Der unwahrscheinliche Preisträger

Frank Witzels mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichneter Roman „Die Erfindung der Rote Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Jahr 1969“ ist ein so komplexes wie melancholisches Meisterwerk

Von Sascha SeilerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sascha Seiler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es war, natürlich, eine Sensation, dass Frank Witzel im Oktober für seinen Roman Die Erfindung der Rote Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Jahr 1969 mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet wurde. Bereits sein Vordringen auf die Shortlist wurde von vielen mit dem Werk des Autors vertrauten Künstlern und Journalisten als Betriebsunfall gewertet, wie seinerzeit ein Blick in die sozialen Medien verriet. Auch Witzel selbst zeigte sich davon überrascht, seinen Namen auf der Liste zu sehen. Bei einem Hausbesuch der Zeitschrift Spex vor der Bekanntgabe des endgültigen Preisträgers, winkt er lachend ab, als der Interviewer ihn fragt, was er denn zu tun gedenke, wenn er den Preis wirklich gewinnen würde. Niemand hat damit gerechnet, dass die Auszeichnung tatsächlich an den Wiesbadener Schriftsteller gehen würde, und das hat durchaus seine Gründe. 

„Die Erfindung“, wie Witzel mittlerweile den Journalisten anbietet, seinen Roman zu nennen, ist ein 800 Seiten starker Wälzer und so hermetisch, dass es für nicht geübte Leser auf den ersten Blick fast unmöglich ist, ihn zu durchdringen, und auch für Menschen, die sich intensiv mit Literatur beschäftigen, bleibt es schwierig. Auf der Buchmesse kursierte entsprechend eine Anekdote, das Buch sei von über 40 (die Zahlen variierten diesbezüglich) Verlagen abgelehnt worden, bevor Matthes & Seitz zuschnappte. Aus diesem Grund - und wegen der Abhängigkeit deutscher Buchkäufer von qualitätsversprechenden Etikettierungen - führte die Auszeichnung des Romans zu Episoden, die eine satirische Beschreibung nahelegen. Natürlich war auch Witzels Roman am Morgen nach der Verkündung überall ausverkauft; selbst in Dorfbuchhandlungen wurde man von älteren Damen, die selbst leer ausgegangen waren, ausgelacht, wenn man nach einem Exemplar fragte, in Großbuchhandlungen hingegen stand neben den endlos gestapelten Büchern der anderen nominierten ein Preisträger-Schild, das auf die Leere im Witzel-Fach verwies. Große Online-Versandhäuser versprachen, das vergriffene Buch werde bereits zwei Wochen später wieder erhältlich sein, und auf der Website des Verlags hieß es nur lapidar: „Derzeit nicht lieferbar“. Auf der Buchmesse hütete ebenjener Verlag, Matthes & Seitz, die mitgebrachten Exemplare mit Argusaugen. Man kam sich vor, als sei plötzlich ein neuer Harry-Potter-Roman in zu geringer Auflage über Nacht den Buchhändlern aus der Hand gerissen worden.

Die Frage war nur: Wer würde das lesen? Schon der kostenlose Download mit einer Leseprobe  des E-Books (das übrigens naturgemäß nicht ausverkauft war) enthielt gut 50 Seiten des Werks, so dass man während der Wartezeit auf die nächste Auflage (wenn man nicht zu den Glücklichen gehörte, die das Buch vor der Dürre erworben hatten) schon mal reinlesen konnte. Auch die Äußerungen des Autors auf der Buchmesse versprachen nicht gerade ein Lesevergnügen, sondern eher einen langen Kampf. Im Gespräch mit der ARD gab er dem Interviewer recht, als dieser vorschlug, dass man die 99 Kapitel vielleicht als eine Art verschiedener Kameraeinstellungen, bzw. Sichtweisen auf das selbe Objekt verstehen könne. Im Spex-Gespräch verglich der äußerst musikaffine Witzel das Buch wiederum mit einem DJ-Set, bei dem Szenen, ergo Kapitel, auf eine bestimmte Weise zueinander in Bezug gesetzt sind, wobei dies jedoch eine zufällige Anordnung sei, man es also auch anders hätte machen können. Ich würde das Buch mit viel gutem Willen eher als Puzzle bezeichnen, formal (nicht inhaltlich) vergleichbar vielleicht mit Georges Perecs Roman Das Leben. Gebrauchsanweisung, dem ja sogar ein echtes Puzzle beigelegt war. Der gute Wille sei deshalb erwähnt, weil man sich nicht unbedingt sicher sein kann, ob die Teile auch tatsächlich ineinandergreifen. Das hat der Autor allerdings auch niemals behauptet.

