Der Musterroman der Romantik

Manuel Zink gibt August Klingemanns „Romano“ neu heraus

Von Jürgen JoachimsthalerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jürgen Joachimsthaler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Er ist ein Klassiker, den kaum einer kennt. August Klingemann gehört zu den bedeutendsten, aber nicht zu den bekanntesten Autoren der deutschen Romantik. Sein berühmtester Text, die 1804 anonym erschienenen  Nachtwachen von Bonaventura, zählen zum Kernbestand des deutschen und europäischen Kanons, nicht aber der Name ihres Verfassers. Über die Autorschaft ist lange spekuliert worden, Jean Paul wurde genannt, Ludwig Tieck und E.T.A. Hoffmann. Als schließlich zweifelsfrei erwiesen war, dass der Verfasser der Nachtwachen August Klingemann heißt, hatte dies nicht zur Folge, dass sein Name gleichberechtigt neben dem seines Werkes Eingang fand in das allgemeine literarische Wissen. Noch immer sind die Nachtwachen von  Bonaventura bei Reclam im Angebot ohne seinen Namen auf dem Umschlag – dieser hat sich nicht als verkaufsfördernd durchgesetzt. Im Ergebnis blieb der Name August Klingemann ein Name für Spezialisten. Und auch bei diesen hatte er lange keinen guten Ruf, allenfalls seine Leistungen als Direktor des Braunschweigers Hoftheaters wurden anerkannt. Der Schriftsteller Klingemann jedoch galt als unorigineller Nachahmer minderen Ranges. Seit Klärung der Verfasserschaft an den Nachtwachen steht jedoch eine Überprüfung dieses Urteils an.

Dass nun bei Wehrhahn sukzessive einzelne Werke Klingemanns neu und in bezahlbarer Broschur erscheinen, kommt dem entgegen. Nach zwei Theaterstücken und einer Sammlung theatertheoretischer Schriften ist die bisher bedeutendste Neuausgabe der Roman Romano, im Original erschienen in zwei Bänden 1800 und 1801. Entstanden in Jena, im Umfeld Clemens Brentanos, auf dessen Godwi vielfach angespielt wird, erfüllt dieser Roman mit dem poetologischen Titel die programmatischen Ansprüche der Jenenser Frühromantik geradezu mustergültig, ohne dass Klingemann zu deren engeren Kreis direkten Zugang gehabt hätte – lediglich zu Brentano, in Jena eher eine Randfigur, stand er in engem Kontakt.

Der Name des Titelhelden Romano ist bewusst gewählt – in allegorischer Verkleidung ist seine Geschichte zugleich die des Romans und damit jener alles in sich vereinenden Literaturgattung, in deren noch unverwirklichter künftiger Gestalt alle bisherige Literatur universalpoetisch aufgehen soll. Das Werk ist so zugleich ein Roman der Poesie selbst. Klingemann kannte Friedrich Schlegels Athenäums-Fragmente und versuchte, jenen Text zu schreiben, den die Jenenser Ästhetik nur entwarf (Schlegels Lucinde hat sich nicht als gelungene Umsetzung etablieren können, Novalis’ Heinrich von Ofterdingen blieb Fragment). Er ist angefüllt mit allen Versatzstücken zeitgenössischer Romane wie unbekannte Herkunft des Helden, Liebe, Kunsterlebnis, protestantische Faszination für die ästhetisch „schönen Poesien des Katholicismus“ und des – erotisch aufgeladenen – Madonnenkults. Hellsichtig nimmt er noch gar nicht entwickelte Techniken romantischen Malens vorweg. So schreibt Romano, zeitweise von der Poesie zur Malerei wechselnd, in einem Brief:

Es ist seltsam, daß ich weniger das Leben mahle als das Werden und die Ahnung; ich spiele oft mit den bunten Farben und sehe ihnen zu wie sie durcheinander laufen und sich eine in der andern verliehren – ich glaube, ich schikte mich eher zum Farbenmischer als zum Mahler und wer weiß ob ich nicht eine ganz neue Farbe erfunden hätte.

