Rekonfigurationen des filmischen Erinnerns nach 1989

25 Jahre nach der deutschen Wiedervereinigung erneut gesehen: Florian Henckel von Donnersmarcks DDR-Porträt „Das Leben der Anderen“

Von Jan SüselbeckRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jan Süselbeck

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Doch den sichern Bürger schrecket
Nicht die Nacht,
Die den Bösen gräßlich wecket,
Denn das Auge des Gesetzes wacht.
Friedrich Schiller

1. Vorsicht Volk: Deutschland einig Vaterland im Jahr 2015

Der französische Schriftsteller, Antifaschist und Literaturnobelpreisträger des Jahres 1952, François Mauriac, äußerte fünf Jahre nach dem Bau der Berliner Mauer: „Ich liebe Deutschland. Ich liebe es so sehr, dass ich froh bin, dass es zwei davon gibt.“

Diese Sichtweise, die im Blick auf die Geschichte des 20. Jahrhunderts einige Argumente auf ihrer Seite hatte, ist den Menschen östlich des Rheins stets fremd geblieben. Immerhin aber konnte selbst ein Autor wie Günter Grass zu bedenken geben, was die historischen Fakten lehren: Eine deutsche Einheit habe auf Dauer stets zu ausufernden Problemen in ganz Europa geführt und die Nachbarstaaten bedroht. Von daher sei ein Verzicht auf die Einheit nach 1945 schlicht notwendig (so 1970 in seiner Rede „Zwei Staaten, eine Nation?“). Zur Zeit der ,Wende‘ schließlich gehörte Grass zu den wenigen, die auch im allgemeinen Freudentaumel nach 1990 immer noch offen gegen die Wiedervereinigung Stellung bezogen: Grass sah einen Bismarck’schen Nationalstaat wiedererstarken und vertrat nun den Standpunkt, die deutsche Teilung sei aufgrund von Auschwitz berechtigt gewesen.

Unabhängig denkende Schriftsteller wie Arno Schmidt, der zeitlebens für den Begriff des ,deutschen Volkes‘ nur Hohn und Spott übrig hatte und in den 1950er-Jahren selbst als Kommunismus-Skeptiker vor lauter Hass auf den Adenauer-Staat einen Wechsel in die Deutsche Demokratische Republik (DDR) erwog, kann man in der deutschen Nachkriegs-Literaturgeschichte ohnehin an einer Hand abzählen. Da wäre die begnadete Anti-BRD-Satirikerin und Kommunistin Gisela Elsner zu nennen, und natürlich Ronald M. Schernikau, der den Schritt eines Umzugs in die DDR kurz vor dem Ende des sozialistischen Nachbarstaates aus Überzeugung sogar noch einmal wahr machte.

Der Mainstream sieht anders aus. In Deutschland erinnert man sich am 9. November immer gerne an den Mauerfall von 1989. Gefeiert wird eine friedliche Revolution als Befreiung von einem „Unrechtsstaat“. Daraus resultierten allerdings „blühende Landschaften“ (Helmut Kohl), in denen umgehend Pogrome gegen ‚Ausländer‘ einsetzten: Die tagelangen fremdenfeindlichen Ausschreitungen in Rostock-Lichtenhagen, deren Bilder im August 1992 um die Welt gingen, sind nicht vergessen. Jetzt brennen wieder die Asylantenheime. Kurz: Bis heute kann sich niemand in den Neuen Bundesländern sicher fühlen, der aus Sicht von Menschen, die sich dort als Deutsche verstehen, ‚anders‘ aussieht.

Derzeit eskaliert die deutsche Fremdenfeindlichkeit erneut, und nicht nur im Osten des Landes. Die Zeiten für Scharfmacher sind günstig: Die furchtbaren Attentate, die am 13. November in Paris stattgefunden haben, werden den Rassismus in Deutschland weiter befeuern, obwohl die Flüchtlinge, die aus dem Nahen Osten nach Europa kommen, meist selbst auf der Flucht vor jenem Jihad sind. Deutschland ist ein Staat, in dem die Anhänger von Parteien wie der „Alternative für Deutschland“ (AfD) und pöbelnde rassistische Hetzmassen wie die der „Patriotischen Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes“ (Pegida) den öffentlichen Diskurs auf beunruhigende Weise zu bestimmen beginnen – in der Alltagskommunikation, im Internet und auf der Straße. Zudem gleichen viele von ihnen den islamistischen Attentätern trotz ihrer eigenen Islamfeindlichkeit darin, dass sie Antisemiten sind. Es handelt sich um hasserfüllte Menschen, die nicht nur in Dresden, sondern mittlerweile auch in Berlin zu Tausenden aufmarschieren.

Die Bundesrepublik Deutschland ist nicht zuletzt eine Nation, in der die Geheimdienste ihre eigenen Bürger seit Langem, unter anderem mit der Hilfe der amerikanischen National Security Agency (NSA), in einer allumfassenden Breite ausspionieren, gegen welche die Reichweite des Stasi-Überwachungssystems geradezu harmlos wirkt. Zugleich hat der sogenannte Verfassungsschutz mittels seines dubiosen V-Mann-Systems seit den 1990er-Jahren Unmengen an Geld an die mörderischen rechtsextremen Terroristen des „Nationalsozialistischen Untergrunds“ (NSU) überwiesen. Akten darüber wurden nachweislich vernichtet, um Spuren zu verwischen. Ist dies etwa ein „Rechtsstaat“?

Der 9. November in Deutschland: Bekanntlich passierten an diesem Tag in der Geschichte des 20. Jahrhunderts auch noch andere Dinge als die Öffnung der DDR-Grenzen. Zum Beispiel die Reichspogromnacht von 1938, die letzte Ouvertüre zur Shoah. Oder der Hitlerputsch am 9. November 1923, in der „Hauptstadt Bewegung“, München. Man kann es vielleicht diplomatisch so zusammenfassen: Nicht alle Dinge, die in Deutschland am 9. November passierten, sind wirklich bejubelnswert. Überhaupt bringt es die Geschichte dieses Landes so mit sich, dass es dort nicht sonderlich viel zu feiern gibt.

