Dämonen der Liebe

Nichts ist lebendiger als die Toten und nichts schöner als der Schauder. Mit „Crimson Peak“, zelebriert Guillermo del Toro edelste Gothic-Ästhetik

Von Nathalie MispagelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nathalie Mispagel

Blutrot rinnt eine Träne herab. Vergossen für ein Leben, das einem pervertierten Begehren dargebracht war und nun der wahren Liebe geopfert wurde. Für Reue ist es zu spät, Sühne bietet keinen Ausweg, an Erlösung glaubt niemand mehr. Zurück bleibt nur Trauer, auf ewig festgebannt im Moment des Todes – und die Erkenntnis, dass Gespenster Schicksal werden können.

Letzteres ahnt Edith M. Cushing (Mia Wasikowska) seit Kindertagen, als ihr die gerade verstorbene Mutter als unheimliches Phantom erschien und vor ’Crimson Peak’ warnte. Mittlerweile ist aus Edith eine unabhängige, wenn auch noch etwas naive junge Frau mit Schriftstellerambitionen geworden, die sie im fortschrittlichen Ostküsten-Amerika des beginnenden 20. Jahrhunderts selbstbewusst verfolgt. Nach dem mysteriösen Tod ihres ebenso liebevollen wie vermögenden Vaters (Jim Beaver) flüchtet sie nicht in die langweiligen Arme des Jugendfreundes Dr. Alan McMichael (Charlie Hunnam), sondern findet Trost bei dem charmant-undurchsichtigen Sir Thomas Sharpe (Tom Hiddleston). Der verarmte Baronet aus Großbritannien hatte in den U.S.A. Finanziers für sein Projekt selbst entwickelter Maschinen zum Lehmabbau gesucht. Ihm folgt Edith als Ehefrau nach Cumberland auf den einsamen Landsitz ’Allerdale Hall’. Dort wohnt nicht nur Thomas` Schwester Lady Lucille Sharpe (Jessica Chastain), sondern ein dunkles, böses Geheimnis, das sich in bizarren Geisterwesen manifestiert. Was die ominöse Botschaft der toten Mutter einst ankündigte, wird für Edith zur realen Bedrohung.

Wann der Schrecken geboren wurde

Mitte des 18. Jahrhunderts, als die Aufklärung in Europa längst Einzug gehalten hatte und die Industrielle Revolution sich ankündigte, entstand in England mit der Gothic Novel ein neues Genre der Phantastik: „Was aus dem Leben vertrieben war, rettete sich in die Literatur. Zauber und Wunder, Schauder und Geheimnisse, die von der Aufklärung dem Schindanger überlieferten Produkte eines archaischen Seelenzustands, werden zu Poesie destilliert und treten als Surrogate oder Symbole eine neue Laufbahn an.“, schrieb einmal der Germanist Richard Alewyn und traf damit ins Herz der Schauerliteratur. Als Fiktionalisierung individueller wie gesellschaftlicher Ängste und gleichzeitig Reaktion auf die Entzauberung und Verwissenschaftlichung der Welt lieferte der Schauerroman mal logische Erklärungen für seine Schrecken erregenden Mystifikationen, mal steigerte er sich in surrealistische Horrorszenarien des Übernatürlichen. Selbst wenn er dem Irrationalen nicht immer eine eigene Wirklichkeit jenseits der Vernunft zustand, betonte er stets die Macht der Imagination. Damit hat er sich einen Platz in der Literatur erobert und zugleich etwas Elementares berührt, denn was unterscheidet den Homo sapiens tatsächlich von allen anderen Geschöpfen außer seiner Phantasie? Nur der Mensch beschäftigt sich mit Realitäten fern der bekannten Realität, nur er braucht Geschichten zum (Über-)Leben.