Die Handlung führt von Italien nach Deutschland und bedeutet für Romano einen Weg der Selbsterkenntnis und Selbstwerdung. Doch nicht die Handlung macht den Roman aus. Er reflektiert ständig sich selbst, Geschehnisse wiederholen sich in spiegelverkehrter Manier und führen schon auf Ebene der erzählten Ereignisse zu ins Endlose verweisenden Selbstreflexionsschleifen. Romano erscheint sein eigenes Leben, als er dieses erzählt, „wie ein Drama, worinn er bis jezt erst den ersten Akt durchgespielt hatte“, die „ganze Handlung erschien ihm nur allegorisch“, also nicht um ihrer selbst willen geschehen. Sie wird – bei tendenziell chronologischer Abfolge – nicht einfach sukzessive erzählt, sondern durch einen steten Wechsel der Textform und Erzählperspektive gebrochen. Der Roman setzt sich zusammen aus verschiedenen Fragmenten, Briefen, Skizzen, Binnenerzählungen, reflektierenden Abschnitten über Kunst, Gedichten und einer dramatischen Einlage. Die Handlung dient nur als Vorwand für die Aufsplitterung des Textes in ein Mosaik, ihre scheinbare Klischeehaftigkeit ist tatsächlich ein bewusstes Spiel mit Handlungserwartungen des Lesers, der eben nicht primär eine Ereigniskette vorgesetzt bekommt, sondern sein Wissen um deren erwartbar schematischen Ablauf einsetzen muss, um das Textganze als auch sein Werk zu (re-)konstruieren. Der Leser ist – der romantischen Ästhetik entsprechend – selbst der erweiterte Autor und wird bewusst in diese Rolle gebracht. Nicht umsonst heißt es ebenso deutlich wie anspielungsreich über die Figurengruppe des Laokoon, es „gehört Selbständigkeit und Phantasie dazu das Werk zu genießen, wer die nicht hat, für den bleibt es immer eine tote Steinmasse“.

Der gegen Klingemann lange erhobene Vorwurf fehlender Originalität erweist sich als Verkennung seines Einsatzes zeitgenössischer Leseerwartung, die er nicht befriedigt, sondern voraussetzt und nutzt – und so zugleich für den Leser selbst durchschaubar macht. Mehr noch als auf der Handlungsebene wird dies sichtbar auf der Ebene des Textbestandes selbst, denn dieser ist voller intertextueller Anspielungen auf alle bedeutenden zeitgenössischen Werke von Goethe bis Schlegel, von Schiller bis Tieck und von Jean Paul bis zu Brentano. Man kann den Text lesen als Collage zeitgenössischer Literatur. Der Roman will so nicht nur ein Roman des Romans und der Poesie sein, er will auch, entsprechend der Programmatik der romantischen Universalpoesie, eine umfassende Synthese leisten, indem er sich zusammensetzt aus dem literarisch verfügbaren Material seiner Zeit. Dies geschieht nicht in verstecktem Zitat, sondern in offenem intertextuellen Anklang (bei häufiger Nennung von Namen und Titeln). Er ordnet so die Literatur seiner Zeit zu einem neuen Ganzen, dessen letzte Vollendung scheinbar dem Leser überlassen bleibt, tatsächlich aber bereits in der ausgeklügelten Gesamtkomposition angelegt ist – ein Verfahren, dessen nur scheinbare Nicht-Originalität in seiner tatsächlichen Originalität postmodern geschulten Lesern bekannt ist aus Patrick Süskinds Das Parfum, von dem in der Kritik zu lesen war, es setze sich fast nur aus Zitaten zusammen. Die freilich werden durch die Art, in der sie miteinander kombiniert werden, verstärkter Reflexion ausgesetzt und ergeben in ihrer Gesamtheit ein Neues, dessen Gesamtheit ein verändertes Licht zurückwirft auf die Elemente, aus denen es besteht.