2. Vom Welterfolg zum Schulstoff: „Das Leben der Anderen“

Wie ist eigentlich das Kino der letzten Jahre mit deutscher Geschichte umgegangen? Anlässlich des 25. Jubiläums der deutschen Wiedervereinigung lohnt es sich, an Florian Henckel von Donnersmarcks Oscar-Blockbuster „Das Leben der Anderen“ (2006) zu erinnern. Die DDR erscheint in dem Werk als depressive Gesellschaft, in der offenbar jeder jeden überwachte – geronnen in dem Bild des einsamen Hauptmanns des Ministeriums für Staatssicherheit Gerd Wiesler (Ulrich Mühe), der in dem Film meistens mit versteinerter Miene auf dem dunklen Dachboden eines Ostberliner Mietshauses hockt. Wiesler hört dort ein Paar in einer Wohnung unter ihm ab – den Schriftsteller Georg Dreymann (Sebastian Koch) und die Schauspielerin Christa-Maria Sieland (Martina Gedeck). Wenn die beiden ahnungslosen Künstler Sex haben, wird dies von Wiesler gewissenhaft notiert, wenn auch in zurückhaltender Relativierung: „vermutlich Geschlechtsverkehr“.

„Das Leben der Anderen“ wird heute als gelungener Film über die Realität der DDR-Überwachungsgesellschaft verstanden, und genau deshalb wird er auch in Schulen und in Universitäten vorgeführt. In den nordamerikanischen Departments of German Studies etwa gehört „The Lives of Others“ zum festen Kanon der Vermittlung des Geschichtsbildes der Berliner Republik. Wobei die Gefahr nicht von der Hand zu weisen ist, dass bei didaktischer Kritiklosigkeit der irreführende Eindruck entstehen könnte, Ulrich Mühes Darstellung des Offiziers sei als authentische und paradigmatische Verkörperung der Stasi-Geschichte zu verstehen. Und nicht nur dies: Ulrich Mühe als Gerd Wiesler ist dann womöglich sehr schnell sogar ein Teil jenes unguten Gemischs, das man international als Inbegriff des Deutschen schlechthin charakterisiert. Jedenfalls stellt eine Handreichung zur Unterrichtspraxis, die 2011 im „Journal of the American Association of Teachers of German“ (AATG) erschienen ist, nüchtern fest: „Pop culture ‘Made in Germany’ creates certain German characteristics that are capable of becoming, however disjointed, globally recognized representations of Germanness. The masculinist human-machine aesthetics of the Industrial-metalband Rammstein and the Wende-film Good Bye Lenin! (2003) are marketed transnationally as ‘Made in Germany’; the internationally successful film Das Leben der Anderen (2007) has come to represent the truth about life under the Stasi in East Germany.”[1]

Dabei sind die historischen Unglaubwürdigkeiten in Florian Henckel von Donnersmarcks Film nun wirklich nicht zu übersehen. Dass sich jemand von der Stasi jemals so lange wie Wiesler im gleichen Haus aufhielt wie die von ihm überwachten Personen, um sich direkt über ihren Köpfen mit einem ganzen Maschinenpark die Nächte um die Ohren zu schlagen, noch dazu laut auf einer Schreibmaschine banalste Gespräche mittippend, – das dürfte schon allein aus Gründen der Auffälligkeit so nie stattgefunden haben. Zudem wäre es Dank der Stasi-Abhörtechnik, die man genauso gut von irgendeinem Büro aus nutzen konnte, vollkommen unnötig gewesen. Aber wer weiß – vielleicht lachen wir jetzt darüber, während der Bundesnachrichtendienst auf unserem Dachboden sitzt und alles aufschreibt, was wir in unserer Wohnung reden und tun?

Was bleibt? Bei „Das Leben der Anderen“ handelt es sich zunächst einmal um einen Film, der Prominenten wie dem heutigen Bundespräsidenten und früheren „Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik“ (BStU), Joachim Gauck, oder dem inoffiziellen Chefideologen des christlich-demokratischen Antikommunismus, Wolf Biermann, einiges an Achtung abrang. Gauck promotete den Film als ,ernsten‘ Beitrag über das Leben in der DDR, weil er glaubte, in der Erinnerung an diesen Staat herrsche zu viel Ostalgie vor: „Ich bin im Kino“, schrieb er für den „Stern“ über seine erste Erfahrung mit dem Film, „ich kenne, was ich sehe. Ja, sage ich, so war es. Wenn das geschieht, wird es normalerweise nostalgisch. Aber jetzt: keine Nostalgie – nirgends, kein Erinnern also, das ohne Schmerz auskommt.“ 

Biermann fragte sich allerdings auch, ob „Das Leben der Anderen“ die Güte Gerd Wieslers, der in der Handlung des Films bald beginnt, seine Berichte zum Schutz des überwachten Schriftstellers Georg Dreymann und seiner Freundin Christa-Maria Sieland zu verfälschen, nicht doch zu sehr herausgekehrt habe. In seiner Rezension spielte Biermann auf Bernd Eichingers Produktion „Der Untergang“ mit Bruno Ganz als ‚Bruder Hitler‘ an, die im gleichen Jahr wie von Donnersmarcks Film in die Kinos gekommen war: „Werden jetzt die Stasi-Verbrecher wie Mielke und Markus Wolf historisch weichgewaschen [sic!], etwa wie der arme Mensch Adolf in den letzten Tagen im Führerbunker unter der Reichskanzlei?“

Die Verharmlosung des Nationalsozialismus durch unhaltbare historische Vergleiche dieser Art ist längst Alltag in Deutschland. Doch warten wir’s ab: Vielleicht wird ja einmal ein ähnlicher Film wie „Das Leben der Anderen“ über den ehemaligen Verfassungsschutzpräsidenten Heinz Fromm (SPD) gedreht, der 2012 wegen der NSU-Affäre in den vorzeitigen Ruhestand versetzt wurde. Und hinterher moniert dann ein alter BRD-Dissident mit Akustikklampfe und Schnauzbart, hier sei Hitler verharmlost worden? Das würde dann zumindest insofern passen, als es in dem NSU-Skandal tatsächlich um Nazis ging.