Guillermo del Toro, mexikanischer Regisseur und Autor, weiß solche Geschichten zu erzählen. Schon sein erster Langfilm „Cronos“ (1993) oder „The Devil`s Backbone“ (2001) offenbarten ein bemerkenswertes Talent fürs Horrorgenre und für beseelte Monster. Sein Meisterwerk „Pans Labyrinth“ (2006) akzentuierte schließlich auf bewegende Weise, dass eine Fantasy-Allegorie politisch und poetisch zugleich sein kann. Großzügig über den dümmlichen SciFi-Action-Trash „Pacific Rim“ (2013) hinwegsehend, darf es als cineastische Freude gelten, dass del Toro mit „Crimson Peak“ zu seinen Wurzeln zurückgekehrt ist. Formvollendet setzt er nostalgisches, spätviktorianisches Feeling, etwa durch den Einsatz von Kreisblenden als Technik des frühen Kinos, neben zeitgemäßen Horror in Form von überbordenden Effekten, den keuschen Kuss neben die blutverschmierten Hände. In seinem wunderbar innovativen Kinoverständnis schwingt er sich mit unbekümmerter Maßlosigkeit zur märchenhaft-metaphysischen Gothic-Oper auf.

Wo der Schrecken haust

Wie es sich für eine stilechte ’Haunted House’-Story gehört, ist der heimliche Hauptdarsteller ein Gebäude. Nur dass bei dem hochstilisierten „Crimson Peak“ definitiv nicht von ’heimlich’ gesprochen werden kann. Da hat Production-Designer Thomas E. Sanders visionäre (Detail-)Arbeit geleistet. ’Allerdale Hall’ repräsentiert gewissermaßen die Ahnherrin aller Tudor-Spukhäuser, so faulig, finster und fluchbeladen steht das Schloss inmitten der düsteren Hügellandschaft im Nordwesten Englands. Hier herrscht trost- und grenzenlose Einöde, als wäre die Umgebung im Laufe der Jahrhunderte von dem bröckelnden Ungetüm auf der Anhöhe abgerückt und hätte nur die Erde voll roten Lehms zurückgelassen. Überall dringt der purpurne Morast hervor, selbst durch die gleich Wunden aufgerissenen Wände und Böden im Herrenhaus, das auf unterirdischen Lehmminen gebaut wurde und nun langsam zu versinken droht.

Jener literarische Poe-/House of Usher-Verweis potenziert nur die Bedrohlichkeit des Baurelikts. Schon die riesige, dem neo-gotischen Alptraum eines wahnwitzigen Baumeisters entsprungene Eingangshalle ähnelt dem Vorhof zur Hölle, ob an entgrenzter Schwärze, an verwitterter Architektur aus Rippengewölbe, Bögen und Strebewerk, an spitzen Zierelementen oder verzerrten Proportionen. Konterkariert werden diese absurden Dimensionen durch ungemütliche, kammerartige Wohnräume auf verschiedenen Stockwerken, verbunden mit einem altersschwachen, käfighaften Aufzug. Auch dort ist längst alles dem Verfall preisgegeben. Kälte und Nässe sind bis in den fernsten Winkel gedrungen, Fäulnis hat die Herrschaft übernommen.

’Allerdale Hall’ atmet Verwesung, Verunsicherung, Verfremdung. Die Grenze zwischen einer unkontrollierbaren, zerstörerischen Natur und einem Haus als zivilisatorische Bastion scheint aufgehoben. Weil das Dach marode ist, regnet es stetig Blätter und Schmutz herein, sobald der Winter anbricht, auch Schnee. Das Anwesen, das trotz dekorativer Türmchen, Erker und Giebel einen zutiefst abweisenden Eindruck macht, bietet im Innern keinen Schutz, sondern verliert sich in der baulichen Betonung der Vertikalen und seinen labyrinthischen Schluchten. Kameramann Dan Laustsen spürt jenen erlesen ausgeleuchteten Tiefen mit geradezu sinnlicher Eindringlichkeit nach. So beschwingt er einen Walzer in Ediths sepiafarben-warmer Heimat, der amerikanischen High Society, filmen kann, so lauernd wird sein Blick in den verschatteten, eigenartige Grün- und Rottöne ausspuckenden Gängen des englischen Herrenhauses. Das ist kein Raum für Lebende, das ist ein steinernes, verblichenes Mahnmal des Sterbens. Ein Mausoleum, wo die Bewohner emotionalen wie moralischen Schimmel ansetzen und den Mauern gleich verrotten. Dagegen hilft auch keine Tasse Tee als britisches Allheilmittel. Ganz im Gegenteil.

