Freischwimmer

Friedrich Kittlers frühe Schriften aus dem Nachlass

Von Stefan HöppnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Höppner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Auch im westdeutschen Wirtschaftswunder waren Lahr und Niederrimsingen nicht der Mittelpunkt der Welt. Das erste eine melancholische Kleinstadt südlich von Offenburg, damals Heimat von Roth-Händle und Europahauptquartier der kanadischen Streitkräfte, das zweite ein kleines Kaff am Kaiserstuhl, ganz am Rand der Republik, dessen größte Attraktion sein Baggersee ist und war. Beides sind Ursprungsorte des Denkers Friedrich Kittler (1942 – 2011), des wohl einflussreichsten deutschen Medientheoretikers der letzten Jahrzehnte. Im südbadischen Lahr aufgewachsen, zog sich Kittler während seines Freiburgers Studiums immer wieder mit Freunden an den Baggersee zurück, zum Denken, Entspannen und Diskutieren und wohl auch, um Erfahrungen mit diversen Rauschmitteln zu machen.

Das Buch Baggersee ist dagegen eine Sammlung aus etwas mehr als 100 kurzen Texten, die Kittler zwischen 1963 und Mitte der 1970er-Jahre schrieb. Nach seinem Tod 2011 wurden sie von den Herausgeberinnen Tania Hron und Sandrina Khaled  in seinem Nachlass im Deutschen Literaturarchiv in Marbach entdeckt. Offenbar handelte es sich um ein recht umfangreiches Konvolut: Von mehr als 1000 Seiten ist im Vorwort die Rede. Datiert waren sie nicht, die Entstehungszeit ließ sich nur aus den erwähnten Texten, Filmen, Songs und den Erinnerungen von Kittlers Freunden und Weggefährten erschließen. Wie also zu einer sinnvollen Anordnung kommen? Khaled und Hron haben sich zu einer unorthodoxen Variante entschlossen, nämlich zur alphabetischen Anordnung nach den Überschriften, die Kittler den kurzen Essays offenbar beigab – dass sie wohl keine Hinzufügung der Herausgeberinnen sind, erschließt sich aus den seltenen Momenten, in denen sich die Texte direkt aufeinander beziehen. Das Ergebnis wirkt einerseits willkürlich, denn die Nähe von „Schlaflosigkeit“, „Schmutz“ sowie „Schönes, Erhabenes und Husserl“, um nur die Titel dreier aufeinanderfolgende Essays zu nennen, ist keineswegs zwingend. Man fühlt sich an die „Denkbilder“ Walter Benjamins, vor allem an seine Einbahnstraße (1928) erinnert, aber auch Theodor W. Adornos Minima Moralia (1951) scheinen als Vorbild durch. Dabei fragt sich allerdings, wie viel von diesem Eindruck sich den Entscheidungen der beiden Editorinnen verdankt.

Dass Baggersee von der Auseinandersetzung mit und vom Überschreiben von Vorbildern handelt, ist offensichtlich. Khaled und Hron zitieren aus „Brilliant Pebbles“ (1991), einem ungedruckten autobiografischen Vortragsmanuskript, in dem Kittler sich über seine frühen Schreibversuche äußert: „Bis in den Satzbau hinein geriet das Ganze zu einem einzigen Hegel-Pastiche. Diesen Stil hat erst die sogenannte Studentenrevolution revolutioniert: nicht durch den Satzbau von Karl Marx, der ja seinerseits auch nur ein Hegel-Pastiche war, sondern durch die Stile von Pink Floyd und Michel Foucault.“

Unabhängig davon, wieviel Prozent Hegel oder Foucault man im einzelnen Text ausmachen will: Das Schöne an diesem Buch ist, dass man jemandem beim Denken zusehen kann, bei der nicht zu unterschätzenden Arbeit, sich gleichermaßen von Vorbildern und Hassgestalten freizuschwimmen. Letzteres meint sowohl die konservative Germanistik der 1960er-Jahre als auch ihren damaligen Gegenpol, die Kritische Theorie. Wenn Kittler ablehnend von der „Germanistik des Menschen“ spricht, klingt das Pathos der Schlusspassage von Foucaults Ordnung der Dinge durch, die „den Menschen“ schlechthin als Denkfigur, als „Erfindung“ des 19. Jahrhunderts bezeichnet, die bei einer Veränderung der historischen Bedingungen verschwinden könne „wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand“. Kittlers Zorn meint aber im Grunde etwas anderes: eine ideologisch enthaltsame Germanistik, die ihr früheres Engagement für die falsche Sache dadurch zu bemänteln suchte, dass sie von einer überzeitlichen conditio humana, allenfalls einem „abendländischen Kulturerbe“ sprach, die mit den Niederungen der Politik angeblich nie etwas zu schaffen gehabt hatten.

Gleichzeitig ist Baggersee der Versuch, Neuland für das Denken zu erschließen. Das geschieht zunächst eher auf thematischer als auf stilistischer Ebene, etwa indem Kittler demonstrativ über damals im akademischen Betrieb verpönte Gegenstände des Alltags oder der Popkultur schreibt, über Schamhaar, Papageien, Pop Art, Jimi Hendrix und Pink Floyds Songzyklus The Dark Side of the Moon (1973), zeitlebens eine seiner wichtigsten Inspirationsquellen.

