denken“

In engagierter wie sympathischer Weise entfaltet Michail Gorbatschow den Schicksalsweg seiner russischen Heimat nach der Auflösung der Sowjetunion

Von Volker StrebelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Volker Strebel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In seinen Erinnerungen „Alles zu seiner Zeit“ von 2013 zeigte Michail Gorbatschow Einblicke in seinen persönlichen Werdegang auch im Zusammenhang mit seinem politischen Denken auf. Der vorliegende Band mit dem Titel „Das neue Russland“ bildet eine Ergänzung und Weiterführung von Gorbatschows Einschätzungen der Entwicklung in Russland nach der Auflösung der Sowjetunion im Dezember 1991.

Gorbatschow war ursprünglich angetreten, die Sowjetunion zu demokratisieren und nicht etwa abzuschaffen: „Wir hatten mit der Idee der Reparatur des bestehenden Systems begonnen, und nun mußten wir erkennen, daß man die tragenden Strukturen austauschen mußte“. Derlei Einschätzungen kennzeichneten den realistischen Blick des „Neuen Denkens“, das von Gorbatschow und seinen Anhängern unter den Schlagworten „Glasnost“ (Offenheit) und „Perestroika“ (Umbau) weltweit Bewunderung und Anerkennung hervorrief. Unmissverständlich kritisiert Gorbatschow die Auflösung der Sowjetunion und skizziert eine ganze Reihe von Fehlern, die sich im Anschluss an das überstürzte Ende in den chaotischen 1990er-Jahren einstellten und zum Teil bis heute nachwirken.

Schonungslos geht Gorbatschow mit der Amtszeit seines Nachfolgers Boris Jelzin ins Gericht. Er berichtet über kapitale Fehlentscheidungen und schildert die sich einstellenden Folgeschäden. Dem Abbruch der Perestroika folgte ein Kapitalismus der organisierten Maßlosigkeit, die russische Gesellschaft wurde Geisel einzelner Oligarchen mit selbstgesetzten Spielregeln und kriminellen Schattierungen.

Daran hat sich auch unter dem Präsidenten Wladimir Putin nichts geändert. Gorbatschow schildert seine wachsende Enttäuschung darüber, dass ein Begriff wie „Demokratie“ immer weniger in den offiziellen Verlautbarungen und Debatten vorkomme, während autoritäres Gehabe und Formen der Günstlingswirtschaft immer deutlicher zutage treten. Der Entwicklung einer bürgerlichen Zivilgesellschaft steht die alltägliche Praxis von Korruptionen in gewaltigem Umfang entgegen. Verordnete Kampagnen in gleichgeschalteten Medien und Wahlfälschungen in schamlosem Ausmaß kennzeichnen das neue Russland, wobei Gorbatschow es offensichtlich vermeidet, in dieser Malaise die Handschrift Putins als eines früheren Mitarbeiters des KGB wiederzuerkennen. Er führt diese strukturellen Missstände durchaus auf die totalitäre Tradition des sowjetischen Gesellschaftsmodells zurück, wobei er nicht müde wird, die Prozesshaftigkeit des Umbaus einer Diktatur in eine Demokratie hervorzukehren.

Hinsichtlich der sogenannten NATO-Osterweiterung fällt Gorbatschow zuweilen in überkommene Denkschablonen zurück und illustriert auf unfreiwillige Weise, wie schwer sich Moskau mit der Souveränität mittel- und osteuropäischer Länder tut. Auch die aktuelle Krise in der Ukraine betrachtet Gorbatschow mit dem Kreml-Reflex, dass „der Westen“ und allen voran die USA von der Bestrebung getrieben seien, eine Ausdehnung ihres Einflusses zu erwirken. Aber warum hatte dann „der Westen“ in den frühen 1990er-Jahren in massiver diplomatischer Weise auf die Ukraine eingewirkt, die im Lande vorhandenen Atomwaffen an Russland zu übergeben? Das Budapester Memorandum vom 05.12.1994, in dem neben den USA und Großbritannien auch Russland die Souveränität der Ukraine gewährleistet hatte, wird bezeichnenderweise nicht einmal erwähnt.

Es entbehrt nicht einer gewissen Tragik, dass selbst der Schöpfer des „Neuen Denkens“, das dem ausgehenden 20. Jahrhundert ein neues Gesicht verliehen hatte, nicht davor gefeit ist, hinter die selbst gesteckten Anforderungen zurückzufallen. Zugleich stellt Gorbatschow seine Glaubwürdigkeit  in seinem Ringen für ein neues Russland aus, da ihm sehr wohl bewusst ist, „daß das Erbe des Totalitarismus in den Traditionen, Köpfen und Sitten äußerst tief verankert war, daß es wohl in allen Poren unseres gesellschaftlichen Organismus sitzt“.

Die vorliegenden Aufzeichnungen werden mit einschlägigen Stellungnahmen und Wortmeldungen ergänzt, die Gorbatschow in Ost und West veröffentlicht hatte. Man spürt Gorbatschows Überlegungen die innere Unruhe eines russischen Patrioten und Vollblutpolitikers ab, der einerseits der aktuellen Regierung seines Landes nicht schaden möchte, aber auch nicht sehenden Auges zu schwerwiegenden Fehlentwicklungen schweigen kann.

Am eindrucksvollsten gelingen seine Darlegungen immer dann, wenn er auf das „Neue Denken“ zu sprechen kommt. Es ist ihm vorbehaltlos zuzustimmen, dass dieses auf unveränderte Weise hochaktuell und notwendig ist, zumal eines seiner Kennzeichen darin bestand, immer wieder nach Maßgabe der Dinge und einer aktuellen Lagebestimmung hinzuzulernen.

Anlässlich der Verleihung des Ordens des Apostels Andreas, der höchsten Auszeichnung, die Russland zu vergeben hat, hatte Gorbatschow ein leidenschaftliches Plädoyer für die Zukunft Russlands gehalten, und sich entschieden von der gängigen These distanziert, „daß Freiheit Russland fremd ist, daß unser Volk sie nicht braucht“. Es bleiben somit genug Einsichten, die den Leser veranlassen, sich Gorbatschows letztem Resümee seines spannenden Buches anzuschließen: „Ich bin ein Optimist. Mit diesem Satz beende ich viele meiner Gespräche. Mag er auch hier als Schlußsatz dienen“.

Titelbild

Michail Gorbatschow: Das neue Russland. Der Umbruch und das System Putin.
Quadriga Verlagsgesellschaft, Weinheim 2015.
559 Seiten, 25,00 EUR.
ISBN-13: 9783869950822

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch