Rainer Maria Rilkes „Das Stunden-Buch“

Eine dichterische Umdeutung des biblischen Gotteskonzepts

Von Alla SoummRSS-Newsfeed neuer Artikel von Alla Soumm

Rainer Maria Rilke begründete seinen dichterischen Ruhm mit den ineinander fließenden, hymnischen Gedichten des Stunden-Buchs. Der „Das Buch vom mönchischen Leben“ (1899)‚ „Das Buch von der Pilgerschaft“ (1901) und „Das Buch von der Armut und vom Tode“ (1903) vereinende frühe Gedichtzyklus, dessen drei Teile jeweils den drei Polen Russland, Westerwede und Paris entsprechen, wurde nach seinem Erscheinen 1905 zu Rilkes erstem großen Publikumserfolg. Doch muss diese Erfolgsgeschichte „angesichts des Charakters des Bandes, der nichts anderes als gedichtete Gebete (so auch der Arbeitstitel) enthält, der Rollenfiktion nach sämtlich gesprochen von einem russischen Mönch“, geradezu verwundern. Die Vermutung liegt nahe, dass „[a]uf dem Höhepunkt der Mystik-Rezeption und der Sehnsucht nach einem […] einfachen Leben […] sich viele Leser das Stunden-Buch – wie der Titel es ja nahe legte – als Laienbrevier einer pantheistischen Naturfrömmigkeit zu eigen mach[t]en“ (Sprengel, S. 112).

Von dieser im Gefühl der allumfassenden Religiosität schwärmerischen Aneignung des Gedichtbands zeugen auch zahlreiche wissenschaftliche Aufsätze, sodass der Eindruck entsteht, Rilkes Religiosität sei über jeden Zweifel erhaben. 1935 – drei Jahrzehnte nach der Erstpublikation – konstatiert die aus einer Pfarrersfamilie stammende Gertrud Bäumer, wie Rilke und damit vor allem das Stundenbuch „in die dogmatisch-theologische Auseinandersetzung hineingezogen werden“ (Bäumer, S. 37). Doch trotz verhaltener Kritik an solch vereinnahmender Rezeption verleiht Bäumer Rilke den ehrfurchtsvollen Titel „Beter“, die Verse seien eine „Verkündung“, ihr Autor „der tiefste, wahrhaftigste […] Frager unserer Zeit“ und seine Suche nach dem Göttlichem „die Voraussetzung einer lebendigen Religion“ (S. 51ff).

Noch 1949 muss Rilke von einer Germanistin, die seine in zahlreichen Briefen belegte Antichristlichkeit nicht länger ignorieren kann, vor dem Zorn der ‚Rechtgläubigen‘ in Schutz genommen werden, denn obgleich der Dichter in diesen Bezeugungen „eine ‚blasphemische Heftigkeit‘ an den Tag lege, […] wäre [es] seiner ganzen Natur so entgegengesetzt, wollte man ihn der Lästerung bezichtigen, […] [er] wird wohl ein Verwundeter sein, den seine Wunde schmerzt“ (Corbach, S. 20f). In Folge wird en détail dargelegt, welche fatalen Irrungen dem ‚Gottsucher‘ Rilke das irrtümlich missverstandene Christentum verleideten. Der Verdacht, es könne sich bei dem lyrischen Werk um den Ausdruck eines radikal-subjektiven Gestaltungswillens handeln, der im Erschaffen eines eigenen metaphysischen Modells konkrete Haltungen und Ansichten für das Diesseits formuliert und folglich mit einer christlichen Gottesvorstellung nur bedingt vereinbar ist, stellt sich dieser frühen Rezeption indes nicht.

Dagegen geschieht im Stunden-Buch genau das: Rilke bedient sich biblischer Motivik, um diese neuzudeuten. So fragt er nach dem Verhältnis zwischen Gott und Mensch – um ein nicht-biblisches Abhängigkeitsverhältnis zu konstruieren:

Bei genauerem, von der eigenen Religiosität ungetrübten Hinsehen stellt Rilkes Gott einen höchst subjektiven Entwurf dar, eine eigenwillige Variation der Gottesvorstellung, die mit keiner religiösen Lehre übereinstimmt und deswegen „nicht als Bekenntnis zum Christentum gelesen werden“ darf (Sprengel, S. 121). Rilkes Gottesvorstellung ist vielerlei: Einerseits ist sie einem monistischen Pantheismus verpflichtet, der in jedem Bruchteil der Schöpfung Gott zu erkennen glaubt („Ich finde dich in allen diesen Dingen,/ […] als Samen sonnst du dich in den geringen/ und in den großen gibst du groß dich hin“). Zugleich ist sie aber auch als ein offenes, an Widersprüchen reiches Modell konzipiert. So ist Gott „der Wald der Widersprüche“, „der Tiefste, welcher ragte,/ der Taucher und der Türme Neid“, nach dem der Suchende wie nach einem Schatz „in tiefen Nächten“ gräbt, ihn zugleich aber mit seinen vom Graben blutigen Händen „aus dem Raum“ saugen kann. Die Metapher der ‚Schatzsuche‘ für die Suche nach Gott offenbart bereits, dass Gott „has become a ‚treasure‘ to be brought to light“ (Freedman, S. 104).