Dem Film „Das Leben der Anderen“ konnte die Kritik Biermanns und ähnlicher Rezensenten jedenfalls nichts anhaben. Er avancierte zu einer Standard-Repräsentation der DDR im deutschen Gedächtnis. Und eben nicht nur dort: Selbst der Hollywood-Kult-Regisseur Quentin Tarantino schien von Florian Henckel von Donnersmarcks Oscar-Coup im Jahr 2007 beeindruckt gewesen zu sein. Konnte er doch nicht umhin, dem Regisseur mit dem dröhnenden deutschen Adelsnamen einen ironischen Hollywood-Gruß zu entbieten, indem er eine von Diane Kruger gespielte Hitler-Attentäterin in seinem Nazi-Exploitation-Film „Inglourious Basterds“ (2009) Bridget von Hammersmark nannte. Die dann allerdings von SS-Standartenführer Hans Landa (Christoph Waltz) grausam erwürgt wird.

3. Misogynie, Male Bonding, Geschichtsklitterung: Forschungsergebnisse des letzten Jahrzehnts

Über von Donnersmarcks Melodram wurde bereits vor Jahren Wesentliches geschrieben. Der Film punktete international dadurch, dass der Absolvent der Hochschule für Fernsehen und Film München seine gesamte Mise en Scène in den Dienst maßloser Übertreibung stellte: Eine konsequente Farbdramaturgie ohne Blau und Rot tauchte die DDR in eine niederschmetternde grau-braune Tristesse. Ulrich Mühes emotional zunächst wie tot umherwankender Hauptmann Wiesler marschiert in einer der einprägsamsten Szenen mit bewegungslosem Gesicht und roboterhaften Routinebewegungen in seinen heimischen Plattenbau, betritt seine deprimierend uneingerichtete Wohnung und schleicht mit ein paar trockenen Reiskörnern samt einer Mini-Dosis Tomatenmark auf dem Teller vor seinen belächelnswerten DDR-Fernseher, auf dem öde Politbüro-Propaganda zu flimmern beginnt.

Damit nicht genug: Um seine bedrückende Einsamkeit zu lindern, bestellt sich Wiesler eine Prostituierte in seine Wohnung. Schnitt. Der Freier schluchzt sehnsuchtsvoll in ihre teigigen Brüste, sie möge doch noch ein wenig bleiben. Doch die resolute Sexworkerin weist ihn zurück. Im Aufbruch gibt sie an, dass sie weitere Agenten des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) zu bedienen und daher keine Zeit mehr habe: „Ich arbeite nach Termin.“ Das ist es wohl, was man sich im deutschen Gegenwartskino unter Planwirtschaft vorstellt.

Jens Gieseke vom Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam fand die Szene des wegen seiner ‚Authentizität‘ viel gerühmten Films bereits 2008 kurios: „Donnersmarck hat die Szene in Interviews mit dem Hinweis beglaubigt, er habe eine solche Prostituierte gesprochen. Was auch immer die gesagt haben mag, hat sie von Donnersmarck offenbar einen riesengroßen Bären aufgebunden: Die Staatssicherheit hatte ein zutiefst kleinbürgerliches Familienbild, in dem ein hauseigener Sexservice nicht den geringsten Platz hatte. Prostituierte wurden ausschließlich eingesetzt, um zum Beispiel westliche Geschäftsleute auszuhorchen oder erpressbar zu machen.“ Die Überspitzungen des Regisseurs könnten daher keinen Zweifel daran lassen, dass von Donnersmarck „keine Vorstellung von der Lebenswelt der Stasi-Mitarbeiter hat“.[2]

Nun kann man sich allerdings genauso gut fragen, warum Gieseke glaubt, kleinbürgerliche Familienväter würden keine Prostituierten frequentieren. Dürften doch gerade sie es gewesen sein, die seit jeher dafür sorgten, dass das ‚älteste Gewerbe der Welt‘ überhaupt existiert.

Wie dem auch sei: Tritt man nun einmal einen Schritt zurück, um das gesamte Phänomen aus gemessenem Abstand erneut zu betrachten, so kann man schnell sehen, was an Florian Henckel von Donnersmarcks Werk vor knapp 10 Jahren bereits typisch war und in vielen Filmen (nicht nur) über deutsche Geschichte seither vielfach wiederkehrte. Da ist zunächst einmal von Donnersmarcks geradezu reaktionäres Geschlechterbild. Thomas Lindenberger hat darauf hingewiesen, dass „Das Leben der Anderen“ mit seiner Darstellung der (nicht ganz unschuldig) von einem DDR-Politiker sexuell missbrauchten und zur Überwachung ihres eigenen Lebensgefährten gedrängten Schauspielerin Christa-Maria Sieland, die schließlich im Affekt vor einen Lastwagen rennt und in Pietà-Pose in Dreymanns Armen melodramatisch stirbt, ein misogyner Film ist.

Wir kennen das aus Klaus Theweleits Studien über die patriarchale Kunstproduktion à la „Orpheus und Eurydike“: Die Frau muss sterben, damit die Männer im Leben weiterkommen. Erst nach dem Tod der Frau können sie ihre eigenen Probleme endgültig lösen und wieder nach vorne schauen. So auch hier, im Fall von Wiesler und Dreymann: Nach Sielands ‚Unfalltod‘ und dem Mauerfall findet der Schriftsteller bei der Lektüre seiner Stasi-Akte schnell heraus, dass Kollege Wiesler die Abhörprotokolle zu seinen Gunsten fälschte, ja in seinen geheimdienstlichen Aufzeichnungen sogar selbst ein fiktives Lenin-Drama zum 40. Jahrestag der DDR-Gründung skizzierte, dessen Konzeption durch Dreymann er in seinen Abhörprotokollen spontan erfand, um gegenüber dem MfS einen tatsächlich anonym entstandenen Dissidenten-Artikel im westdeutschen „Spiegel“ vertuschen zu helfen, den Dreymann in seiner Wohnung gut hörbar diskutierte und verfasste.