Wie Kritik, Revision und Aufbruch ineinandergreifen, zeigt exemplarisch der Text „Flipper“. Schon der erste Satz ist ein überschriebenes Zitat aus Friedrich Schillers Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen (1795): „Wenn der Mensch nur dort ganz Mensch ist, wo er spielt, so wird auch er, wenn sein Mitspieler Automat ist, zum Unmenschen.“ Das ist nicht nur ein Sakrileg gegen Schiller als Schutzpatron des „abendländischen Menschen“, zumal als autonomes, selbstbestimmtes Subjekt. Auch der heute schon wieder anachronistisch gewordene Gegenstand des Textes bedeutet einen Affront gegen die Kritische Theorie und ihre Abneigung gegen Entertainment und Kulturindustrie, nicht jedoch gegen ihren Weggefährten Walter Benjamin, der hier in den von Kittler genannten „Chocs der Großstadt“ präsent ist (man beachte die Schreibweise für „Schock“, die direkt  aus Benjamins „Kunstwerk“-Essay entnommen scheint).

Das sind die Koordinaten, an denen sich Kittler abarbeitet, und in der Regel gerinnt dieses Sich-Abarbeiten nicht zum Selbstzweck. Beachtenswert an seiner Methode ist, dass er mit ihr oft zu genuin neuen Erkenntnissen gelangt:

Die Kugel wird nie ewig im Spiel bleiben […] Bloß durch ein Reaktionstempo, das sich dem des Automaten sklavisch anschmiegt, erlangt der Spieler nicht sowohl den Sieg als die verzögerte Niederlage, die die Registrierkasse des Flippers dann als Sieg ausgibt. Automato non nisi parendo quodammodo vincitur. Solches Parieren erzwingt der Flipper und die Macht, die hinter ihm steht. Sie ist die gleiche, die den Menschen darauf dressiert, Autos auszuweichen.

Kittler erkennt im vermeintlichen Zerstreuungs- ein „Trainingsgerät“, was sich darin zeigt, „dass jedes Spiel bezahlt werden muss und dass Gewinn bloß darin besteht, sich weiter trainieren zu dürfen. Nicht zufällig stehen in Spielsälen neben den Flippern die elektronischen Gewehre, die auf Pappkameraden schießen.“ Das angeblich triviale Alltagsobjekt wird zum Mikrokosmos der Gesellschaft, vor der er Zuflucht zu bieten verspricht. Wie Kittler sich wohl über die Playstations und Wii Us der Gegenwart geäußert hätte?

Viele dieser Texte sind tatsächlich „brilliant pebbles“ – funkelnde Kiesel im Wasser. Nur in seltenen Momenten scheinen Sprache und Duktus etwas zu groß für ihren Gegenstand. Dann bekommen die Texte etwas Etüdenhaftes und sind kaum mehr als die „half a page of scribbled lines“, von denen Pink Floyd singen. Aber das sind sie eben auch: Vorübungen für größere Arbeiten. Einiges von Kittlers späteren Gegenständen ist hier zu besichtigen. Medien und Medialität spielen bereits eine große Rolle. Als einer der ersten denkt Kittler beispielsweise über die Effekte von Verstärkeranlagen auf Musiker und Publikum bei Popkonzerten nach. Noch nennt er sie nicht den „kreativen Missbrauch von Heeresgerät“, neu ist aber, dass er sie nicht nur als passive Elemente bei der Reproduktion ohnehin vorhandener Klänge sieht, wie der Name „Verstärker“ nahelegt, sondern als Mittel zur Erzeugung von Ekstase bei Publikum und Musikern, die zum Objekt der von ihnen benutzten Technik werden. Wer allerdings eine Proto-Version von Kittlers wohl einflussreichster Monographie erwartet, seiner Habilitationsschrift Aufschreibesysteme 1800/1900 (1985), wird enttäuscht werden. Dafür ist die Sammlung thematisch zu heterogen, was sie aber nicht weniger anregend macht.

Wenn es überhaupt etwas an diesem erhellenden Bändchen zu kritisieren gibt, dann das etwas zu schlanke Vorwort von Hron und Khaled. Nach welchen Kriterien wurde die Auswahl getroffen? Sind alle Texte von Kittler selbst betitelt? Was weiß man über den konkreten Schreibprozess? Und wie zwingend ist der Name des Buches eigentlich? „Am titelgebenden Baggersee in der Nähe Freiburgs“, schreiben Hron und Khaled, „sind die in diesem Buch versammelten Texte vielleicht nicht geschrieben, jedoch teilweise ersonnen und diskutiert worden. Gedanken, die Friedrich Kittler in den Essays formuliert, sind von den Themen inspiriert, über die im Kreis der sonnen- und theoriehungrigen Freunde gesprochen wurde.“ Der See als arkadischer Gegenpol – oder Gegenpool? – zu Freiburgs Kollegiengebäuden I bis IV? Woher wissen die Herausgeberinnen, was sie hier berichten? Und wenn sie es wissen, warum stellen sie es nicht ausführlicher und genauer dar? Vielleicht erklärt sich die Auslassung aber auch daraus, dass diese Texte Teil einer 30-bändigen, ausführlich kommentierten Kittler-Werkausgabe sein werden, die in den nächsten Jahren entstehen soll. Dann kann man hoffentlich auch „Brilliant Pebbles“ lesen, den nur im Vorwort anzitierten Text, der aber mindestens ebenso neugierig macht wie die hier versammelten Essays.

Titelbild

Friedrich Kittler: Baggersee. Frühe Schriften aus dem Nachlass.
Wilhelm Fink Verlag, Paderborn 2015.
232 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783770559688

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