Worum geht es? Kurz zusammengefasst (was dem Roman großes Unrecht antut): Im Wiesbadener Stadtteil Biebrich wächst im Jahr 1969 ein Teenager heran, der offenbar zu manischer Depression neigt. Witzel sieht die von ihm beschriebene Phase der Jugend als diejenige an, in der man nicht mehr in einer Welt kindlicher Unschuld lebt, aber noch nicht den Schritt zum Erwachsenendasein getätigt hat, sich also in einer undefinierten Zwischenwelt aufhält, in der die Reliquien der Kindheit noch gerettet werden wollen und dennoch der Übergang in die Welt der Erwachsenen sehnsüchtig erwartet wird.  Der Protagonist bewegt sich in einer Welt zwischen Religion und Revolution, seine Gedanken kreisen zwischen den Polen des elterlich verordneten Katholizismus und dem Traum vom staats- und normzersetzenden Terrorismus. In mehreren mutmaßlich imaginierten Passagen, muss sich der Teenager Verhören aussetzen, in denen er als ‚Erfinder’ der RAF bezichtigt wird – als der er sich auch selbst sieht, hat er doch mit seinen Freunden eine Jugendgang gleichen Namens begründet … oder war es doch ganz anders? Der Alltag spielt sich zwischen Biebricher Vorstadtidylle, Psychiatrie und Erziehungsheim ab. Der langsame Verlust der Mutter und ihre schrittweise Ersetzung durch eine mysteriöse „Frau von der Caritas“ stehen ebenso im Mittelpunkt wie seine Schwärmereien für Claudia, seine Liebe zur Popmusik oder die Abenteuer seiner Jugendgang. Erzählt wird allerdings auf verschiedenen Zeitebenen, ausgehend von der Jetztzeit und seiner Beziehung zu einer gewissen Gernika, aber klar ist auch hier Vieles nicht. Wie so oft bei Psychiatrieromanen weiß der Leser nie, wie viel der Handlung sich nur in der Einbildungskraft des Protagonisten abgespielt hat, wann es sich um tatsächliche Erinnerungen handelt und wo sich beides überlappt.

Auch stilistisch zieht Witzel alle Register; die Vielfalt seiner Ansätze ist ebenso wahnwitzig wie erschöpfend. Fast jedes Kapitel weist eine andere Schreibweise auf, Gattungsgrenzen werden gesprengt, und auch sprachlich unterscheiden sich die 99 Teile erheblich voneinander. Mal erzählt der Autor mit melancholischem Duktus von einer verlorenen Jugend, mal schreibt er komplexe Traktate über den Glauben. Mal lässt er seinen Protagonisten endlose Verhöre ertragen, dann wieder integriert er pseudo-wissenschaftliche Studien über die Entnazifizierung der deutschen Sprache mit endlosen absurden Fußnoten. Ein Höhepunkt ist sicherlich ein seitenlanger Dialog mit einem Pfarrer, der dem Heranwachsenden seine Deutung jedes einzelnen Songs des Beatles-Albums „Rubber Soul“ aus theologischer Sicht mitteilt.

Auch bringt Witzel eine  Menge Lokalkolorit in die Handlung ein, wenn er minutiös seine Biebricher Umgebung beschreibt. Wenn man, wie ich, selbst jahrelang in Biebrich in unmittelbarer „Nachbarschaft“ des Protagonisten gewohnt hat, kann man feststellen, wie minutiös diese Gegend, vor allem die „Natur“, jene seltsame riesengroße Grünfläche „hinter der Autobahnunterführung“, auf der jährlich die Gibber Kerb stattfindet, eingefangen wird. Die Frage ist nur: Was fängt jemand damit an, dem dieser Ort gänzlich unbekannt ist? Gerade an diesen wunderbaren, melancholischen Passagen wird nämlich auch klar, dass Witzel das Buch wohl in erster Linie für sich selbst geschrieben hat, dass sein gewaltiges Formexperiment auch eine Art persönliche Erinnerungsleistung an die eigene Jugend ist, die allerdings aufgrund ihrer Einbettung in einer experimentelle literarische Form wieder Distanz erzeugt.

Man könnte noch weiter über dieses wunderbare Buch sprechen, seine narrativen Fallstricke hervorheben oder die waghalsigen formalen Experimente einzelner Kapitel. Was in der Diskussion jedoch immer wieder untergeht, ist die Tatsache, dass die Komplexität des Buches anders als etwa in James Joyces‘ Ulysses im Grunde eine scheinbare, weil für den Leser überwindbare ist. Lässt man sich auf die Struktur des Buches erst einmal ein und hat man akzeptiert, dass es nicht die Gesetze der Logik sind, welche die Kapitel zusammenhalten, und dass am Ende die ersehnte Auflösung nicht kommen wird, dann lässt es sich sogar mit großem Vergnügen lesen. Dann ist es auch nicht dramatisch, wenn jemand die theologischen Kapitel langweilig findet, ein anderer den Biebricher Lokalkolorit und ein Dritter das „Rubber Soul“-Album nicht kennt oder den Analysen des Priesters nicht folgen kann. Es geht, sofern man so etwas über ein so vielschichtiges Buch überhaupt sagen darf, vor allem um die Vermittlung eines  Gefühls: des Gefühls nämlich, das sich bei der Lektüre einer rekonstruierten Kindheit einstellt; wenn eigene Erinnerungen in den Szenen hochkommen und sich mit dem Beschriebenen untrennbar vereinen.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Frank Witzel: Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969. Roman.
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2015.
817 Seiten, 29,90 EUR.
ISBN-13: 9783957570772

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