Daraufhin schreibt Dreymann einen Roman über die ganze Geschichte und widmet ihn Wiesler, unter Verwendung von dessen (historisch gesehen übrigens abermals blödsinnigen) Stasi-Pseudonym: „HGW XX/7, in Dankbarkeit“. Der Angesprochene findet das Buch in der Karl-Marx-Buchhandlung in Ost-Berlin und freut sich: „Es ist für mich.“ Screen Freeze. Standbild von Mühes erleichtertem Gesicht in Nahaufnahme. Film aus. Abspann. Weiße Buchstaben auf schwarzem Hintergrund. Dazu erneut und in vollem orchestralem Arrangement das melodramatische Hauptmotiv des hinreißenden Soundtracks, das die ZuschauerInnen bewusst oder unbewusst bereits durch alle Schlüsselszenen des Werks begleitet und ihre Emotionen maßgeblich beeinflusst hat. Man darf und soll vor Rührung weinen.

„The two leading male figures are given the chance to mature through the failing woman“, schreibt Thomas Lindemann dazu, es gehe hier also schlicht um „male bonding“.[3] Erstaunlich, wie sich diese Trennung ‚männlicher‘ und ‚weiblicher‘ Sphären bis heute durch die gesamte Kinogeschichte und alle Genres hindurchzieht, als handele es sich um ein Naturgesetz: So wie die Männer in Kriegsfilmen bis hin zu Clint Eastwoods „American Sniper“ (2014) panisch vor den Ansprüchen der Ehefrau am heimischen Herd an die Front fliehen, um damit durch die homosoziale Todeserfahrung ihre Initiation und ihre ‚Freiheit‘ im Sterben zu finden, so muss offenbar im paradigmatischen Ossi-Abhör-Melodram in einer spiegelbildlichen Verkehrung erst die Frau dran glauben, damit es den ursprünglich gegeneinander arbeitenden Herren im Nachleben der DDR schließlich wieder besser geht. Nun vermögen sie neue Männerbünde zu knüpfen, und Sielands Lebensgefährte kann, endlich in Freiheit, einen dicken Roman schreiben, der in den Buchhandlungen stapelweise ausliegt: „Die Sonate vom guten Menschen“.

Das ist übrigens nicht die einzige patriarchale Tendenz im Gegenwartskino. Man muss dazu nicht einmal nur auf das verkappte Film noir- und Agenten-Thriller-Genre zu blicken, das die Darstellung geheimdienstlicher Überwachungen im Ostblock so gerne grundiert: Auch in anarchisch daherkommenden Klamotten wie Bora Dagtekins Schulkomödie „Fack you Göthe“ (2013), die im ersten Jahr nach ihrem Anlaufen allein in Deutschland sieben Millionen begeisterte Zuschauer fand, oder auch in David Wnendts Verfilmung von Charlotte Roches Ekel-Emanzipationsroman „Feuchtgebiete“ (ebenfalls 2013), steht am Ende stets die Zähmung verstörender libidinöser Affekte in einer soliden Zweierbeziehung. Sprich: Selbst dann, wenn sexuelle Tabuverletzungen im Zentrum neuerer deutscher Kinofilme stehen, besteht das Happy End, das den Publikumserfolg sichern soll, stets in deren jäher Aufhebung.

Die kanadische Literaturwissenschaftlerin Cheryl Dueck hat zudem herausgearbeitet, dass die Standards des Melodrams – eine konsequente Farbdramaturgie, eine bewegende Filmmusik und der selbstreferentielle voyeuristische Blick auf die betont sexualisierte Frau, wie er in „Das Leben der Anderen“ durch die Überwachungssituation ganz besonders ausgestellt und dem Zuschauer zugleich als affektheischende Attraktion angeboten wird – für die emotionale Wirkung des Films (und auch anderer Werke über die Spionage und die Überwachung im Ostblock) ganz wesentlich verantwortlich sind: „The male gaze is made literal here“, schreibt Dueck etwa vergleichend über den ungarischen Thriller „The Exam“, der den Aufstand von 1956 zum Thema hat („A vizsga“, Regie: Péter Bergendy, 2011), „and the viewer is invited to participate.“[4]

Entscheidend ist zudem das Dekor dieser Filme, wie man es anhand von „Das Leben der Anderen“ in besonders frappierender Weise beschreiben kann: Alle Innenräume erscheinen zwielichtig. Wiesler befindet sich fast ausschließlich in tiefgrauen Räumen und trägt dazu auch noch eine Jacke in verschiedenen Grautönen. Dieses seltsame, modisch irgendwo zwischen Captain Kirk-, Militär- und Ossi-Streetwear geschneiderte Kleidungsstück ist buchstäblich dermaßen zugeknöpft, dass Mühe den reservierten Habitus seiner Rolle kaum noch zusätzlich schauspielern muss. Zudem steht oder sitzt er damit in diversen betont monochromen Settings herum, so dass man immer nur wieder darüber staunen kann, wie geschmackvoll Herr von Donnersmarck Wieslers Uniform mit dem silbrigen Interieur eines Plattenbau-Aufzugs oder der Dachbodentür in Dreymanns Wohnhaus abgestimmt hat.

Kurz: Es ist alles dermaßen beklemmend inszeniert, dass es sowieso gar keinem mehr auffällt, wie dick hier aufgetragen wird. Die angebliche Authentizität des Films wird durch sorgfältige und konsequente Übertreibung erreicht, so dass die ZuschauerInnen glauben, eine wirkliche Zeitreise zu unternehmen, obwohl sie in Wahrheit bloß mit plattesten Stereotypen überhäuft werden. Dabei gilt die Faustregel eines jeden Regisseurs: Nichts überzeugt das Publikum so sehr wie auf die Spitze getriebene Klischees. Vor allem aber muss der offenbar nach wie vor besonders emotionalisierende Eindruck erzeugt werden, heldenhafte Männer könnten durch eine Erkenntnis, die durch den symbolträchtig überhöhten Tod der Frau ermöglicht wird, über irgend etwas hinwegkommen, das in der Geschichte tatsächlich nicht so ohne Weiteres abzuhaken ist.

