„Deutlichkeit“ im Kunstlosen?

Davide Giuriato untersucht einen Leitbegriff der deutschen Aufklärung

Von Carsten RastRSS-Newsfeed neuer Artikel von Carsten Rast

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wie gelangt man zu klaren Gedanken? Heinrich von Kleist rät in seinem berühmten Aufsatz Zur allmählichen Verfertigung der Gedanken beim Reden (1805/06) zu einer Gesprächssituation ohne wirklichen Dialog. Gerade ein stummer Zuhörer provoziere dazu, grundsätzlich verworrene Vorstellungen beim Reden zu präzisieren. Doch ist die Artikulation dabei alles andere als deutlich. Der Sprecher verwendet Füllwörter und dehnt beim Entwickeln des Gedankens das Gesagte durch Beifügungen. Rhetorisch überzeugend wirkt dies bei Kleist also kaum, da ein Vorgang des Nachdenkens sinnfällig wird, der das Verständnis des Gedankens eher erschwert. Er ist nicht simultan in Sprache übertragbar. Das Aussprechen kommt dem ursprünglichen Gedanken nur nahe, repräsentiert ihn jedoch nicht vollständig. Unverkennbar tritt bereits bei Kleist die Deutlichkeit eines Gedankens zur undeutlicheren sprachlichen Äußerung in ein Spannungsverhältnis. Umschrieben wird ein fundamentaler Bruch zwischen Gedanke und Sprache.

Davide Giuriato legt mit seiner Habilitationsschrift „klar und deutlich“. Ästhetik des Kunstlosen im 18./19. Jahrhundert eine ausführliche Untersuchung zum Begriff der Deutlichkeit vor. Dabei belegt die Studie die Transformation eines wichtigen und theoretisch verankerten Begriffs durch die anbrechende literarische Moderne (Georg Büchner, Adalbert Stifter). Über eine Verschränkung von Philosophie, Ästhetik und Rhetorik des 18. und 19. Jahrhunderts vermittelt Giuriato einerseits das „Spannungsverhältnis im Leitbegriff der deutschen Aufklärung“. Andererseits drücke sich durch ihn ein weiterhin bestehendes modernes Verstehens- und literarisches Darstellungsbedürfnis aus. Was Deutlichkeit ist, enthüllt sich nicht letztgültig theoretisch oder literarisch. Wo die Philosophie nach Kant den Begriff fallen lässt, nimmt ihn die Literatur zwar auf, thematisiert ihn aber offen und schafft dabei neue Spannungen. Hierbei findet nach Giuriato eine Umformung von Deutlichkeit als einem binären Distinktions- zu einem singulären Mangelbegriff statt. Neben die begriffliche Unterscheidung von ‚deutlich‘ und ‚undeutlich‘ trete das übergeordnete Problem nicht erreichbarer Klarheit in der literarischen Darstellung. Die Arbeit greift dabei den seit Hugo Friedrich profilierten Topos der Dunkelheit ‚moderner‘ Werke gegenüber vormodernen auf.

Die Untersuchung gliedert sich in drei größere Abschnitte. Ziel des durchaus voraussetzungsreichen Bandes ist der Entwurf einer „Ästhetik der Deutlichkeit“ im ersten Kapitel. Sie wird anschließend in den Kapiteln zwei und drei illustriert an Georg Büchner und Adalbert Stifter, deren Bemühen um Klarheit, so Giuriato, in einen maßlosen Beschreibungsrausch führe, der wiederum ein „störendes Zuviel an Klarheit“ produziere. Die Textauswahl greift ein aktuelles Forschungsparadigma auf, in dem beide Autoren als unmittelbare Vorgänger der Moderne gesehen werden. Büchners Rhetorik und Stifters Beschreibungen dienen gleichermaßen als Ausweis für eine moderne „Krise der Repräsentation“, die gegen eine einfache ‚Sprachskepsis‘ für das 19. Jahrhundert profiliert wird. Den Bruch zwischen Gedanke und Zeichen überführt die Studie in eine klare Formel. Behandelt werden unter anderem Büchners philosophische und naturwissenschaftliche Schriften sowie sein literarisches Werk. Bei Stifter wird vor allem der Hochwald als Gegenentwurf zum Nachsommer diskutiert. Ergänzend zieht Giuriato auch den Bericht von der Sonnenfinsterniß am 8. Juli 1842 heran.

