Das ist keine Erzählung, das ist nur ein Protokoll

Die „Tocotronic Chroniken“ sind eine gewichtige Werkschau eines popkulturellen Gesamtkunstwerks

Von Manuel BauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Manuel Bauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In einem Song der zweiten Platte der Hamburger Musikgruppe „Tocotronic“ von 1995 heißt es, scheinbar frühadoleszent-authentisch, tatsächlich aber schon hier tief gespalten und durchweg konstruiert: „Ich hab 23 Jahre mit mir verbracht / Und in 23 Jahren hab ich mich nie mit mir verkracht / Manchmal frag ich mich, wie hab ich das gemacht“. 2016 besteht nun auch die Band schon seit 23 Jahren, und man darf annehmen, dass die sanft und in Würde angegrauten Musikanten (von denen nicht bekannt ist, dass sie sich jemals miteinander verkracht hätten) sich fragen, wie sie das denn bitteschön gemacht haben.

Weiter heißt es in besagtem Stück: „Ich bin zu jung um meine Biografie zu schreiben / Und zu alt um ewig jung zu bleiben“. Zu alt, um ewig jung zu bleiben, waren sie ohnehin von Anfang an. Zu jung, um ihre eigene Biografie zu schreiben, sind Tocotronic noch immer. Ganz abgesehen davon, dass man den Bandmitgliedern wohl unterstellen darf, dass ihnen das eigenhändige Schreiben der eigenen Geschichte reichlich suspekt wäre. Ganz gemäß einem viel später entstandenen Motto – „Was Du auch machst, mach es nicht selbst“ – haben sie ihre, nun ja, Biografie schreiben lassen. Allerdings stellt der von Martin Hossbach in Zusammenarbeit mit der Band herausgegebene Prachtband „Die Tocotronic-Chroniken“, wie zu Recht im Vorwort betont wird, gerade „keine klassische Band-Biografie“ dar, „sondern eine Montage aus Bildern und Texten, aus Archiven und Interpretationen“. Die Geschichte der Band wird nicht eigentlich erzählt. Vielmehr wird der Leser eingeladen, selbst eine solche Erzählung auf der Grundlage der in geradezu überwältigender Fülle aufgebotenen Materialien zu konstruieren. Von unveröffentlichten Fotos über Abbildungen von Flyern, Plakaten und Merchandise-Artikeln bis hin zu faksimilierten Zeitungs- und Magazinberichten sowie Notizen zu Songtexten wird dem geneigten Fanatiker, Pophistoriker und angehenden Tocotronologen ein Füllhorn an Devotionalien und Spezereien geboten, das zwar bei Weitem nicht vollständig, aber äußerst anregend ist.

Neben den Fundstücken aus dem Archiv der Band sind Interviews mit den Musikern, vor allem aber Essays des Journalisten und Poptheoretikers Jens Balzer zu jedem der nunmehr elf Studioalben enthalten, von der Polaroid- und Garagen-Ästhetik des epochalen Debüts „Digital ist besser“ (1995) bis zum selbstbetitelten „Roten Album“ von 2015. Diese Essays sind nie definitorisch festlegend, kaum vollständig im Erfassen aller Anspielungen und Bedeutungspotenziale, meist assoziativ, teilweise brillant und stets in der Lage, dem jeweils sich in Schall und Wort manifestierten vorgestellten Stadium der Bandgeschichte neue Horizonte hinzuzufügen oder vorhandene Ahnungen kompetent und kenntnisreich zu vertiefen. Der Leser, der mit kursorischer Lust oder aus fanatischem Komplettismus durch diesen Wald aus Zeichen flaniert, vollzieht mithin die (in ihren Grundzügen jedem, der sie kennen wollte, selbstverständlich längst hinlänglich bekannte) Geschichte von Tocotronic in einer bisher kaum möglichen Breite und Detailfülle nach.

Tocotronic wurde 1993 von Arne Zank, Jan Müller und Dirk von Lowtzow gegründet, musikalisch geprägt von deutschem Punk und englischsprachigen Formationen wie beispielsweise The Fall, Sonic Youth oder Dinosaur Jr. (dass vor allem in frühen Presseartikeln immer wieder auch Nirvana als Vergleichsgröße angeführt wurde, ist zwar nicht völlig abwegig, entspringt aber eher dem damaligen Zeitgeist und einer gewissen Hilflosigkeit). Weniger mit ihrer schrammeligen Lofi-Musik als mit ihren Texten brachten die drei jungen Herren einen neuen Sound in die deutsche Indierockszene und speziell die sogenannte „Hamburger Schule“ ein. Sie kleideten sich in eine Art Nerd-Uniform aus alten Trainingsjacken, Werbe-T-Shirts und abgetragenen Cordhosen, trugen asymmetrische Frisuren und proklamierten, die Fahrradfahrer, Tanztheater und Backgammon-Spieler dieser Stadt zu hassen oder Teil einer Jugendbewegung sein zu wollen – wie sie überhaupt eine große Zahl hinreißender Slogans ersannen, die nicht nur bei ihren jugendlichen Anhängern, sondern auch im Feuilleton bald Kult-Status erreichten. Dass dabei von jeher ein gerüttelt Maß an Inszenierung, Humor und postmoderner Zitatkultur im Spiel war, wurde nicht immer hinreichend verstanden, so dass die Musiker nach drei in rascher Folge veröffentlichten Platten, die allenfalls rudimentäre musikalische und lyrische Weiterentwicklungen aufwiesen, geradezu als Role-Models für eine jugendbewegte Gegenkultur jenseits der gängigen Rock’n’Roll-Breitbeinigkeit gelten konnten.

Mit dem vierten Album „Es ist egal, aber“ (1997) begannen dann die Versuche, sich solchen Vereinnahmungen zu entziehen, forciert auf „K.O.O.K“ (1999) und zu einem Höhepunkt geführt auf dem sogenannten „Weißen Album“ von 2002, das nicht nur mit einem komplett veränderten Sound aufwartete, sondern auch mit dem (seinerseits zum Slogan gewordenen) Vers „Eins zu eins ist jetzt vorbei“. Mit dem Einstieg von Rick McPhail als zweitem Gitarristen wurden die Arrangements komplexer, ohne die Punk- und Indie-Wurzeln aus den Augen zu verlieren. Die Texte auf den seither erschienenen Alben „Pure Vernunft darf niemals siegen“ (2005), „Kapitulation“ (2007), „Schall und Wahn“ (2010) und „Wie wir leben wollen“ (2013) suchen häufig die Abkehr vom Narrativen, spielen mit dem Hermetischen, umkreisen das versponnen Märchenhafte oder erträumen sich eine musicalhafte Grandezza. Bei weitem nicht alle Anhänger konnten der hakenschlagenden, sich immer weiter verrätselnden lyrischen und musikalischen Entwicklung hin zum Dandytum und lustvollen Manierismus folgen. Das „Rote Album“ markierte nicht allein das 20-jährige Jubiläum der Veröffentlichung der ersten Platte, es zeigte auch, dass mit Stillstand weiterhin nicht zu rechnen ist, ohne dass mit jedem Album eine kleine Revolution einhergehen muss: ein an den Britpop der Achtziger angelehntes Konzept-Album über die Liebe und pubertäre Träume war von einer „erwachsen“ gewordenen Musikgruppe nicht zwingend zu erwarten – aber man kann, wie von einem Song dieser Platte zu lernen ist, den Erwachsenen ohnehin nicht trauen.

Während zahlreiche wichtige Sänger und Texter deutschsprachiger Bands mittlerweile zu Romanciers geworden sind – allen voran natürlich der große Sven Regener (Element of crime), aber auch Jochen Distelmeyer (Blumfeld), Markus Berges (Erdmöbel) oder jüngst Thees Uhlmann (Tomte) –, hat es Dirk von Lowtzow bislang unterlassen, ins Fach der Erzählprosa zu wechseln. Das wäre bei der Lowtzow’schen Skepsis gegenüber Erzählungen auch verwunderlich. Dabei gefällt es Tocotronic immer schon, sich auf dem unendlichen literarischen Zitatespielplatz zu tummeln. Um nur eine bescheidene Auswahl von Referenzgrößen zu nennen (zu denen sich Exponenten der vom legendären Merve Verlag verbreiteten Theoriediskussion, Filmemacher und natürlich Fix und Foxi nebst anderen Comic-Figuren gesellen), die in ihren Texten anklingen: Thomas Bernhard, Marcel Proust, H. P. Lovecraft, William Faulkner, Gustave Flaubert, Hubert Fichte, Herman Melville, Vladimir Nabokov, William Shakespeare, Joris-Karl Huysman, André Breton, George Bataille. Eine veritable Ruhmeshalle. Aber stets weniger als Vorbild denn als intertextuelles Mosaiksteinchen, das sich mit anderen Anspielungen, offensiven oder versteckten, zu einem flottierenden Bild anordnet, das Momente der Hoch- mit denen der Popkultur bis zur Ununterscheidbarkeit verbindet. Das ist vielleicht eine der größten Leistungen von Tocotronic: Sie kommen nicht derart bedeutungsschwanger und gravitätisch intellektuell daher wie die Kollegen von Blumfeld, laden dabei aber nicht weniger zu kulturtheoretischen und – auch das – politischen Reflexionen ein. Dies alles aber stets mit feiner, gar nicht immer leiser Ironie und Distanz zur eigenen Rolle, die, wer will, stets als Rolle zu begreifen und zu hinterfragen aufgefordert ist.

Einem derart schillernden popkulturellen Phänomen in einem solchen Buch zu huldigen, ist nicht frei von Risiken. Wird hier eine verfrühte Musealisierung betrieben? „Eure Liebe tötet mich“ singt Dirk von Lowtzow im gleichnamigen Song von 2010, und ein Buch wie das vorliegende kann allzu leicht etwas zu viel der tödlichen Liebe enthalten. Und zugegeben: Kritische Stimmen sind unter den versammelten Materialien nicht eben zahlreich vertreten, die Essays aber sind nicht von einem Schwärmer verfasst und diskutieren legendäre Anekdoten wie die der verweigerten Preisannahme des Viva-Cometen durchaus differenziert. Die kluge Entscheidung für die Polyphonie und gegen eine klare Erzählerstimme verhindert, dass eine ungebrochene Hymne angestimmt wird. Und als wäre es gewollt: Am Ende ist das Buch dann doch Fragment geblieben. Der geneigte Fan wird den einen oder anderen Fehler finden, und wieso das Remix-Album „KOOK Variationen“ und „Kapitulation Live“ keine eigenen Essays erhalten, wird nicht erklärt – schon gar nicht, wieso das Live-Album in der Discografie rätselhafterweise überhaupt nicht auftaucht. Unvollständigkeit mag Programm sein, ist hier aber wohl eher mangelnder Sorgfalt als übergeordneten Überlegungen zuzuschreiben. Bedauerlich ist auch, dass einige der enthaltenen Presseartikel, gerade aus der frühen Phase, nicht genau datiert werden – ein Buch, das Nerds im fortgeschrittenen Stadium anspricht, muss sich an solchen Petitessen durchaus messen lassen. Doch stärker als die Lücken wiegen die enthaltenen Preziosen: frühe Texte von Kristof Schreuf, Wiglaf Droste oder dem jungen Benjamin von Stuckrad-Barre etwa, die nicht nur spannende Dokumente für die allgemeine Verfasstheit der Popkultur der 1990er-Jahre, sondern auch nach zwei Jahrzehnten noch mit großem Erkenntnisgewinn lesbar sind.

Obgleich dieser Begriff der Band Unbehagen bereiten mag: Die versammelten Materialien im Dialog mit den analytischen Passagen lassen die Musik, die beständige Arbeit am Sound, die außerordentliche Lyrik, die Gestaltung der Plattencover, die gekonnte, selbstironische Selbstinszenierung und die gesamte Entwicklung der Band von der vermeintlich identitätsstiftenden Ich-Maschine zum alle Referenzen verweigernden, hochartifiziellen Tricks(t)er als ‚Gesamtkunstwerk‘ erscheinen. Wer sich mit der Geschichte, der Ästhetik und dem umfassenden Kosmos dieser noch immer ausnehmend klugen, aufregenden, unpeinlichen und erstaunlicherweise trotzdem deutschen Band beschäftigen möchte: Das große Buch liegt schon bereit.

Titelbild

Martin Hossbach / Jens Balzer: Die Tocotronic Chroniken.
Blumenbar Verlag, Berlin 2015.
384 Seiten, 49,90 EUR.
ISBN-13: 9783351050207

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