Hier kommt der unhaltbare, aber längst zum Allgemeingut gewordene Vergleich der DDR mit dem „Dritten Reich“ erneut um Tragen. Bestimmte er doch auch die Rezeption von „Das Leben der Anderen“ in entscheidendem Maße. Florian Henckel von Donnersmarcks zentrale Idee war es, Wieslers Bekehrung zum good guy durch jene sprechende Komposition der „Sonate vom guten Menschen“ geschehen zu lassen, die dem lauschenden Überwacher von dem begabten Pianisten Georg Dreymann in der Abhörsituation unfreiwillig vorgespielt wird. Timothy Garton Ash und Cheryl Dueck haben bereits parallel darauf aufmerksam gemacht, dass es auch in Roman Polanskis Holocaust-Film „Der Pianist“ (2002) eine Szene gibt, in welcher der Protagonist von einem Nazi verschont wird, weil er so schön Chopin spielt.[5]

Das ist pure Regression und genau nicht das, was in der Shoah passierte, wo die Täter in ihrer Perfidie ganze jüdische Opfer-Orchester aufspielen ließen, so zum Beispiel bei der Ankunft von Deportationszügen in Auschwitz. Die Musiker waren dabei genauso zur ‚Vergasung‘ vorgesehen wie alle anderen Opfer auch – egal wie gut sie ihre Stücke intonierten. Sie wurden lediglich dazu gezwungen, bis zu ihrer eigenen Liquidierung eine gutgelaunt klingende Begleitmusik zur Ermordung ihrer Leidensgenossen – und letztlich ihrer selbst – zu liefern.

Mit dem historischen Plot in von Donnersmarcks sentimentalem Film hat das Polanski-Zitat der Bekehrung eines Saulus zum Paulus durch die Musik also eigentlich überhaupt nichts zu tun, und schon gar nicht mit der historischen DDR-Diktatur. Was hier inszeniert wird, passt hinten und vorne nicht zusammen. Dennoch hat der Regisseur, der von sich behauptet, Claude Lanzmanns „Shoah“ gehöre zu den Filmen, die er am meisten bewundere, sich immer wieder damit als Genie-Debütant gebrüstet, dass die visionäre Vorstellung eines ungewollt überirdisch schöne Musik hörenden Täters in einem leeren Raum die ideelle Keimzelle seines Werks gewesen sei. Allen Ernstes bat er seinen libanesischen Komponisten Gabriel Yared, für seinen Film eine passende Musik zu liefern, die es vermocht hätte, Hitlers Weltanschauung zu ändern.

Wollte von Donnersmarck damit sagen, sein namhafter Filmkomponist, unter anderem verantwortlich für den Soundtrack zu „Der englische Patient“ (1996), hätte mit seiner „Sonate vom guten Menschen“ tatsächlich die Nazis stoppen können – und deshalb gleich auch noch die vergleichbar böse Stasi?

Um es deutlich zu sagen: An dieser Selbstdarstellung von Donnersmarcks als multimediales cineastisches Mastermind ist alles so prätentiös und so pathetisch, dass man sich nur noch an den Kopf fassen kann. Doch diese Form verquerer cineastischer Geschichtsklitterungen hat Schule gemacht: Ob in der Nico-Hofmann-Produktion „Unsere Mütter, unsere Väter“ (2013), in der Juden und Deutsche im Zweiten Weltkrieg ganz selbstverständlich dicke Freunde sind und bleiben, weil sie verbotenerweise immer zusammen Swing gehört haben, während die polnischen Widerständler gegen die Nazis als mörderische Antisemiten inszeniert werden, ob in „Das Leben der Anderen“, wo die DDR als das totale dämonisierte Fremde überzeichnet wird – immer sind es die ‚Anderen‘, die furchtbare Dinge tun – sie fugieren als bloße Projektionsfläche für das Kinopublikum, mit der es einmal mehr auf beruhigende Weise bestätigt finden kann, dass das ‚Gute im Menschen‘ nicht zu unterdrücken sei, insbesondere im sensiblen deutschen Menschen.

Diese Sympathieträger wiederum werden in unhistorischer Weise so dargestellt, dass sich der westliche Rezipient ihnen spontan nahe fühlt und umgehend mit ihnen identifiziert. Dies verstärkt seine Ablehnung der exotistisch inszenierten bösen Figuren in diesen Filmen nur noch mehr: Die fünf feiernden Freunde in „Unsere Mütter, unsere Väter“ etwa wirken eher wie zeitgenössische Twens auf irgendeiner Swing-Themenparty, während Timothy Garton Ash bereits 2007 richtig darauf hinwies, dass Georg Dreymann in „Das Leben der Anderen“ auf ihn mehr wirke wie ein Dandy aus Schwabing als wie ein typisch ostdeutscher Schriftsteller. Die Täter in solchen Kinofilmen sind auffälligerweise gerne die Kommunisten – so in „Unsere Mütter, unsere Väter“, wo die Vergewaltigung von Frauen durch Soldaten der Roten Armee effektheischend ausgestellt wird, so in „Das Leben der Anderen“, wo der intrigante DDR-Minister Bruno Hempf (Thomas Thieme) die Schauspielerin sexuell missbraucht, oder auch in Filmen wie „Anonyma – Eine Frau in Berlin“ (2008), wo die Vergewaltigung deutscher Frauen durch sowjetische Soldaten sowieso gleich ganz Hauptthema ist.