Klingemann leistet mit all dem nicht mehr und nicht weniger als die Umsetzung literarisch-ästhetischer Reflexion um 1800 und den Musterroman der Jenenser Frühromantik. Dass er letztere nicht gegen Schiller und Goethe ausspielt, sondern „Klassiker“ und „Romantiker“ gemeinsam als Teil derselben literarischen Strömung betrachtet, in die er sich selbst stellt, entspricht durchaus dem zeitgenössischen Wahrnehmungshorizont: Noch war die „Romantik“ nicht als eigene Schule etabliert, der Gegensatz zwischen „klassisch“ und „romantisch“ nicht formuliert, die Abhängigkeit des Jenenser Kreises von Schillers Ästhetik und Goethes Schreibweise offenkundig genug, dass Gegner der zeitgenössischen Literatur wie Garlieb Merkel sie alle zusammen als eine einheitliche Größe angreifen konnten. Klingemann bezieht offen für sie Partei, inhaltlich, aber auch in der Entscheidung für die fragmentarische Form oder das in den literarischen Debatten der Zeit heftig umstrittene Sonett.

In den reflektierenden Passagen trägt Klingemann die Grundaussagen der Ästhetik und Poetik seiner Zeit zusammen: Die moderne Poesie befände sich in einem „beständigen Progress“, „in der Kunst allein ist die ächte und reine Realität“, das Fragment wird zur Inkarnation des Ganzen, „der Torso, kühn vollendet“ zum wahren Meisterwerk. Freilich erweist sich der Autor schon hier als ein Synthetiker, der über das hinausblickt, was er zusammenträgt. Inmitten eines nicht beendbaren Gesprächs über die Kunst äußert ein Mädchen in deutlicher paradoxaler Umkehrung aller vorgetragenen Ansichten: „Nach meiner Meinung besteht Kunst in dem großen Geheimnisse durch Alles, Nichts auszudrücken“. Die Totalität des ästhetischen Individuums erweist sich für dieses selbst als Gefahr:

Es ist mir als schwebte ich oben über dem Ganzen und stellte chemische Prozesse in der Geistwelt an; ich trenne und vereinige, bald burlesk, bald groß und kühn wie es mir die Laune eingiebt und bin Meister in der Kunst des Amalgamirens; aber mein eigenes Selbst geht dabei zu Grunde und verliert sich in die Allgemeinheit meiner Geschicklichkeit.

Die Neigung zu sich selbst übersteigenden Reflexionsschleifen, wie sie seit Immanuel Kants Transzendentalphilosophie Mode geworden waren, führt nicht nur zu Erkenntnisgewinn: „Oft thürmen sich die Reflexionen in mir empor und schweben eine über der andern, so daß ich zuletzt allen Grund verliehre, und erschrocken auffahre, wie einer der im Traume von einem hohen Thurme herabzustürzen wähnt“. Hier deutet sich bereits der – ebenfalls auf einer großen Synthese der Literaturströmungen seiner Zeit beruhende – Pessimismus und Nihilismus der Nachtwachen an. Im Romano freilich versucht Klingemann noch eine positive Synthese – wenn diese auch durch ihre Fragmentarizität und ihre Collagenhaftigkeit durchsichtig genug angelegt ist, um immer wieder Durchblicke auf jenes dem Wahnsinn und der Verzweiflung nahe Dunkel zu erlauben, dem sich Handlung und Reflexion in diesem frühen Roman noch entgegensetzen.

In einem instruktiven Nachwort erklärt der Herausgeber Manuel Zink werkbiografische Zusammenhänge und gibt wertvolle erste Hinweise für das Verständnis des Textes. Eine detaillierte Interpretation kann er auf beschränktem Platz schon allein deshalb nicht ausführen, weil dazu in einem ausführlichen Stellenkommentar erst einmal all die intertextuellen Anspielungen vollständig aufgeschlüsselt werden müssten, ehe sie in Bezug zueinander gesetzt werden können. Eine an ein breiteres Publikum gerichtete, leserfreundliche Neuausgabe kann dies, will sie bezahlbar bleiben, gar nicht leisten. Ihr großes Verdienst liegt darin, den Text überhaupt wieder zugänglich gemacht zu haben. Die Philologie wird sich noch lange an ihm abzuarbeiten haben.

Titelbild

August Klingemann: Romano.
Mit einem Nachwort herausgegeben von Manuel Zink.
Wehrhahn Verlag, Hannover 2015.
295 Seiten, 19,80 EUR.
ISBN-13: 9783865254450

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