Nur scheinbar unscheinbare Kunstwerke

Der zweite Band von Christine Lavants Werkausgabe bietet ihre zu Lebzeiten veröffentlichten Erzählungen

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Schon seit einigen Jahren macht sich der Wallstein Verlag um das Werk der 1973 verstorbenen Autorin Christine Lavant verdient. So veröffentlichte er etwa ihre Erzählungen „Das Kind“ und „Das Wechselbälgchen“. Vor allem aber begann er 2015 mit einer auf vier Bände angelegten Publikation der Werkausgabe der Kärntner Schriftstellerin. Noch im gleichen Jahr erschienen die ersten beiden Bände. Zunächst die „Zu Lebzeiten veröffentlichten Gedichte“. Kurz darauf gaben Klaus Amman und Brigitte Strasser die „Zu Lebzeiten veröffentlichten Erzählungen“ heraus.

In fast allen der in diesem Band versammelten, nur scheinbar unscheinbaren Kunstwerken ist die Religion der christlich-katholischen Glaubensrichtung ebenso allgegenwärtig und gewichtig wie für die in Dörfern und Kleinstädten österreichischer Alpentäler angesiedelten Figuren, von denen Lavants Geschichten erzählen. Dies allerdings, ohne dass die Religion gepriesen oder denunziert würde. Das heißt, die Figuren selbst loben den Herren und seine Heiligen sehr wohl ein um das andere Mal. Öfter noch aber flehen sie ihn und Maria an.

Denn eigentlich handeln die Erzählungen gar nicht so sehr von der Religion selbst, als vielmehr von der Religiosität, dem oft naiven Gottesglauben einfacher Leute, der zwar als solcher kenntlich gemacht, wohl auch kritisiert, nie aber der Lächerlichkeit preisgegeben wird. So etwa, wenn eine von ihnen räsoniert, dass Gott als „Inhaber aller guten Eigenschaften“ eigentlich „doch auch Humor haben“ müsse, oder eine andere ihn sich als „überaus einsam“ vorstellt. Das ist dann allerdings gar nicht mehr so naiv. Ebenso wenig, dass eine der Frauenfiguren angesichts ihres Haderns mit Gott fürchtet, sie habe „sich mit einem Allzumächtigen, Allzumännlichen vielleicht, zu menschlich und weiblich eingelassen“. Alleine wegen solcher, wie beiläufig eingestreuter Bijous beglückt die Lektüre der Erzählungen.

Zwar stellt Lavant den Kleriker-Dünkel recht rückhaltlos bloß, doch äußert sich die Kritik am Volksglauben verhalten und eher indirekt. So etwa, wenn es über eine nicht eben sonderlich sympathische Figur heißt, „beten, arbeiten und demütig sein“ sei „alles, was sie kann“. Denn eigentlich sind das drei in den Erzählungen gar nicht so übel konnotierte Tätigkeiten. Beschränken sich die Fähigkeiten eines Menschen jedoch auf diese Eigenschaften, ist das sehr wohl von Übel – für ihn selbst und auch für die seinen. Die Identifikationsfiguren hingegen fallen tätig aus der Reihe. Ein Lumpensammler etwa, Rosa Berchtold oder Nell. So haben sie denn auch alle drei Eingang in den jeweiligen Titel der ihnen gewidmeten Erzählung gefunden, wenngleich sie dort nicht unbedingt namentlich genannt werden.

Lavant lässt ihre Figuren nicht nur über Gott reflektieren, sondern auch über dieses und jenes, was in ihren dörflichen Welten so vorfällt. Gerne legt sie Welt- und Menschenkenntnis in Kindermünder, die so manche Wahrheit kundtun. Angesichts einer kranken Frau, die ihre Kinder schlägt, mutmaßt eines von ihnen: „Wahrscheinlich haut sie einen Teil von den Schmerzen in uns hinein und es ist ihr dann am End wohler? … Wie ich das eine Mal den Mauskater gemartert hab, ist’s mir auch gleich um vieles leichter worden, obwohl ich noch die Engel hab singen hören von ihrer Dresch …“. Sogar über die Tätigkeit der Autorin selbst, das literarische Schreiben, lässt sie eine ihrer Figuren sinnieren und zu der Erkenntnis gelangen,

dass Dichter schließlich auch bloß Menschen seien, auch nur ein einziges Herz besäßen und ganz wie alle anderen ihrem eigenen Drang nach leben müssten. Und was sie dann Schreiben, kommt eben aus diesem Drang heraus und hilft einem anderen gar nichts. Eigentlich müsste jeder für sich selber ein Buch geschrieben haben und darin dann lesen, abends, wenn es die Stunde verlangt.