Verstörend ist allerdings, dass auch Hollywood-Produktionen deutsche Darstellungsmodi zu übernehmen begonnen haben. Das schlagendste Beispiel ist hier nach wie vor Stephen Daldrys Verfilmung von Bernhard Schlinks Roman „Der Vorleser“ (1995), „The Reader“, mit der ‚Titanic‘-Darstellerin Kate Winslet (2008): Auch hier wieder die extrem emotionalisierende Sexualisierung der melodramatisch inszenierten Frau (wie Christa-Maria Sieland), die sterben muss, damit der Protagonist Michael Berg (Ralph Fiennes) am Ende lernen kann, dass das Nachdenken über deutsche NS-Schuld schlicht ‚pathologisch‘ ist und seiner 68er-Generation lediglich durch notorische Störenfriede wie die reiche Jüdin in New York ad infinitum aufgezwungen wird – einer herablassend auftretenden Anklägerin, die als Prinzip eines nicht zu mehr besänftigenden ‚Fremden‘ auftritt.[6]

Sowohl die von Winslet verkörperte SS-Täterin Hanna Schmitz als auch Ulrich Mühe als Hauptmann Wiesler weinen in entscheidenden Momenten der jeweiligen Filme bitterlich, weil sie unverhofft rührende Musikstücke hören.[7] Die Inszenierung tränenbenetzter Gesichter in Großaufnahme mit bewegender Musik ist melodramatischer Standard, wobei es allerdings in diesen neueren Produktionen auffälliger Weise immer deutsche TäterInnen sind, die weinen müssen und so das mitfühlende Publikum auf ihre Seite ziehen. Die Musik bekommt hier zudem nicht nur eine diegetische Funktion für die Rezipienten, sondern wird auch für die ProtagonistInnen selbst hörbar und damit zum zentralen Movens ihres Handelns.

Man kann die Arbeit mit dem melodramatischen Hauptmotiv der Filmmusik bei von Donnersmarck besonders gut studieren: Erstmals wird der schwermütige Klangteppich eines elegischen Streicher-Adagios eingesetzt, als Wiesler den von ihm überwachten Autor Dreymann in einem spontanen Akt durch einen technischen Trick darauf stößt, dass dessen Lebensgefährtin Christa-Maria Sieland mit dem Staatsminister Hempf ein Verhältnis hat. Die Musik wird damit nicht nur zu einer Vertonung des Leids einer missbrauchten Frau, sondern zugleich zu einem machtvollen Leitmotiv des beginnenden Male Bondings zwischen Wiesler und Dreymann. Das sakrale, in minimalistischer Form an die langsamen Sätze in Gustav Mahlers Sinfonien erinnernde Christa-Maria-Opfer-Thema wird in der Folge durch verschiedene Sound Brigdes zwischen Schlüsselszenen sukzessive in ein Wiesler-Selbstaufopferungs-Heldenmotiv verwandelt. Unter anderem in dem Moment, in dem Wiesler gegen jede Stasi-Überwachungsregel heimlich in die Wohnung Dreymanns schlüpft, in einer Art Gebetshaltung das zerwühlte Bett des abgehörten Paars betastet und danach – Schnitt, von vermutlicher Perversität hin zur Bildungs-Askese – von oben lesend auf einem Sofa zu sehen ist, während er selbstvergessen Bertolt Brechts Gedicht „Erinnerung an die Marie A.“ (1920) liest.

Der Text des sentimentalen Gedichts wird Wiesler und dem Publikum in der Szene bemerkenswerterweise aus dem Off von der Stimme Dreymanns vorgelesen, und dazu baden die ZuschauerInnen im Streicher-Sound des ‚mahlernden‘ Christa-Maria-Leitmotivs: Fertig ist er, der gute deutsche Täter-Mensch, der seinen Opfern immer empfindsam zuhört und im Falle der Belesenheit oder Musikalität seiner ‚Vorleser‘ im Handumdrehen zu deren selbstlosem Verteidiger wird.

4. „Heimsuchungen“ im kulturellen Imaginären: Elisabeth Bronfens hilfreiche Filmanalysen

Um die bisherigen Erkenntnisse noch einmal zusammenzufassen: Das internationale Kino hat eine wichtige Rolle in der deutschen Geschichtspolitik und in deren Vermittlung im Ausland übernommen. Die DDR und die Nazizeit künden in neueren Filmen stets von irgendwie ähnlich schlimmen Geschichten, in denen das ‚Böse‘ auf erleichternde Weise entrückt und damit auf ein wie auch immer geartetes ‚Anderes‘ verschoben werden kann. Störend wirken in diesen Szenarien vor allem Kommunisten und, besonders beunruhigend, neuerdings auch (wieder) Juden.[8] Dass dies 70 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und 25 Jahre nach dem Fall der Mauer kaum noch jemandem auffällt, gibt zu denken.

Um die filmischen Traditionen des Erinnerns analytisch genauer zu fassen, lohnt sich ein kurzer Blick in Elisabeth Bronfens Studie „Hollywoods Kriege. Geschichte einer Heimsuchung“ (zuerst: Specters of War: Hollywoods Engagement with Military Conflict“, für den S. Fischer Verlag aus dem Amerikanischen übersetzt von Regina Brückner). Was Bronfen in ihrem Buch über die Kriegsfilme aus den USA herausarbeitet, kann man zu Großteilen ebenso auf Werke wie „Das Leben der Anderen“ anwenden. Die Autorin versteht die von ihr untersuchten Filme als kulturelle Heimsuchungen, die etwas traumatisches Vergangenes in ästhetisierter Form wiederbeleben und erneut erfahrbar machen wollen, um zugleich „etwas zum Abschluss zu bringen“, das „offen geblieben war“.[9]

Damit wird dem Publikum in diesen hochartifiziellen Reinszenierungen allerdings etwas vorgegaukelt, das tatsächlich gar nicht erreichbar ist: „Die Vergangenheit, die uns heimsucht, ist auch eine Vergangenheit, deren wir nie vollends Herr werden können“, so Bronfen.[10] Genau das, was die Autorin in der Folge über die Repräsentation von Schlachten im Krieg schreibt, trifft deshalb auch auf Filme wie „Das Leben der Anderen“ zu: „Bei der Authentizität der Erfahrung, auf die es bei der filmischen Reinszenierung ankommt, geht es nicht länger um Fragen historischer Plausibilität oder Genauigkeit der Rekonstruktion. Stattdessen entfaltet sich die Schlacht auf der Leinwand als ein Realitätseffekt, der genau deshalb glaubhaft ist, weil er eine ästhetisch formalisierte Umgestaltung der Vergangenheit darstellt, die visuelle und narrative Kohärenz innerhalb der filmischen Codes der Gegenwart bietet.“[11]