Was den Schrecken auslöst

In solch köstlich-künstlicher Umgebung opulenter Tristesse ist eine von Guillermo del Toro und Matthew Robbins verfasste Gothic Romance angesiedelt, die „Rebecca“-Anleihen offenbart. Diese schaurige Story entwickelt sich dramaturgisch ausgesprochen langsam und kontrolliert. Edith und Thomas könnten füreinander bestimmt sein – auch wenn angedeutet wird, dass ihr Vater vor seinem Tod irgendetwas Unerhörtes über den mittellosen Landadligen herausgefunden hatte. Dennoch ist die gutherzige Edith ihm völlig zugetan, und Thomas scheint ebenfalls Zuneigung zu empfinden. Gibt es Hoffnung für ein Glück jenseits des Wahnsinns, oder ist die Zukunft durch die Vergangenheit bereits besiegelt? Del Toros zielgerichtete, extrem akkurate Regie lädt jeden Augenblick, ja jeden Blick mit Bedeutung auf, macht Handlung zum Symbol und Dialog zum Orakel. Einmal meint Edith, die gerade mit der altjüngferlichen Schriftstellerin Jane Austen verglichen wurde, sie wäre lieber wie Mary Shelley, eine bedeutende Gothic-Autorin; die ist als Witwe gestorben. Bekanntermaßen sollte man vorsichtig sein mit seinen Wünschen… Gleichwohl bleibt die Geschichte den klassischen Gothic-Elementen verhaftet, lässt wirkliche Originalität vermissen und zeichnet sich nie durch narrative Volten, unerwartete Subtexte bzw. Suprastrukturen aus. Obendrein hätte sie paradoxerweise selbst ohne Gespenster funktioniert! Was wie der Todesstoß für ein Horrorwerk anmutet, fällt bei „Crimson Peak“ bestenfalls im Nachhinein auf und zudem wenig ins Gewicht. Denn der Film beweist kraftvolle Inszenierungstechnik, bei der das Ganze mehr ist als die Summe einzelner filmischer Mittel. Hier wird die Architektur der Angst gefeiert.

Sobald die Logos der Produktionsgesellschaften tiefrot aufgeleuchtet haben und nach einer Weissblende eine Frau mit blutigen Händen auftaucht, die per Voice-over die Existenz von Geistern beglaubigt, schlägt sich wahrhaftig das Buch zu „Crimson Peak“ auf. Und es wird sich erst wieder schließen, wenn die anfängliche Impression eines gerade dem Tode entronnenen Menschen vom finalen Bild abgelöst ist: ein Gespenst, das sich auf eine Ewigkeit in Verzweiflung vorbereitet. Zwischen diesen Ansichten liegt ein Meer an cineastischer Üppigkeit, auch auf akustischer Ebene. Im Gegensatz zum präzis schockierenden Sounddesign kreiert der orchestrale Score von Fernando Velázquez eine Atmosphäre der Wehmut, jederzeit gefährdet, in Furcht umzuschlagen.

Kein Wunder, haben sich in ’Allerdale Hall’ nicht nur widernatürliche Verbrechen eingenistet, sondern auch übernatürliche Schreckensgestalten. Als blutige, sich in ständiger Auflösung befindliche Skelett-Schimären staksen, kriechen oder schweben sie durch den dämmerigen Landsitz, sind ebenso grotesk entstellt wie ihre Kunde. Lange vermag Edith sie nicht zu verstehen, zumal die Sharpes von der Präsenz jener hohläugigen Gespenster offenbar nichts bemerken. Wer hätte schon ahnen können, dass die wahren Monster aus zerfressenen Herzen und nicht aus sich zersetzenden Mauern entspringen?