Ein Verdienst des Bandes ist die ausführliche Rekonstruktion der Begriffe „Deutlichkeit“ und „Klarheit“ im Wechselverhältnis rhetorischer, philosophischer und ästhetischer Ansprüche. Klarheit profiliert die Studie als Oberbegriff, während deutliches Sprechen als eine Annäherung an ihn spezifiziert wird. Giuriatos Entwurf einer Ästhetik der Deutlichkeit verschränkt dabei begriffliche und epistemologische mit darstellungstechnischen Fragen. In einem historisch-systematischen Abriss der Begriffsgeschichte ergeben sich jedoch permanente Bedeutungsverschiebungen. Ausgehend vom Stilbegriff der Rhetorik führt die Untersuchung die philosophische Umcodierung in eine Stilistik des Denkens vor. Diese vollziehe sich über den variierenden Ausschluss und Rückbezug auf rhetorische Argumentationsmittel. Deutliches Sprechen gilt als höchste rhetorische Tugend. Sprache enthüllt ihren Mangel dabei jedoch stets als „geschmückte Deutlichkeit“, da sie beim Sprechen auf Redeschmuck (ornatus) angewiesen ist. Letztlich gelingt es der Studie nachzuweisen, wie Rhetorik, Philosophie und Ästhetik das Problem einer sprachlichen Realisierung von Deutlichkeit teilen. Es geht darum, wie stark die Mittel zur deutlichen Wahrnehmung zurück oder in den Vordergrund treten sollen, um epistemisch überzeugend und anschaulich zugleich zu sein. Unterschiedliche terminologische Grenzen zwischen Logik und Ästhetik führen so von einem generalisierenden zu einem partikularen Deutlichkeitspostulat.

Eine bereits im Titel ausgewiesene „Ästhetik des Kunstlosen“ begreift Giuriato als Reaktion auf die sich im 19. Jahrhundert weiter verstärkende Säkularisierung. Der Verlust einer metaphysisch bestimmten Begründung des Seins fasst er als epochalen Repräsentationsverlust des Sprachlichen. Durch möglichst objektive, genaue Beschreibung und eine formelle Einfachheit der Darstellung werde dies zu kompensieren versucht. In dieser vermeintlichen Kunstlosigkeit identifiziert die Studie eine eigene Ästhetik. Sie kennzeichne eine „zwielichtige[] Praxis ‚mehr-als-deutlich‘ zu reden“. Sowohl Georg Büchner als auch Adalbert Stifter machten hiervon jedoch Gebrauch. Dabei zeigt sich eine umfassende schriftstellerische Annäherung an das Phänomen als kritische Reflexion aufklärerischer Maximen.

Wie Giuriato in seiner Studie nachweist, befindet sich Büchner auf einer Scharnierstelle zwischen frühromantischem Denken und (natur)wissenschaftlichem Zeitalter. In atheistischer Abkehr von metaphysischen Konzepten (Descartes/Spinoza) und einer idealistischen Ästhetik profiliere sich Büchners Deutlichkeitsverständnis nach Giuriato im zweiten Kapitel als „radikalrealistische Poetik“. Die physische Arbeit des Arztes werde einerseits als literarisches Verfahren, als ein objektiv-anatomisches Schreiben in Dienst genommen. Über eine sezierende Genauigkeit entstehe andererseits ein empathischer Mehrwert des Sprachlichen. Dieser zeige sich, in Anlehnung an die frühromantische Dramentheorie, am Begriff der „Drastik“ besonders in Dantons Tod. Vor allem für Lenz sowie Leonce und Lena weist Giuriato eine „Poetik des Dokumentarischen“ nach. Literarische wie wissenschaftliche Texte Büchners markieren gleichermaßen ihr Bemühen als auch einen auf diese Weise sichtbar werdenden mangelhaften Überschuss im Drastisch-Deutlichen. Büchner als anatomischer Dichter weise über eine Drastik der Worte auf die Kontingenz des gerade erst anbrechenden wissenschaftlichen Zeitalters hinaus.

