Die Jangtse-Nomaden

Ma Jians Roman „Die dunkle Straße“ führt auf die Kehrseite des chinesischen Wirtschaftswunders

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mit „Die dunkle Straße“ hat der heute mit seiner Familie im Londoner Exil lebende, 1953 im nordostchinesischen Qingdao geborene Schriftsteller und Maler Ma Jian einen beklemmenden Roman über das Leben abseits der prosperierenden Metropolen in seinem Geburtsland geschrieben. Erzählt wird die Geschichte der jungen Meili und ihres Mannes Kongzi: er ein Lehrer aus dem Kong-Clan, 76 Generationen nach dem großen Philosophen Konfuzius, auf den die Sippe sich zurückführt, geboren; sie eine wenig gebildete Frau vom Land, ausgerüstet mit Tatkraft und dem Traum, eines Tages im Wohlstand in einer der großen chinesischen  Städte leben zu können. Doch weil Kongzi unbedingt nach seiner Tochter noch einen männlichen Erben haben möchte, der den großen Namen der Sippe weiterträgt, gibt er seine Existenz und die seiner Frau auf und flüchtet sich zu den Flussnomaden auf dem Jangtse.

Zentrales Thema des Romans sind die fatalen Folgen der von 1979 bis 2015 verfolgten Ein-Kind-Politik des chinesischen Staates für eine weitgehend rechtlose Landbevölkerung. Erzwungene Abtreibungen, Familienplanungstrupps, die die Partei durch die Dörfer schickt, um die Einhaltung ihrer Gebote zu kontrollieren, Bestrafung der Familien von Schwangeren, die sich dem Zugriff des Staates wie Meili zu entziehen versuchen, blühendes Denunziantentum – der Roman lässt nichts aus, um eine Praxis zu brandmarken, bei der der Mensch nicht mehr über sein Leben bestimmen darf, sondern die Verfügung über seinen Körper an den Staat abgeben musste.

Meilis Leidensweg, der dem Leser keine Grausamkeit dieser restriktiven Politik erspart, ja an etlichen Stellen des Buches die Grenzen des Erträglichen ganz bewusst überschreitet, steht dabei exemplarisch für das Schicksal all jener Frauen, die mit ihrer zweiten Schwangerschaft in Konflikte gerieten, denen sie sich nur durch die Flucht in Nischen, die schlechter zu kontrollieren waren, entziehen konnten. Der Weg von Ma Jians jungem Paar führt deshalb auf die großen Flüsse des Landes. Schließlich landet die Familie auf einem eigenen Hausboot auf dem Jangtse, wo man den Anker lichten kann, wenn die Gefahr des Entdecktwerdens zu groß wird. Trotzdem entgeht Meili nicht einer Zwangsabtreibung, wird daraufhin ein weiteres Mal schwanger, allerdings mit einem Mädchen, das von Kongzi später weggebracht – offenbar verkauft – wird. Ihr viertes Kind entzieht der Autor den in der Welt lauernden Schrecken schließlich, indem er es den Mutterleib durch eine erzählerische Volte des Romans ins Surrealistische über Jahre nicht entkommen lässt. 

Die Nomadenexistenz seiner beiden zentralen Protagonisten, ihr ständiges Unterwegssein, um staatlicher Überwachung und Kontrolle zu entkommen, gibt Ma Jian die Gelegenheit, neben seiner grundsätzlichen Kritik an der Ein-Kind-Politik – die erst vor Kurzem aufgegeben wurde, wohl auch, weil man merkte, dass dem Wirtschaftswunderland junge und belastbare Arbeitskräfte zu fehlen begannen und das demographische Ungleichgewicht zwischen Männern und Frauen fatale Folgen zeitigte – noch zahllose andere Probleme zu thematisieren.

So macht „Die dunkle Straße“ aufmerksam auf die Rechtlosigkeit der Wanderarbeiter, ohne die das beeindruckende Wachstum der Metropolen Chinas in den letzten Jahrzehnten nicht möglich gewesen wäre: „[W]ir Wanderarbeiter sind die Maschinen, die Chinas phantastischen wirtschaftlichen Aufschwung vorantreiben“. Angesprochen werden außerdem die Opferung der Umwelt zugunsten eines immer mehr an Tempo gewinnenden Prozesses der Industrialisierung sowie die zur Normalität gewordene Praxis, sich alles, auch das Verbotene, leisten zu können, wenn man nur die richtigen Vertreter der öffentlichen Ordnung schmiert. Der Roman nimmt seine Leser mit in die düsteren Baracken von Umerziehungslagern und auf Märkte, wo schamlos mit gefälschten westlichen Markenartikeln en gros gehandelt wird.

Meilis und Kongzis Weg endet schließlich in Himmelstadt. Unterwegs auf den Flüssen hat das Paar immer wieder Gerüchte über diese aus ein paar Reisdörfern entstandene Ansiedlung gehört. Dass keine Frau in Himmelstadt schwanger werden könne, klang dabei in Meilis Ohren wie die Verheißung des Paradieses auf Erden, das Ende aller ihr zugefügten Leiden. Die Realität freilich sieht anders aus, denn man landet in einer „Digitalabfallhölle“: „Rauch, schwarz wie die Nacht, quillt aus den orange lodernden Flammen und lässt Fetzen von Planen, die in den Bäumen hängen, flattern, dass sie aussehen wie kämpfende Hunde. Plastikteile und Metallabfälle krümmen sich und schmelzen. Sie tropfen über das Ufer ins Wasser, und rote Funken tanzen und knistern auf dem dunklen See.“

Eine Schwangerschaft ist, wenn man länger auf diesem „giftigen Friedhof der digitalen Abfälle der Welt“ leben muss, tatsächlich nicht mehr möglich. Neben Atemwegserkrankungen, schweren Schädigungen der Haut sowie des Nerven- und Verdauungssystems, Bleivergiftungen und erhöhtem Leukämierisiko ist Unfruchtbarkeit eine unmittelbare Folge des Umgangs mit dem aus aller Welt herbeigekarrten Elektronikabfall. Hier, wo man in einer „Wellblechhütte am Stadtrand“ Unterkunft gefunden hat, vollendet sich das Schicksal von Ma Jians Helden. Endlich gibt Meilis erschöpfter Körper das über Jahre festgehaltene Kind her. Doch es ist ein Bild der Hoffnungslosigkeit, wenn Kongzi sich am Ende mit seinem tot geborenen Nachfolger im Arm in Richtung Zukunft aufmacht:

Er steigt über zerbrochene Platinen, die aus dem Boden ragen wie ausgegrabene Ziegel, über herausgerissene Graphikkarten, über Kupferdrähte und silberfarbene Gehäuse von Mobiltelefonen. Er zertritt Intel-Mikrochips und kugelförmige Audioverbindungen, wankt auf vor Erschöpfung zitternden Beinen den Hügel hinauf, stapft über zerlegte Hauptplatinen und hebt das reglose Kind zum ersten Morgenlicht empor.

Titelbild

Ma Jian: Die dunkle Straße. Roman.
Übersetzt aus dem Englischen von Susanne Höbel.
Rowohlt Verlag, Reinbek 2015.
491 Seiten, 24,95 EUR.
ISBN-13: 9783498032395

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