Mit anderen Worten: Auch was in „Das Leben der Anderen“ geschieht, ist eher eine gegenwärtige Projektion aus der von Wessis dominierten Berliner Republik auf die DDR. Timothy Garton Ash hat es 2007 in seiner Charakterisierung von Florian Henckel von Donnersmarck so beschrieben: „It is just because he is not an East German survivor but a fresh, cosmopolitan child of the Americanized West, a privileged Wessi down to the carefully unbuttoned tips of his pink button-down shirt, fluent in American-accented English and the universal language of Hollywood, that he is able to translate the East German experience into an idiom that catches the imagination of the world.“

Regisseure wie von Donnersmarck streben eine Formalisierung überwältigender Emotionen in einer gezielt affektiv aufgeladenen Inszenierung an, um gewisse Traumata zu erfassen beziehungsweise sie die Zuschauer verstehen und imaginär ‚aufheben‘ zu lassen. Das genau ist es, was das westliche Publikum weltweit so sehr liebt. Es ist eine filmische Emotionalisierungsstrategie, die globale Aufmerksamkeit verspricht, wenn sie nach den dominierenden Produktionsmaßstäben des Westens realisiert wird: „Mächtige Formeln für Zustände hoher Emotionalität zu finden: Das ist es, worum es in Hollywood überhaupt geht“, stellt Bronfen einmal kurz und bündig fest.[12]

Doch es ist eben nicht nur Hollywood, das in dieser kulturindustriellen Gedächtnisarbeit als ein „Denkort“ funktioniert, an dem „kulturelle Energien, die Amerikas traumatische Geschichte betreffen, erhalten, transformiert, wieder in Umlauf gebracht und neu gedacht werden“.[13] Und nicht nur in den Vereinigten Staaten gibt es im Publikum eine „Sehnsucht danach, Geschichte somatisch und emotional zu erfahren“, wie es Bronfen mit Iain Calman und Paul A. Pickering fasst.[14]

Selbstverständlich ist auch in Deutschland und in Europa ein solches kulturelles Imaginäres am Werk, wie es Bronfen in ihren „Crossmappings“ des Hollywood-Kriegsfilmkinos seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts untersucht. Sie übersieht dabei, dass sich die Formen filmischer Gedächtnisarbeit, die stets auf einen bestimmten kathartischen Nutzen zielen, der nie vollends zu erreichen ist und daher stets wiederholt werden muss, sich international bereits seit fast 100 Jahren gegenseitig durchdrungen haben. Das beginnt schon mit Bronfens erstem Untersuchungsobjekt, Lewis Milestones Remarque-Verfilmung „All Quiet on the Western Front“ (1930), die zwar in Hollywood gedreht wurde, aber eben nicht von einem primär amerikanischen Krieg handelt, sondern zu allererst von deutschen Soldatenopfern im Ersten Weltkrieg.[15] Die „Pathosformeln“ cineastischen historischen Erzählens, wie sie Bronfen unter Berufung auf den Terminus von Aby Warburg analysiert, sind also nicht nur auf ein Publikum gemünzt, sondern sie funktionieren idealiter stets in verschiedenen Publika zur gleichen Zeit. Das gilt inbesondere für von Donnersmarcks Abhör-Melodram über die DDR, das mit einem Oscar für den „besten fremdsprachigen Film“ ausgezeichnet wurde und international 77,4 Millionen US-Dollar an den Kinokassen einspielte, davon 11,3 Millionen in den Vereinigten Staaten. Bezeichnenderweise soll der blaublütige Regisseur, mit seinem Oscar fuchtelnd, bei der Award-Party in L. A. ausgerufen haben: „Wir sind Weltmeister!“

Nur, worin? Irgend etwas muss das amerikanische Publikum an dem Film jedenfalls fasziniert und berührt haben, und der Kritiker Timothy Garton Ash hat es 2007 im New York Review of Books wie folgt erklärt:

One of Germany’s most singular achievements is to have associated itself so intimately in the world’s imagination with the darkest evils of the two worst political systems of the most murderous century in human history. The words “Nazi,” “SS,” and “Auschwitz” are already global synonyms for the deepest inhumanity of fascism. Now the word “Stasi” is becoming a default global synonym for the secret police terrors of communism. The worldwide success of Florian Henckel von Donnersmarck’s deservedly Oscar-winning film The Lives of Others will strengthen that second link, building as it does on the preprogramming of our imaginations by the first. Nazi, Stasi: Germany’s festering half-rhyme.

Ash behielt mit dieser Vorhersage Recht. Es ist aber wohl nicht nur das. Wie Cheryl Dueck richtig herausgearbeitet hat, ist es spätestens seit Edward Snowdens Wikileaks-Enthüllungen über die weltweite Tätigkeit der NSA und der mit ihr kooperierenden (deutschen) Geheimdienste kaum noch möglich, von Donnersmarcks Film nicht auch als einen solchen über die allumfassende Überwachung in unserer Gegenwart zu sehen. Daher der hohe Identifikationswert. Es geht in diesem Melodram und in vergleichbaren Werken immer um unschuldige Opfer, denen übel mitgespielt wird, so Dueck: „As such, the films about surveillance in state socialism from the mid-2000’s address both transnational and national concerns, and can reach a wide variaty of audiences through their use of genre.“[16]