Stifters Texte dagegen verortet Giuriato im Spannungsfeld einer epigonal-klassischen Ästhetik und dem naturwissenschaftlichen Denken des 19. Jahrhunderts. Einerseits ständen seine Werke, abgesehen vom Frühwerk, in Ordnung, Übersicht und der Ablehnung von Übertreibung und Hässlichem der Weimarer Klassik in nichts nach. Andererseits drücke sich im nüchternen Beschreibungsstil und der extremen Detaillierung eine fundamentale Spannung aus. Über die detailreiche Wirklichkeitsdarstellung und poetische Verklärung zeige sich ein Mangel im Zuviel an Deutlichkeit. Das Ganze verliere sich in einen detailreichen „Differenzierungsfuror“. In paradoxer Anleihe an die klassische Ästhetik erscheine die Wirklichkeit grundsätzlich nicht länger als einfach erfahrbar, sondern nur noch als approximatives Ziel, zu erreichen über Mittel der Kunst. Ein Sinn der Dichtung kann jedoch nur noch „erinnert und zitiert, aber nicht mehr erfüllt werden“. Eine Durchsichtigkeit der Texte auf die Wirklichkeit kennzeichne Stifter als unmöglich. Durch die extreme Reduktion dichterischen Schmucks werde dabei das scheinbar Kunstlose kompensierend zur Maxime erhoben.

Diese Ästhetik des Kunstlosen als ein „Schein des Kunstlosen“ nicht nur über einen Stilbegriff, sondern grundsätzlich auch über eine ethische Funktion zu entwerfen, ist eine weitere Leistung des Bandes. Stifters nüchtern-sachlichen Blick fasst Giuriato als formale Strategie einer „teilnahmslosen Gelassenheit“ auf. Harmonie werde letztlich durch das Subjekt erzeugt, dem eine ethische Praxis der Affektökonomie und Disziplinierung zur Adaption vorgeführt werde. Als Kontrast hierzu profiliert Giuriato die Erzählung Der Hochwald, indem auch der mit technischen Hilfsmitteln vermittelte Wirklichkeitszugriff misslänge. Die Welt mache sich deutlich bemerkbar, sei aber stets nur undeutlich eingeschränkt wahrnehmbar. Stifters Text führe in diesem Sinne eine Immunisierung einer Innen- gegen eine Außenwelt vor. Als ein an den Leser gerichtetes Therapeutikum regen Stifters Texte, wie Giuriato schlüssig nachweist, so ein Ethos der Selbstbeherrschung an. Schreiben wird zugleich erfahrbar als Arbeit des Subjekts an sich selbst gegen die Erfahrungen der Moderne.

Giuriatos Untersuchung ist gut geschrieben und der Autor setzt sich darin differenziert und  kenntnisreich mit einer wichtigen Begrifflichkeit auseinander. Die geringe grafische Überschriftenabsetzung im Buch mag der intentionalen These vermeintlich kunstloser Deutlichkeit entsprechen. Für die dennoch geringfügig gestörte Orientierung im Text entschädigt dafür jedoch der klare Argumentationsaufbau. Deutlichkeit ist literarische Erarbeitung im Sinne der Aufklärung, dies weist die Studie gewinnbringend nach. Zugleich legt sie den Finger auf einen stets tradierten Mangel, vor allem auch im Vokabular. So wird der Begriff verzeitlicht, Klarheit nur in permanenter Annäherung greifbar und ins Unendliche verschoben.

Titelbild

Davide Giuriato: „klar und deutlich“. Ästhetik des Kunstlosen im 18./19. Jahrhundert.
Rombach Verlag, Freiburg 2015.
403 Seiten, 58,00 EUR.
ISBN-13: 9783793097976

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