Ungarn und Rumänien im Mittelalter

Anna-Lena Liebermann und Cora Dietl erschließen eine Jahrhunderte alte Literaturlandschaft

Von Martin MeierRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martin Meier

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das Wechselspiel zwischen Natur und Formung des in ihr lebenden Menschen war schon frühen Autoren bewusst. Naturräumliche Gegebenheiten prägen die Charaktere, wirken auf die Weltsicht der Agierenden. Bereits 1745 verlieh der pommersche Autor Albrecht Georg Schwartz dieser Auffassung mit folgenden Worten Ausdruck: „Der allgemeine Zusammenhang der Weltdinge erstreckt sich auch über Begebenheiten und Örter. Es ist aus unzehligen Erfahrungen bekannt, in was für einem Verhältniß sie beyde mit einander stehen. Man sagt nicht mahl genug, daß man sie ein Verhältniß nennet. Es ist gar ein Wechsel-Einfluß unter ihnen. Die Örter bestimmen durch ihre Beschaffenheit die Geschichte, die darinnen vorgehet und diese die Örter…“

Das Werk des geistig arbeitenden Menschen, sei er Künstler, Literat, Wissenschaftler oder Prediger, wird, ob wissentlich oder unbewusst, von der Landschaft geprägt, die ihn umgibt. Dieser Einfluss dürfte in der Vormoderne noch wesentlich stärker gewesen sein. So bedarf ein Nachschlagewerk, das die Bindung mittelalterlicher Autoren an konkrete Regionen darstellt, eigentlich keiner tieferen Rechtfertigung.

Ein auf mindestens 15 Bände angelegtes Lexikon soll künftig die deutsche Literatur des Mittelalters in regionaler Perspektive darbieten. Nicht Autoren, noch deren Erzeugnisse stehen im Fokus des ambitionierten Projektes, sondern die Stätten literarischen Schaffens, die konkreten geographischen Räume und Orte. Mit dem ersten Band ist den Herausgeberinnen Anna-Lena Liebermann und Cora Dietl ein bemerkenswerter Auftakt gelungen.

Sie erschließen die literarische Überlieferung Ungarns und Rumäniens, sofern sie in deutscher Sprache, oder von deutschen Autoren in lateinischer Sprache verfasst wurde. Rumänische und ungarische Werke bleiben unberücksichtigt, es sei denn, sie besitzen einen unmittelbaren Bezug zu deutschen Autoren. So findet etwa der 199seitige Nagyszombater Kodex Erwähnung, der 1512-13 für die Altofener Klarissen kopiert wurde. Er ist insofern interessant, als dass er eine ungarische Übersetzung der Horologium sapientiae Heinrich Seuses enthält und somit ein „frühes Zeugnis der Seuse-Rezeption in Ungarn darstellt“.

Dem zeitlichen Rahmen des Lexikons wird mit dem Jahr 1526 begründet eine Grenze gesetzt. Die Schlacht bei Mohács gelte, wenngleich „oft in tendenziöser Zuspitzung“, als Ende des Mittelalters im südöstlichen Europa, meinen Dietl und Liebermann unter Verweis auf eine ältere Publikation.

Einleitend erklären die beiden Literaturwissenschaftlerinnen den Aufbau der Artikel und ermöglichen so eine zielgerichtete Nutzung des Nachschlagewerkes. Es gleicht einem Mosaik, das trotz zahlreicher Lücken einen Einblick in eine im europäischen Gedächtnis längst untergegangene Epoche gewährt. Der Leser ahnt die unwiederbringlichen Verluste des Säkularisierungsprozesses seit dem 18. Jahrhundert und die tiefen Einschnitte in die kulturelle Ordnung, die die Kriege des 20. Säkulums mit sich brachten. Stellvertretend darf die verlorene Handschrift der Vita des heiligen Johannes Capistrano erwähnt werden. Gleichsam tritt die enorme Bedeutung deutschsprachiger Mönche, Prediger, Bischöfe, Lehrer, Literaten, Verwaltungsbeamter und Verleger zu Tage, die zur Herausbildung einer ungarischen und rumänischen Kulturlandschaft beitrugen. Der in Fünfkirchen wirkende Bischof Eberhard aus der Pfalz sammelte 300 Handschriften. Johannes Rotenborg, der in Ofen am Hofe König Sigismunds lebte, hinterließ ein umfassendes Glossar ungarischer Wörter, Redewendungen, Verwandtschaftsnamen und obszöner Ausdrücke, ein Werk von unschätzbarem Wert für die Sprachforschung. Der sich kurzzeitig am gleichen Ort aufhaltende Eberhard Windeck verfasste um 1437 die „Denkwürdigkeiten zur Geschichte des Zeitalters Kaiser Sigmunds“. Johannes Thurocz überlieferte die umfangreichste Prosa-Chronik der Ungarn im Mittelalter. Das erste in Ungarn erschienene gedruckte Buch war die Chronica Hungarorum, die bei Andreas Hess in Ofen erschien; nur vier der zahlreichen Beispiele, die im ersten Band des Lexikons zur regionalen Literaturgeschichte Erwähnung finden.