Dieser Gott leuchtet also nicht in paradiesischen Höhen, sondern „[…] wie ich mich auch in mich selber neige:/ Mein Gott ist dunkel und wie ein Gewebe/ von hundert Wurzeln, welche schweigsam trinken.“ Diesen Gott muss das Individuum in sich selbst erforschen, indem es sich – in Einsamkeit und Dunkelheit Zuflucht suchend – in sich selbst versenkt. Zugleich ist dieses göttliche Dunkel ‚mutterleibähnlicher’ Natur („Du Dunkelheit, aus der ich stamme“), und wie ein „großes dunkelndes Gewicht“ zieht es den sich selbst Erforschenden noch weiter in die dunklen Tiefen der eigenen Persönlichkeit hinein. Folglich lebt Rilkes Gott – anders als der Gott der Bibel – „im Dunkel, manchmal in der Erde, öfters im Menschen […]. [D]iese Selbstfindung [aber] ist zugleich Gottesfindung“ (Destro, S. 179f).

Das Ungewöhnlichste an diesem Konzept des dunklen, schweigsamen, zu erforschenden und unbewussten Gottes – an dessen statt der Teufel als Nihilist („Lucifer/ […] am großen Glanz des Nichts“) „der Fürst im Land des Lichts“ sein darf, wo selbst er, am Nichts verzweifelnd, „nach Finsternissen fleht“ – ist jedoch dessen Nichtübereinstimmung mit solchen Hauptinhalten des Christentums wie der Schöpfung und der Erlösung durch Christus.

Beginnen wir mit der Christusfigur, dessen Bedeutung aus ihrer evidenten Bedeutungslosigkeit in Rilkes Gotteskonzept heraus leicht zu benennen ist: Christus ist in seiner Rolle als Vermittler zwischen Gott und dem Ich sowie als Erlöser der Sünden für Rilke uninteressant und deshalb absent. Das lyrische Ich des Stunden-Buches wendet sich in jedem der ‚gebetartigen‘ Gedichte direkt und intim an seinen dunklen Gott und bedarf so keines Vermittlers. Gleichzeitig kennt das metaphysische Modell der Gedichtsammlung kein Konzept der Versündigung. „Zum Göttlichen gehört für Rilke die Gestalt Jesu [also] nicht“ (Destro, S. 178).

Darüber hinaus ist Rilkes Gott genau das Gegenteil zum klassischen Schöpfergott: Nicht der Mensch hat ihm seine Existenz zu verdanken, sondern umgekehrt entsteht Gott erst im Menschen. So ‚besteht‘ Gott nicht vor allem Sein und ‚dauert‘ nicht seit ‚Anbeginn der Zeiten‘, sondern hat eine Geschichtlichkeit: „Du hast dich so unendlich groß begonnen/ an jenem Tage, da du uns begannst“; auch wünscht sich das Ich Gott „manchmal in [s]ich zurück/ in dieses Dunkel, das dich großgenährt“. Das Individuum ist die alleinige Lebensgrundlage Gottes, welcher vom einzelnen Menschen derart abhängig ist, dass das Ich angstvoll ausrufen muss: „Was wirst du tun, Gott, wenn ich sterbe?/ Ich bin dein Krug (wenn ich zerscherbe?)/ […] Bin dein Gewand und dein Gewerbe,/ mit mir verlierst du deinen Sinn.“

Mehr noch ist Gott nicht nur vielgestaltig, sondern für jeden, dem er sich offenbart, ein in seiner Einzigartigkeit einmaliger Gott: „Denn jedem wird ein andrer Gott erscheinen“. Und wie der Einzelne reift, reift auch „mit [s]einem Reifen/ […] dein Reich“. Ein derartiger Gott aber ist Ausdruck und Fundament der Individualität, denn er existiert jenseits des Individuums nicht. Als der Kern, als das Wesentliche jeder Individualität ist es nur folgerichtig, dass ein so verstandener Gott schon „in Tausenden verloren“ ging und als „[d]ie Wurzel Gott“ Früchte trägt.