Wer dem Schrecken begegnet

Erst mit Edith, die vor der Pforte sogleich ein Hündchen rettet, zieht eine Art Licht in die Schlossruine. Schon rein äußerlich unterscheidet sie sich mit blonder Lockenpracht und hellen, oft sonnengelben Kleidern von den Sharpe-Geschwistern und ihrer düsteren Behausung. Insbesondere Lady Lucille, der Jessica Chastain eine verstörende, zwischen Melancholie und Morbidität oszilierende Abgründigkeit verleiht, trägt theatrale Gewänder voller Insignien des Untergangs. Manche Zierborte, die sich wie Moder an ihr hinabschlängelt, erscheint als Fortführung der sie umgebenden, ebenfalls verwesenden Architektur. Garderobe als Pathologie. Dass Lucille angeblich Schmetterlinge mag, ’Allerdale Hall’ jedoch nur Nachtfalter beherbergt, spricht Bände. Wie anders die großzügige und freigeistige Edith, die in dem verkommenen Gemäuer zusehends vor sich hinzuwelken beginnt. Brillant verkörpert wird sie von Mia Wasikowska, einer Schauspielerin der Purheit. Ihre Figuren entkleidet sie aller Nichtigkeiten, dringt scheinbar mühelos zur charakterlichen Essenz vor, um ihr unaufdringlich klar und mit natürlicher Komplexität ein eigenes Leben als Dramengestalt zu verschaffen. Diese existiert autark und wird doch von Wasikowskas Kraft aufrechterhalten.

Als kongenialer Gegenpart erweist sich Tom Hiddleston. Ein Mann wie ein Aristokrat: mit eleganter Statur und einem Gesicht, das sich nicht über genehmes good-looking anbiedert. Vielmehr ist es mal Fassade eines vollendeten Gentleman, mal Maske über tief lodernder Passion oder Larve abscheulicher Obsession, dabei stets empfindlicher Spiegel einer facettierten Persönlichkeit. Bei ihm wird kultiviertes Understatement zu unangestrengter Galanterie.

Neben solcher Noblesse verblasst Charlie Hunnam als bodenständiger Augenarzt, der Arthur Conan Doyle nur wegen dessen medizinischen Schriften liest und seine Freizeit der Entlarvung von ’spirit photographs’ widmet. Er repräsentiert die bürgerliche Stimme von Aufklärung und Ratio, der das Drehbuch nur dezidierte Sympathie entgegenbringt und auffällig tonlos verhallen lässt. Dabei ist Dr. McMichael eigens aus Amerika angereist, nachdem er unfassbare Informationen über die Sharpes erfahren hat, um Edith beizustehen. Freilich muss er erkennen, dass die mutige, entschlossene Frau das selbst weitaus besser kann.

Warum der Schrecken niemals endet

In seiner schönsten Form ist Gothic phantasmagorische, an dämonischen Abgründen entlang balancierende Poesie. Guillermo del Toro kommt diesem Ideal mit „Crimson Peak“ ziemlich nahe. Er schafft es, ästhetisiert-subtile Mystery-Elemente mit Körperhorror zu kombinieren, und trotz exploitierender Verwendung der Blut-Symbolik eine intensive Gruselwirkung zu erzielen. Lady Lucilles Abendkleid ist eine Spur zu tiefrot, der Verlobungsring für Edith ein etwas zu großer Rubin, und wenn sich im Winter das Anwesen in eine Blutlandschaft verwandelt, während der rote Lehm durch den Schnee sickert, hat es sich seinen Beinamen redlich verdient: purpurner Gipfel. Dieser Ort ist an abartige Sündhaftigkeit gekettet, an Hass, Besessenheit und teuflischen Frevel – geboren aus einer monströsen Liebe, die nichts als Zerstörung hervorbrachte.

Tatsächlich sind die Lebenden, durch die der Gespensterspuk erst ausgelöst wurde, grausamer als die Toten. Sie müssen eine nachtfarbene Existenz im Verborgenen führen. „Menschen sind der wahre Horror.“, fasst es Guillermo del Toro zusammen. Und weil das stimmt, findet das Grauen nie ein Ende. Manche mögen davonkommen, vor Erinnerungen hingegen kann sich niemand retten. Die trägt jeder ganz allein als seine persönlichen Geister.

„Crimson Peak“ (U.S.A. 2015)
Regie: Guillermo del Toro
Darsteller: Mia Wasikowska,Tom Hiddleston, Jessica Chastain, Charlie Hunnam
Laufzeit: 119 Min.
noch im Kino; ab 1.4.2016 als DVD / Blu-ray

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

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