Die Weite des Blickwinkels besticht. So verstehen die Herausgeberinnen unter Literatur keineswegs nur schöngeistige Werke, sondern auch Briefe, Urkunden, Archivalien, kurzum nahezu jede Form schriftlicher Äußerung; ein Fakt der das vorliegende Werk zum unverzichtbaren Nachschlagewerk auch für Historiker werden lässt, ja, es darf vermutet werden, dass dieses Lexikon dem Mediävisten mehr dient als dem Literaturwissenschaftler. So sind die Darlegungen zum Umfang der jeweiligen Überlieferung und zum aktuellen Zugang sowie zahlreiche Hinweise für die Provenienzforschung relevant. Werke zum schulischen Gebrauch, wie der in Gran entstandene Tractatus theologici et sermones in usum scholae Strigoniensis werden ebenso beschrieben, wie zahlreiche Flugschriften zur Schlacht bei Mohács, alchemistische Texte des in Ofen-Aigen lebenden Michael Harsch oder die Satzungen der verschiedenen Zünfte im rumänischen Hermannstadt. Das Lexikon bietet unter anderem Ansätze zur literaturhistorischen, sozialgeschichtlichen, pädagogischen und militärhistorischen Forschung. Neben den bereits erwähnten Flugschriften ist der Hinweis auf Conrad Kysers Bellifortis-Handschrift von Interesse. Die Arbeit des zeitweise in Plintenburg ansässigen Autors fand Eingang in das zweibändige Kompendium Ars belli von Rainer Leng.

Selbst dann, wenn von Personen keinerlei schriftliche Überlieferung existiert, sie jedoch nachweislich literarischen Einfluss ausübten, finden sie Erwähnung. So im Falle des Graner Erzbischofes Radla. Er hatte unter dem Namen Sebastian gemeinsam mit dem später heiliggesprochenen Adalbert studiert und denselben begleitet. Die Vermutung läge nahe, so die Herausgeberinnen und Krista Zach, dass Radlas Augenzeugenberichte zu den Hauptquellen Bruno von Querfurts Vita St. Adalberti gehörten.

Die Lemmata gliedern sich grundsätzlich in Geschichte, Überlieferung und Literatur. Überwiegend tritt die Kategorie Autoren/Werke hinzu und in vielen Fällen eine zusätzliche Gliederung wie etwa “Kathedralen“ „Spitäler“ et cetera. Die schriftliche Überlieferung wird so zunächst dem Ort, dann der Institution und schließlich den konkreten Autoren zugeordnet. Die den Artikeln beigefügten Literaturverzeichnisse bieten jederzeit die Möglichkeit eines tieferen Einstieges in die Materie. Kritisch ist zu hinterfragen, warum bei einer Vielzahl erwähnter Urkunden, Briefe und Lebenszeugnissen kein gesonderter Hinweis auf die entsprechenden Aktenbestände erfolgt, warum also das einmal gewählte Grundprinzip nicht durchgehend gewahrt bleibt. Zwar werden die Lagerungsorte der Dokumente oft erwähnt, jedoch bleibt es dem Nutzer überlassen, in vertiefender Nachforschung den jeweiligen Bestand zu recherchieren. Dies erscheint zunächst als geringfügiger Fehler ist jedoch in der Tat ein durchaus beachtliches Manko. Hinzu tritt die eigenwillige Einbettung historischer Abläufe in die regionalen Artikel. Statt in einer umfassenden Einleitung die Grundzüge ungarischer und rumänischer Geschichte auszuleuchten, werden diese an die Ortsartikel gebunden. Da Regenten jedoch im gesamten Herrschaftsgebiet tätig waren, ist der Leser genötigt, sich aus verschiedenen Artikeln ein Bild zu rekonstruieren. Jenes Verfahren muss zudem zwangsläufig zu Mehrfachschilderungen des gleichen Ereignisses führen. Dies betrifft nicht nur das Agieren historisch relevanter Persönlichkeiten, sondern auch die Darstellung der Handlungsfelder von Institutionen. Als Beispiel darf auf die Artikel Gran A.3 Vikariatsgericht von Dietl und Fünfkirchen A.3 Vikariatsgericht von Liebernmann verwiesen werden. Der Wortlaut ist nahezu identisch; ebenso im Falle der Artikel zu den Kathedralschulen.

Bemerkenswert erscheint die Anordnung regionalhistorischer Ereignisse, die Ofen und Pest, das heutige Budapest, betreffen. Sie sind an das Ende der umfassenden Lemmata gesetzt. Die Herausgeberinnen sind sich dieses Problems durchaus bewusst. Sie geben vor, es nicht ausräumen zu können. Nun ist der Bruch mit dem einmal gewählten Verfahren in den Folgebänden sicher nicht zu erwarten. Dies ist angesichts der geleisteten Kerrnerarbeit und ihrem Nutzen verzeihlich.

Nicht nur dem Wissenschaftler, auch dem interessierten Reisenden sei das Kompendium ans Herz gelegt, das eine Jahrhunderte alte Kulturlandschaft aus deutscher Perspektive erschließt.

Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg

Titelbild

Cora Dietl / Anna-Lena Liebermann (Hg.): Lexikon der regionalen Literaturgeschichte des Mittelalters. Ungarn und Rumänien.
Unter Mitwirkung von Mary-Jane Würker und Andras F. Balogh.
De Gruyter, Berlin 2015.
292 Seiten, 149,00 EUR.
ISBN-13: 9783050052939

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