Dem deutschen Kino – oder, wie etwa im Fall von „The Reader“, dem internationalen Kino über deutsche Geschichtsthemen – ist es seit 1989 in erstaunlichem Maße gelungen, auf diese Weise selbst Nazis als Opfer oder ‚gute Menschen‘ erscheinen zu lassen, mit denen das Publikum in aller Welt genüsslich leidet. Um es abschließend noch einmal zu betonen: Das ‚Schlechte‘ kommt dabei im Grunde auffälliger Weise niemals aus Deutschland selbst – es ist in letzter Konsequenz immer etwas Fremdes, unter dem auch Deutsche bitter zu leiden haben, selbst wenn sie persönlich in diesem System böses tun: Die Nazis sind irgendwie plötzlich da und verbieten das Swing-Tanzen mit dem jüdischen Freund, wonach die tapferen deutschen Jungs zur Front müssen, um teils schlimme Befehle zu befolgen und ihr Leben im Kampf gegen den asymmetrischen Partisanenkrieg an der Ostfront auf’s Spiel zu setzen („Unsere Mütter, unsere Väter“). Das George-Orwell-1984-Überwachungssystem in „Das Leben der Anderen“ ist ein weiterer solcher Fall: Das Böse ist hier schlicht der furchtbaren deutschen Teilung und der unmenschlichen Ideologie des Stalinismus geschuldet, einem fatalen System, das am Ende selbst das Leben des bemitleidenswerten Täters Gerd Wiesler zerstört. Die abschließende Versöhnung mit diesem armen Tropf kann aber mittels einer verschlüsselten persönlichen Nachricht erreicht werden, die durch Dreymann mal eben in einer literarischen Bestseller-Kampagne geschenkverpackt wird, sobald Deutschland endlich wieder eins ist.

Letztlich sind die Deutschen in diesen Filmen immer extrem kunstsinnige Menschen, die im Land der Dichter und Denker durch die Schöne Literatur oder auch die Musik zuverlässig zum Guten bekehrt werden und, zumal unter Männern, in neuer Harmonie erneut zusammenfinden können. Die Aufklärung der Märtyrer-SS-Täterin Hanna Schmitz im „Vorleser“ von Bernhard Schlink und dessen Verfilmung durch Stephen Daldry ist hier ebenfalls zu nennen, da die frohe Botschaft allheilender deutscher Literaturvermittlung sogar im Titel der Geschichte schon auftaucht. Ähnlich stilbildend war „Das Leben der Anderen“, wo es, in Kontrast zum Anti-Identifikations-Konzept des Epischen Theaters bei Brecht, ausgerechnet dessen sentimentales frühes Gedicht „Erinnerung an die Marie A.“ ist, das Wieslers Bekehrung zum guten Menschen einleitet und die Rezipienten überwältigt, neben der von Dreymann bedeutungsschwer intonierten „Sonate vom guten Menschen“, für den standhaften Hitler-Gegner Florian Henckel von Donnersmarck komponiert von Gabriel Yared. Die historische und die gegenwärtige Wahrheit ist, wie wir wissen und auch dieser Tage auf deutschen Straßen wieder sehen können, eine ganz andere.

[1] Corinna Kahnke / Maria Stehle: „Made in Germany“: The Politics of Teaching German Popular Culture in the Twenty-First Century. In: Die Unterrichtspraxis/Teaching German, Volume 44, Issue 2, Fall 2011 S. 116-123. Hier: S. 116.

[2] Jens Gieseke: Stasi Goes to Hollywood: Donnersmarcks The Lives of Others und die Grenzen der Authentizität. In: German Studies Review, Vol. 31, No. 3 (Oktober 2008), S. 580-588. Hier: S. 582f.

[3] Thomas Lindemann: Stasiploitation – Why Not? The Scriptwriter’s Historical Creativity in The Live of Others. In: German Studies Review, Vol. 31, No. 3 (Oktober 2008), S. 557-566. Hier: S. 562.

[4] Cheryl Dueck: Secret Police in Style: The Aesthetics of Remembering Socialism. Typoskript, erscheint demnächst in Seminar. A Journal of Germanic Studies. Siehe dazu außerdem Dies.: The Humanization of the Stasi in Das Leben der Anderen. In: German Studies Review, Vol. 31, No. 3 (Oktober 2008), S. 599-609.

[5] Cheryl Dueck, The Humanization of the Stasi, S. 607.

[6] Vgl. dazu Jan Süselbeck: Die Kraft der Tränen – Über die Melodramatisierung des ‚Täterinnenschicksals‘ in Bernhard Schlinks Roman „Der Vorleser“ und in Stephen Daldrys Verfilmung „The Reader“. In: Carsten Gansel / Markus Joch / Monika Wolting (Hrsg.): Zwischen Erinnerung und Fremdheit. Entwicklungen in der deutschen und polnischen Literatur nach 1989. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2015, S. 195-207. Diese und weitere Filmanalysen zum Thema finden sich zudem in Ders.: Im Angesicht der Grausamkeit. Emotionale Effekte literarischer und audiovisueller Kriegsdarstellungen vom 19. bis zum 21. Jahrhundert. Göttingen: Wallstein Verlag 2013. Hier vor allem: S. 404-445.

[7] Vgl. ebd., S. 432 ff.

[8] Cheryl Dueck schreibt in ihrem zitierten Beitrag für „Seminar“ unter anderem auch über den polnischen Film „Little Rose“ (2010), der die antisemitische Stimmung im Polen Ende der 1960er-Jahre zum Thema hat. In diesem Kinofilm stellt sich über einen antizionistischen Ermittler, der einen Mord an einem angeblichen jüdischen Professor begeht, der in Wahrheit gar keiner ist, am Ende heraus, dass er selbst seine jüdische Identität verheimlichte und in einer radikalen Form der Assimilation zum Täter wurde: Der polnische Antisemitismus, der in der dargestellten Zeit ca. 15.000 Juden aus Polen vertrieb, als ‚jüdische Tat‘?

[9] Elisabeth Bronfen: Hollywoods Kriege. Geschichte einer Heimsuchung. Frankfurt am Main: S. Fischer 2012, S. 15.

[10] Ebd., S. 25.

[11] Ebd., S. 225.

[12] Ebd., S. 231.

[13] Ebd., S. 24.

[14] Ebd., S. 26.

[15] Siehe dazu auch die betreffenden Kapitel bei Jan Süselbeck, Im Angesicht der Grausamkeit, a.a.O., S. 119-160.

[16] Cheryl Dueck, Secret Police in Style, a.a.O.

Titelbild

Elisabeth Bronfen: Hollywoods Kriege. Geschichte einer Heimsuchung.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Regina Brückner.
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2013.
525 Seiten, 22,99 EUR.
ISBN-13: 9783100096562

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