Ritter auf der Suche nach der Selbstverwirklichung?

Zu Robert Steinkes Untersuchung über verhinderte Ritter

Von Miriam StriederRSS-Newsfeed neuer Artikel von Miriam Strieder

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Seit etwa zehn Jahren hat die Mediävistik die Scheu vor den problematischen Begriffen der Individualität, des Individuums und weiterer Termini, die in diesen Bereich gehören, abgelegt. Seitdem wird das Problem der Individualität nicht nur kontrovers diskutiert, sondern auch immer wieder – mit der gebotenen Vorsicht – auf literarische Figuren des Mittelalters angewendet.

In diese Tradition reiht sich Robert Steinke mit seiner Dissertation, die sich den „verhinderten“ Rittern der erzählenden Dichtung des Mittelalters widmet. Mit der entsprechenden Umsicht schaltet er vor die Textanalysen ein Kapitel, das man als theoretische Grundlegung bezeichnen könnte. Dabei verwendet er viel Sorgfalt auf eine Klärung der verwendeten Begriffe und beweist einen sicheren Umgang mit ihnen. Im gleichen Kapitel klärt der Autor auch über die Ziele seiner Arbeit auf, die sich der Frage nach der Individualität von Ritter-Figuren annähern will. Gegenstand der Betrachtung sind die Figuren, die den Wunsch haben, Ritter zu werden, bei der Umsetzung dieses Bedürfnisses aber Schwierigkeiten haben oder daran gänzlich scheitern. Aus dieser Eingrenzung ergibt sich für Steinke eine gattungsübergreifende Textauswahl, die die Figuren Parzival, Rennewart, Gregorius und Helmbrecht umfasst. Problematisiert wird dieser gattungsübergreifende Ansatz allerdings nicht, sondern nur auf intertextuelle Verweise der mittelalterlichen Texte aufmerksam gemacht; dass die Figurenkonzeption in den verschiedenen Gattungen unterschiedlich ausfallen könnte, bezieht Steinke nicht in seine Überlegungen ein. Weitere Figuren, wie beispielsweise Hartmanns Erec, werden in die Untersuchung nicht miteinbezogen, oder ihre ritterliche Karriere wird, wie im Falle Lanzelets, als unproblematisch dargestellt, was durchaus diskutabel ist.

Insgesamt will Steinke klären, inwieweit Identität im Spannungsverhältnis von Determination und Sozialisation, von Veranlagung und äußerlichen Einflüssen steht. Darüber hinaus möchte er auch betrachten, ob Identität als fest oder wandelbar gestaltet wird. Dabei geht der Autor weder auf zeitgenössische Diskussionen noch auf aktuelle Ergebnisse aus der Identitätsdebatte ein, sondern versucht diese Fragen einzig aus den Texten selbst zu beantworten.

Wolframs Parzival erscheint nach Steinkes Analyse als eine Figur, deren Eigenschaften sowohl von seiner Mutter Herzeloyde als auch vom Vater Gahmuret bestimmt werden. Steinke arbeitet den divergenten Eindruck, den Parzival bietet, dadurch heraus, dass er zwischen der Identität des erfolgreichen Artusritters und der des ahnungslosen tumben unterscheidet. Parzivals Verschwinden aus der Erzählung während der Gawan-Passagen und seine Übernahme der Identität des Roten Ritters deutet Steinke als Flucht. Als Schlüssel zur Gralsberufung sieht er, im Gegensatz zur göttlichen und unergründlichen Gnade Gottes, Parzivals staete und Demut.

Die Überlegungen zur Figur des Rennewart aus Wolframs Willehalm lassen sich unter den Schlagworten freier Wille und sozialer Einfluss subsumieren. Als Heide ist Rennewart dem christlichen Kollektiv, in dem er lebt, fremd und propagiert diese Andersartigkeit über weite Strecken der Erzählung. Steinke geht davon aus, dass Rennewart dem Konflikt zwischen Schuld und Handeln ausgesetzt ist. Indem er sich für selbstbestimmtes Handeln entscheidet kann er zum Werkzeug Gottes werden.

Bei der Betrachtung der Gregorius-Figur aus Hartmanns Legende lässt sich Steinke von den Fragen nach genealogischer, fast schon genetischer, Determination sowie Grenzen des freien Willens und Schuld, Sühne und göttlicher Gnade leiten. Er zeichnet die Entwicklung Gregorius‘ nach, dessen eigener Wille ihn zwar aus dem Kloster herausbringt und ihn letztlich zum Papst macht, der diese Entwicklung aber nur dank göttlicher Vorsehung erlebt. Daraus schlussfolgert Steinke, dass Gregorius zugleich als holzschnittartige und entpersonalisierte Figur des Sünders und als Individuum zu gelten habe.

Der letzte Text, dem sich Steinke widmet, gehört in die Gattung des Märe. Bei der Figur des Helmbrecht begibt er sich auf die Suche nach Tendenzen zur Individualisierung und Willensäußerungen, die mit einer Reflektion gekoppelt sind. Steinke arbeitet mit den Begriffen der kollektiven und personalen Identität, um Helmbrechts Streben nach sozialem Aufstieg zu erklären. Dieses Vorgehen erweist sich allerdings als problematisch, denn die Stoßrichtung der Argumentation spricht jeder Figur außer Helmbrecht junior eine personale Identität kategorisch ab. Die Sozialisation durch die Mutter wird als gestört wahrgenommen und endet schließlich in der gesellschaftlichen Exklusion und Standeslosigkeit, die deutlich machen, dass Helmbrechts eigenmächtiger Identitätswechsel nicht geglückt ist.

Schlussfolgernd stellt Steinke fest, dass die entscheidenden Faktoren für eine geglückte Ritterkarriere genetische bzw. genealogische Voraussetzungen zum Rittertum sowie die Aufrechterhaltung der göttlichen Ordnung und damit des Sozialgefüges, die Sozialisation, der eigene Wille und zuletzt auch das Eingreifen Gottes sind.

Insgesamt lässt sich sagen, dass die Textanalysen durchaus gelungen sind und die angewandte Methodik des close reading wichtige Erkenntnisse zu den einzelnen Texten liefert. Das kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich die Resultate der Analyse nur schwer auf andere Texte übertragen lassen und damit keine tiefergehende Relevanz erlangen. Generell erscheint der Ansatz des eigenen Willens bei den Figuren diskutabel und droht in die Fallstricke der Debatte um Individuum und Identität zu führen, während genealogische Prädestination und damit Implementierung der gesellschaftlichen Ordnung sowie Gottes Wille und Gnade als Voraussetzung um Ritter zu werden, ganz offensichtliche Erkenntnisse der Analysen sind.

Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg

Titelbild

Robert Steinke: Verhinderte Ritter in der deutschen Literatur des Mittelalters. Scheitern und Gelingen fiktionaler Identitätskonstruktionen.
Reichert Verlag, Wiesbaden 2015.
256 Seiten, 69,00 EUR.
ISBN-13: 9783954901012

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