Rilkes dichterische Umkehrung der Gottesvorstellung als eines Geschöpfes des Menschen dient jedoch einem bestimmten künstlerisch-literarischem Konzept:  ‚Gott‘ – der traditionelle Schöpfer, dem das lyrische Ich mit den Worten „Du bist der Mündige, der Meister/ und keiner hat dich lernen sehn“ huldigt – wird im genuin Rilkeschen Chiffre zu einer Metapher für ‚Kunst‘ als der tiefsten Einkehr in sich selbst und der anschließenden ‚Bergung‘ von künstlerischer Ideen und Innovationen: Das lyrische Ich, dessen „Tiefen niegebrauchter/ rauschender Worte mächtig sind“, „glaub[t] an Alles noch nie Gesagte“. In den literarischen Bildern des Stunden-Buchs erscheint Gott deshalb nicht nur als ein Geschöpf, sondern auch als ein Kunstwerk des Menschen. Das ‚In-Sich-nach-Gott-Graben‘ wird, auf die Realisierung der Ideen ausgeweitet, zum ‚An-Gott-Bauen‘. So erscheint das lyrische Ich des ersten Buches bereits als ein Künstler, ein Ikonenmaler, der den künstlerischen Dienst an Gott wie folgt charakterisiert: „Werkleute sind wir: Knappen, Jünger, Meister,/ und bauen dich, du hohes Mittelschiff./ Und manchmal kommt ein ernster Hergereister,/ […] und zeigt uns […] einen neuen Griff.“ Fast wie eine Hybris mutet dagegen dieser Ausruf an: „O wie o schön ich dich erschaffte/ […] in einer Hoffahrt meiner Hand“.

Gott als Chiffre für Kunst ist eine als innerstes Gesetz formulierte Aufforderung, sich selbst zu finden und künstlerisch auszudrücken: „eine Aufgabe, die einen religiösen Charakter hat, d.h. […] mit religiösem Ernst geleistet werden soll“ (Destro, S. 186). „Gott befiehlt“ dem lyrischen Ich, dass es „schriebe“, „male“ und „baue“; sein Auftrag an den Menschen lautet: „Gib mir Gewand“. Seinerseits verpflichtet sich das Ich aus freien Stücken, „dich immer [zu] spiegeln in ganzer Gestalt,/ […] [und] dein schweres schwankendes Bild zu halten“ – und dies gemäß dem eigenen Wunsch: „Ich will mich entfalten.“

Neben diesem eigenwilligen, buchstäblich individuellen Gotteskonzept gibt Rilke in seinem Stunden-Buch auch auf die Frage nach dem den Tod überdauernden Leben eine eigene, neuartige Antwort: Statt der „Gottgebärerin“ ist es die Gestalt des „Tod-Gebärer[s]“, die zu ewigem Leben durch Metamorphose führt:

Den Gott des Stunden-Buches beschreibt das lyrische Ich als „grenzenlose Gegenwart“ und verleiht zugleich dem eigenen Unglauben Ausdruck, „daß der kleine Tod,/ […] uns […] ernsthaft droht“. Nicht anders schreibt Rilke 1925 in dem sog. ‚Arbeiterbrief‘ an seinen polnischen Übersetzer: „Lebens- und Todesbejahung erweist sich als Eines […]. Der Tod ist die uns abgekehrte, von uns unbeschienene Seite des Lebens:[…] Die wahre Lebensgestalt reicht durch beide Gebiete, […] es gibt weder ein Diesseits noch ein Jenseits, sondern die große Einheit (Briefe, S. 896).

Im Stunden-Buch kreiert Rilke eine Opposition zwischen seiner Bejahung des Todes als eines organischen, das Sein konstituierenden Elementes und der unter Menschen verbreiteten Todesangst, die sich im Jenseitsglauben, in „Kirchen, welche Gott umklammern/ wie einen Flüchtling und ihn dann bejammern“ und im „Jenseitswarten und [dem] Schauen nach drüben“ sowie im von der Natur entfremdeten Leben in den Städten niederschlägt. Rilke warnt indes ausdrücklich davor, zur Deutung seines Werkes „katholische Begriffe des Todes, des Jenseits und der Ewigkeit“ heranzuziehen (Briefe, S. 899). In seinem kühnen Spiel mit dem „Welt-Bild[…]“ ist dagegen ‚Gott‘ –  das zur Kunst inspirierende, ewige Leben – „die Mutter und der Tod“, Entstehen und Vergehen zugleich sowie „die sich verwandelnde Gestalt“, „die ewige Metamorphose“ alles Seienden. Dieses „Rilkesche[…] Herzwerk der Verwandlung“ (Corbach, S. 34) negiert den Tod, das Vergehen ins Nichts oder in ein unbestimmtes Jenseits. Denn der Tod, den der Mensch in seiner Einmaligkeit genauso ‚gebiert‘, wie er Gott gestaltet, ist Verwandlung. Dabei verwendet Rilke die organische Vorstellung des individuellen ‚Tod-Gebärens‘: Der Individualität
des Einzelnen gemäß, dem stets ein anderer Gott erscheinen wird, bittet das lyrische Ich um „seinen eigenen Tod“.

