Verstörende Freiheit

Clemens J. Setz erzählt Till Eulenspiegels Streiche nach

Von Helmut SturmRSS-Newsfeed neuer Artikel von Helmut Sturm

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Tile Ulenspegel, der zum Helden des spätmittelalterlichen Volksbuches wurde, wurde in Kneitlingen am Elm geboren und starb 1350 zu Mölln in Lauenburg. Ihm wurden zahlreiche Geschichten zugedichtet, die schließlich 1515 zusammen mit Holzschnitten unter dem Titel „Ein kurtzweilig Lesen von Dyl Ulenspiegel“ in einer niederdeutschen Ausgabe in Straßburg gedruckt werden. Diese Historien entwickelten sich zu einem europäischen Bestseller, wobei die diesem beigegebenen Holzschnitte auch ungeübten Leserinnen und Lesern Unterhaltung garantierten.

500 Jahre nach der ersten Ausgabe verhält sich das nicht anders. Die Nacherzählungen von Clemens J. Setz sind illustriert von Philip Waechter, der bereits 2006 mit dem Eulenspiegelpreis der Stadt Schöppenstedt ausgezeichnet wurde. Seine Gestaltung des Bandes lässt einen zunächst das Lesen vergessen, hat man doch genug zu schauen. Die Illustrationen sind in der Farbgebung freundlich, in der Zeichnung raffiniert-naiv und in der Auswahl der dargestellten Szenen geheimnisvoll-herausfordernd. So verleiten die kolorierten Zeichnungen zum Lesen, ohne ihren eigenen Wert unter den Scheffel zu stellen.

Das Original enthält 96 Historien, aus denen der österreichische Nacherzähler 30 ausgewählt hat. Setz versucht dabei, den Abwechslungsreichtum des Volksbuches wiederzugeben und nennt als Hauptkriterium der Auswahl in seinem klugen und informativen Nachwort die „Wahrung eines ausgewogenen Verhältnisses bekannter und unbekannter Geschichten“. So entsteht – wie im Urtext – eine Folge von Erlebnissen und Unternehmungen der Mittelpunktfigur Eulenspiegel, die sich in einem losen biografischen Zusammenhang befinden. Die Geschichte reicht von „Till Eulenspiegels Geburt und seiner dreifachen Taufe“ bis „Eulenspiegels Beerdigung“. Das ergibt eine Art Biografie eines Menschen, den Erich Kästner in seinen Nacherzählungen als „einen Zirkusclown“ beschreibt, „der durch Deutschland zog und, wohin er auch kam, Unfug anstellte“. Eulenspiegel ist bei Kästner zwar widerständig („Er wollte nicht, dass die anderen über ihn lachten. Sondern er wollte über die anderen lachen.”), aber letztlich doch ein harmloser Spaßmacher. Ein ganz anderes Bild Eulenspiegels ergibt sich aus den Geschichten, die Setz nacherzählt.

Ja, auch bei Setz begegnen wir dem Mann, der Befehle wörtlich befolgt und so den Unterschied zwischen dem, was Leute sagen, und dem, was sie meinen, auf lustige Art verdeutlicht. Wir treffen auch den listigen Burschen, der die Verhaltensweisen von Mächtigen und Ohnmächtigen gleichermaßen bloßstellt. Daneben gibt es aber auch die Geschichten, die  Setz „obskur“ nennt, in ihnen tritt uns ein Mensch gegenüber, der Tiere quält, Arme und Kranke malträtiert und tut, was ihm gerade einfällt, koste es, was es wolle. Setz bezeichnet diesen Eulenspiegel im erwähnten Nachwort als „Alien“,  „Soziopathen“, „Arschloch“ und „Herbergsgast from hell, der in das Haus braver und anständiger Menschen Unruhe, Chaos und Zerstörung bringt”.

Tatsächlich hinterlassen die „Dreißig Streiche und Narreteien“ den Leser verstört. Hier ist man nicht bloß mit einem entlaufenen Zirkusclown wie bei Kästner oder einem harmlosen Schelm wie in Schullesebüchern konfrontiert. Die Possen sind nicht nur artiger Schabernack, sondern vielfach Unternehmen zum Schaden und Spott eines anderen, wobei zusätzlich irritiert, dass diese nur manchmal etwa durch Rachsucht oder Böswilligkeit motiviert sind, sondern mitunter ohne jede ersichtliche Motivation geschehen. Insofern, als dass Eulenspiegel macht, was ihm gerade durch den Kopf geht, ist er tatsächlich die freieste Figur der deutschen Literatur. Das meint zumindest Clemens J. Setz.

Der Nacherzähler nimmt sich nur wenige Freiheiten im Umgang mit der Vorlage. Die Texte folgen den Historien recht genau, Setz improvisiert nur „um den Erzählkern herum, Angaben zu Wetter, Land und Leuten, kurze Reflexionen und Fantasien und die eine oder andere nie mehr als drei vier Zeilen lange Szene, in der etwas weitergesponnen oder zu Ende gedacht wird“. Das Ergebnis liest sich frisch und verstörend zeitgemäß. Die Groteske als Ausdruck einer disharmonischen Welt spricht heute ebenso an wie am Übergang zur Neuzeit. Sie ist Ausdruck der Krise eines geordneten Kosmos, damals wie heute. Setz erinnert mit diesen Nacherzählungen an einen Urtyp grotesker Figurenzeichnung, die gerade auch in der österreichischen Literatur der letzten hundert Jahre von Franz Kafka bis Max Blaeulich immer vertreten war. Es lohnt sich wirklich, dieses Buch für Erwachsene wiederzuentdecken. Der Untertitel der Ausgabe von 1515 gilt noch immer: „Ein kurtzweilig Lesen von Dil Ulenspiegel“.

Titelbild

Philip Waechter / Clemens J. Setz: Till Eulenspiegel. Dreißig Streiche und Narreteien.
Nacherzählt von Clemens J. Setz und mit Illustrationen von Philip Waechter.
Insel Verlag, Berlin 2015.
149 Seiten, 16,00 EUR.
ISBN-13: 9783458200147

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