Überraschung nach der Testamentseröffnung

In Christa Heins Roman „Der Glasgarten“ verstrickt sich die Protagonistin in Familiengeheimnissen

Von Liliane StuderRSS-Newsfeed neuer Artikel von Liliane Studer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Alles beginnt mit einem Anruf. Julie, die Protagonistin in Christa Heins Roman „Der Glasgarten“, erfährt, dass ihre Mutter einen Schlaganfall erlitten habe und nun im Krankenhaus liege. Hals über Kopf bricht sie auf in ihre Heimatstadt. Die Mutter lebt noch, doch bereits am nächsten Morgen – die Nacht hat Julie in der Wohnung ihrer Mutter auf dem Sofa verbracht – ruft sie der behandelnde Arzt an und teilt ihr mit, dass die alte Frau einen weiteren Schlaganfall erlitten habe und danach gestorben sei. In Ruhe eingeschlafen, ohne zu leiden. Sie habe noch einen Vogel gesehen vor dem Fenster, sonst aber nichts mehr gesagt.

Julie ist von dieser Nachricht geschockt, funktioniert aber weiter: Sie beauftragt ein Bestattungsunternehmen und überlegt sich, wie sie den Tod ihrem im Altenheim lebenden Vater beibringen soll, dessen Erinnerungsvermögen getrübt ist. In der Wohnung, die ihr vertraut und fremd zugleich ist, sucht sie, das einzige Kind, nach etwas, das ihr die Mutter hinterlassen haben könnte, findet aber nichts außer der Visitenkarte einer Kanzlei, die sie umgehend anruft. Die Anwältin bittet sie, möglichst bald vorbeizukommen, am Nachmittag habe sie noch einen Termin frei. Julie ist angespannt, obwohl sie eigentlich nichts Außergewöhnliches erwartet, schon gar nicht hat sie mit dem gerechnet, was ihr die Anwältin eröffnet. Dass Julie die Wohnung und den gesamten darin befindlichen Besitz erbt, scheint normal. Doch dann liest die Anwältin weiter vor: „Der restliche Besitz – mein Schmuck im Bankschließfach sowie das Sparguthaben – soll zu gleichen Teilen Julie und Florence, meiner älteren Tochter aus der Zeit vor meiner Ehe, zukommen.“ Von Florence, einer Halbschwester, hat Julie bis zu diesem Augenblick noch nie gehört. Als ihr die Anwältin ein Bild eines Mädchens vorlegt – „Ihre Mutter hat mir das Bildchen erst vor kurzem vorbeigebracht mit der Bitte, es Ihnen zu geben“ –, zweifelt sie keinen Moment, das Mädchen muss die Tochter ihrer Mutter sein.

Julie überlegt nicht lange. Sie will diese Frau und ihre Geschichte kennenlernen und beauftragt die Anwältin, nach ihrer Halbschwester zu suchen. Die findet dann auch eine Adresse, doch der Brief, den Julie geschickt hat, kommt zurück, ein Anwalt in Frankreich – in diesem Land soll Florence leben – bleibt ebenso erfolglos in seinen Bemühungen. Was liegt also für Julie näher, als selber aufzubrechen. Sie fährt los in Richtung Normandie, wo das Cottage steht, das die Schwestern ebenfalls geerbt haben sollen. Auf ihrer Reise trifft Julie auf schwarze Gestalten, Türen werden ihr vor der Nase zugeschlagen, und ihr ehemaliger Freund Fabian ist in dunkle Geschäfte verwickelt.

Was wohl als rasante Irrfahrt einer jungen Frau auf den Spuren ihrer eben verstorbenen Mutter und deren Geheimnis gedacht ist, entpuppt sich als zäh zu lesende, sich langsam dahinschleppende, trockene Geschichte. Die Protagonistin tappt in manches Fettnäpfchen, sie lässt sich vom schönen Guillaume verführen und wird erst später erkennen, wie kalkuliert sein Vorgehen war. Sie übersieht, in welch erbärmlichem Zustand sich Fabian befindet, und verkennt, wie es um ihre Halbschwester steht. Doch ein ungeheurer Aktivismus bemächtigt sich ihrer: Sie will die (Familien-)Ordnung wiederherstellen.

Während sie also in der Normandie vorerst erfolglos umherfährt, ist sie in regelmäßigem Kontakt mit ihrem Vater. Das ist neu, hat sie ihn doch bis zum Tod ihrer Mutter eher selten besucht. Doch plötzlich wird ihr klar, dass das Altenheim für Ihren Vater der falsche Ort ist, denn er ist längst nicht so dement, wie das Pflegeteam meint. Kurzerhand holt sie ihn zu sich in die Normandie. Im geerbten Cottage, das sie gemeinsam mit ihrer Halbschwester zu bewohnen beabsichtigt, soll auch der Vater seinen Platz bekommen.

Christa Heins Roman vermag nicht zu überzeugen, nicht nur hinsichtlich des Inhalts, sondern auch der Sprache wegen. Immer wieder verliert sich die Autorin in Behauptungen von Ereignissen, Stimmungen, Wahrnehmungen, anstatt die Geschichten zu erzählen. Sätze wie „Man hat Julie empfohlen, ein psychiatrisches Gutachten für ihre Schwester erstellen zu lasen und sie in eine auf solche Fälle spezialisierte Klinik zu geben“ oder „Mit dem Vater macht Julie kleine Spaziergänge am Meer. Doch, das ist ihr sehr bald klar geworden, sie kann sich ihm nicht auf Dauer widmen“ vermögen die Vorstellungskraft nicht zu entfachen. Schnell lässt das Interesse nach, mehr von der Hauptfigur und deren Suche nach der Schwester zu erfahren. Am Ende des Romans vermag es nicht zu überraschen, dass Julie in der Normandie eine neue Heimat gefunden hat, dass sich der Vater nun im hohen Alter endlich zu seinen Gefühlen bekennt („So ist er vielleicht einmal als Kind gewesen, angreifbar, verletzlich, wie der freigelegte, atmende Meeresgrund.“) und dass Florence in der Malerei ihre Erfüllung findet („Sie ist dort angelangt, wo alles aus ihr selbst entsteht.“).

Titelbild

Christa Hein: Der Glasgarten. Roman.
Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt am Main 2015.
320 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783627002169

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