Mit einem Beispiel solch einer Verwandlung im Tode schließt das Stunden-Buch: Den Tod des katholischen Heiligen Franz von Assisi künstlerisch umdeutend, entwirft Rilke die Endmetamorphose als ein mystisches Eingehen in die Natur:

Und ihn empfing das Große und Geringe.
[…] denn ihn erkannten alle Dinge
und hatten Fruchtbarkeit an ihm.

Und als er starb, so leicht wie ohne Namen,
da war er ausgeteilt, sein Samen rann
in Bächen, in den Bäumen sang sein Samen
und sah ihn ruhig aus den Blumen an […].

Damit stellt der für Rilkes Stunden-Buch zentrale Gottesbegriff eine radikale künstlerische Umdeutung der biblischen Begriffs- und Vorstellungstradition dar: Von Pantheismus beeinflusst, ist sein Gott wandelbar, „ein Wald der Widersprüche“ – und waltet nicht in hellen Höhen, sondern ist dunkel und tief und muss als vergrabener „Schatz“ aus den eigenen Tiefen ans Licht gebracht werden (Metapher des ‚Gott-Grabens‘). Im dem für Rilke typischen „Arsenal der religiösen Bildlichkeit“ (Sprengel, S. 125) wird damit die Gottesfindung aber zur eigentlichen Selbstfindung. Damit wird Gott im Menschen angesiedelt, wird erst von ihm erschaffen und ist fortan vor diesem als seinem „Haus“ und „Gewand“ abhängig. Folglich ist dies kein Schöpfergott, sondern umgekehrt eine Idee des Schöpfens, die der Einzelne in sich entstehen lassen muss. Eine Jesusfigur schließt Rilke aus diesem Modell aus, da sie, ob der direkten Ansprache des lyrischen Ich an Gott sowie ob des fehlenden Sündenbegriffs, in ihrer Rolle als Vermittler und Erlöser bedeutungslos geworden ist. Da Gott aber als der pantheistische „Wald der Widersprüche“ Tausende Gesichter hat, verkörpert er so, wandelbar und einmalig zugleich, die tiefe Individualität des Einzelnen. Damit instrumentalisiert Rilke die biblische Gottesvorstellung, um über Kunst und den Künstler zu sprechen: Sein ‚Gott‘ ist ein Chiffre für ‚Kunst‘ (Metaphern des ‚Gott-Bauens‘, ‚-Malens‘ und ‚-Schreibens‘) und ist zugleich als Schöpfung, ja als Kunstwerk des Menschen und als Kunstideal, nach dem der Künstler streben und dem er sich unterwerfen muss, zu verstehen.

Rilkes glühende Lebensbejahung und ganzheitliches Weltverständnis machen eine Jesusfigur auch deswegen überflüssig, weil sein lyrisches Ich den Tod, das Nichtsein und das Jenseits negiert und das Sein als ewig postuliert. Rilke entwirft eine organische Todesvorstellung als dem Sein zugehörig, die der Individualität des Einzelnen gemäß einmalig ist (Metapher des ‚Gott-Gebärens‘). Zugleich sind der sich verwandelnde Gott und der individuelle Tod Ausdruck des Lebens in ewiger Metamorphose. In diesem dynamischen Konzept bedeutet der Tod die Endverwandlung, die Rilke als ein mystisches Eingehen in die Natur stilisiert.

Verwendete Quellen
Rilke, Rainer Maria: Briefe. Wiesbaden 1950.
Rilke, Rainer Maria: Das Stunden-Buch. Frankfurt (M)/Leipzig 1972.

Verwendete Forschungsliteratur
Bäumer, Gertrud: „Ich kreise um Gott“. Der Beter Rainer Maria Rilke. Berlin 1935.
Corbach, Liselotte: Rainer Maria Rilke und das Christentum. Lüneburg 1949.
Destro, Alberto: „Der Gott des jungen Rilke“. In: Hans-Albrecht Koch/Alberto Destro (Hgg.): Rilke-Perspektiven. „aus einem Wesen hinüberwandelnd in ein nächstes“. Overath 2004, S. 173-189.
Freedman, Ralph: „Das Stunden-Buch and Das Buch der Bilder. Harbingers of Rilke’s Maturity“. In: Erika A. Metzger/Michael M. Metzger (Hgg.): A Companion to the Works of Rainer Maria Rilke. Rochester/NY 2001, S. 90-127.
Sprengel, Peter: „Die Entwicklung von Rilkes Lyrik im Zeitraum 1900-1918. Ein Überblick“. In: Hans-Albrecht Koch/Alberto Destro (Hgg.): Rilke-Perspektiven. „aus einem Wesen hinüberwandelnd in ein nächstes“. Overath 2004, S. 108-125.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz