Verlieren, Suchen, Finden

Benedict Wells leuchtet in seinem neuem Roman subtil die Spannungen zwischen den Kindheitserinnerungen und der gelebten Gegenwart eines 40-jährigen Mannes aus

Von Anna StemmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anna Stemmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mit seinem mittlerweile vierten Roman mit dem Titel „Vom Ende der Einsamkeit“ nimmt Benedict Wells erneut ein für ihn zentrales Thema in den Blick: die Konstruktion und Revision des Selbstbildes einer seiner Hauptfiguren. Wie in den vielbeachteten Vorgängern „Becks letzter Sommer“, „Spinner“ und „Fast genial“ rückt wieder ein junger Mann beziehungsweise ein jung gebliebener männlicher Protagonist in den Fokus. Aus der Mitsicht Jules Murneaus folgt die Erzählung der plakativen Frage nach dem Verlauf des eigenen Lebens: „Was sorgt dafür, dass ein Leben wird, wie es wird?“ Dass diese Frage aber natürlich doch keine eindimensionale Antwort zulässt, zeigt das facettenreichen Geflecht von Kindheit, Jugendzeit und Erwachsenenleben, das der Roman entfaltet. Denn die Vielschichtigkeit eines Lebensverlaufs inszeniert Wells auch in der erzählerischen Ausgestaltung als ein sich permanent durchdringendes Knäuel von Gegenwart und Vergangenheit.

Die Erzählung beginnt zunächst mit dem Aufwachen von Jules im Krankenhaus. Er hatte unter mysteriösen Umständen einen Motorradunfall und forscht in seiner Erinnerung, wie es dazu kam: „Erst sind die Erinnerungen nur unscharf, doch während der nächsten Stunden werden sie präziser.“ In seiner Spurensuche geht er weit zurück in längst verschüttet geglaubte Erlebnisse, wobei sich diese Reise durch die Erinnerungen immer mehr zur Suche nach seinem eigenen Selbstbild entwickelt. Er berichtet vom Familienleben als siebenjähriger Junge, den beiden älteren Geschwistern Liz und Marty, dem plötzlichen Unfalltod ihrer Eltern und ihrem Aufwachsen im Internat. Das erzählte Ursache-Wirkungsgefüge spannt so einen weiten zeitlichen Rahmen auf, in dem der Tod geliebter Menschen den verbindenden Knotenpunkt der unterschiedlichen Zeitebenen markiert und seinen Unfall als gescheiterten Selbsttötungsversuch erahnen lässt. Am Tod arbeitet sich der Ich-Erzähler konsequent ab: „Ich kenne den Tod schon lange, doch jetzt kennt der Tod auch mich“, hält er bereits in seinem ersten Satz fest. Die daraus resultierende Einsamkeit findet sich an prominenter Stelle im Titel und wird im weiteren Verlauf leitmotivisch auserzählt. Dass diese Einsamkeit dabei ganz unterschiedliche Dimensionen streifen kann, zeichnet der Lebensverlauf von Jules nach und Wells schichtet diesen zum fragilen Geflecht der Erinnerungen auf: die Einsamkeit ohne Eltern im gefühlskalten Internat, die Entfremdung von den eigenen Geschwistern, das Unvermögen, sich auf eine Beziehung einzulassen.

Unvermittelt überlagern sich die erinnerten Episoden immer wieder mit seinem gegenwärtigen Ich im Krankenhaus, wobei das Spannungsverhältnis von erzählter Vergangenheit und Gegenwart stets präsent bleibt. Jules erinnert sich etwa daran, bereits als Kind ein leidenschaftlicher Beobachter und Bewahrer von Erinnerungen gewesen zu sein, die er nun im Hier und Jetzt virtuos arrangiert. Von seinem siebten Lebensjahr ausgehend rollt die Erzählstimme chronologisch die wichtigsten Stationen in seinem Leben auf. Indem diese Rückblicke jedoch von kurzen Episoden im Krankenhaus unterbrochen und in die erzählte Gegenwart zurückgeholt werden, entwickelt sich ein vielschichtiges Konstrukt aus vergangenem und gegenwärtigem Erleben.

Sukzessive wird über die Rückblenden in die Vergangenheit dann auch die Ursache für den Unfall aufgedeckt und verbindet die früheren Ereignisse weiter unauflöslich mit dem gegenwärtigen Erzählstandpunkt des erwachsenen Ichs von Jules. Wichtige Gelenkstelle in diesem Erinnerungsgefüge ist der frühe Verlust der Eltern, die zunehmend unterkühlte Beziehung zu den beiden älteren Geschwistern und die zunächst nicht erfüllte Liebe zur Mitschülerin Alva. Wie sich Jules dieser Lücke und den verheerenden Dimensionen der Einsamkeit stellt und diese – entsprechend des Titels – schließlich auch beenden kann, fängt Wells in seinem gewohnt sicheren und bisweilen, trotz der dramatischen Ereignisse, unterhaltsamen Erzählton ein.

Titelbild

Benedict Wells: Vom Ende der Einsamkeit. Roman.
Diogenes Verlag, Zürich 2016.
366 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783257069587

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