Eröffnet wird der Band mit der bereits erwähnten Erzählung „Das Kind“. Überhaupt enthält er etliche Kindergeschichten, womit nicht gesagt ist, dass sie für Kinder geschrieben wurden, sondern vielmehr, dass sie von Kindern erzählen, mit all ihren Nöten, Hoffnungen und meist unerfüllten Wünschen. So auch die zweite, „Das Krüglein“, dessen junge ProtagonistInnen im Laufe der über einige Zeit sich erstreckenden Handlung schon die Schwelle zum Erwachsenwerden betreten. Die älteren von ihnen jedenfalls. Diese mit rund 170 Seiten umfangreichste Erzählung des Bandes wird multiperspektivisch aus der jeweiligen Sicht der zahlreichen Jungen und Mädchen einer vielköpfigen Kinderschar zweier miteinander verschwägerter Familien erzählt, von denen die eine bei der anderen in einem Tal, wohl nicht ganz unähnlich dem Lavanttal, zur Untermiete wohnt. Mit feinem Amüsement, das durchaus auch melancholisch sein kann, blickt die allwissende Erzählinstanz in die Kinderherzen, ohne je ihre Stimme zur Ironie zu verhärten, und lässt die Lesenden so an der Welt der Kinder teilhaben. Auch was sich in der Seele ihrer seit einem im Alter von 14 Jahren erlittenen Unfall „verunstalteten Mutter“ abspielt, bleibt ihr nicht verborgen.

Vor allem aber lässt Lavant die Lesenden die Selbst- und Fremdwahrnehmung(en) der Kinder auf wunderbare Weise miterleben, ja mitfühlen, wenn beispielsweise die Kinder einer der Familien untereinander konkurrieren, gegen die der anderen jedoch zusammenstehen. Denn die Sprösslinge der beiden Familien sind einander durchaus nicht grün. In einem heftigen und handgreiflichen Streit „gleichen“ sich zwei der aus je einer Familie stammenden Kinder „einander“ jedoch in ihrem „fast allmächtigen Hass auf einmal wie Geschwister“. Hier, wie so oft, wird Lavants hohe Erzählkunst deutlich, die die Worte fein und genau zu wählen weiß. Frei von Schwächen ist die Erzählung dennoch nicht. So werden offensichtliche Parallelen des Loses von Armin, dem eigentlichen ‚Helden‘ der Erzählung, zum Schicksal des biblischen Verlorenen Sohnes ärgerlicherweise ganz unnötig explizit ausgesprochen.

Nicht nur im Streit, auch in ihrer Trauer über den Verlust „Krügleins“ sind die Kinder beider Familien vereint, als der Kaplan des kleinen Ortes „dorthin“ geht, wo es „richtige Affenbrotbäume gibt und Kinder mit nichts an sich als einer glitzenschwarzen Haut“ herumlaufen, was die „wilden, heftigen Armeleutekinder“ des Kärntner Dorfes wiederum eine „Schweinerei“ finden, „sowas, so ohne alles Gewand herumzulaufen, sollte hier mal jemand das probieren!“

Das eigentliche Krüglein aber ist nicht etwa der „kleine Kaplan Krüger“, dessen Name auf diese Weise von der Kinderschar diminuiert wird, sondern das Jüngstgeborene der ärmeren der beiden Familien, das er beim Abschied zu seinem Nachfolger als Krüglein erklärt, in das die Kinder „alles hineinlegen“ können. Beim Abschied bescheidet er ihnen, es werde „vielleicht einmal“ an ihnen „liegen, ob ein Schmerzen- oder Freudenkrüglein daraus wird“. So schwingt in dem Namen des Krügleins nicht nur das Gedenken an den verlorenen Kaplan Krüger mit, sondern zumindest für die Lesenden auch die Bedeutung des Bechstein’schen „Tränenkrügleins“. Und Ursachen zu weinen gibt es in der Erzählung allemal genug, nicht nur wegen des Säuglings mit seinen stets offenen Wundmalen, von dem die Kinder fortan als dem Krüglein sprechen. Doch neben all das Leid, das die Figuren wie in allen Erzählungen Lavants so auch in dieser erdulden müssen, treten gelegentlich geradezu urkomische Szenen.

Der Schluss dieser ansonsten so anrührenden Erzählung jedoch gerät Lavant ganz entgegen aller Erwartung allzu süßlich. Es scheint nachgerade ein Wunder geschehen, das die ärmliche Hütte mit dem Krüglein im Glück erstrahlen lässt. Dabei hatten sich die Mutter Gottes und alle Heiligen doch beim Wundertun bislang stets ausgesprochen spröde gezeigt. Aber da die Figuren einander in ihrem Glück so viel vergeben und verzeihen, sei auch Lavant dies hier nachgesehen. Zumal der Moment der allgemeinen Seligkeit kaum lange anhalten dürfte, wie zwar vielleicht nicht die Figuren im Buch, wohl aber der Mensch, der es in Händen hält, ahnt.

Ins Auge sticht ihm vielleicht auch, dass die Väter in der Erzählung ziemlich unbedeutend und blass bleiben. Viel mehr, als dass sie von „unbeholfener Art“ sind, erfährt man kaum. Erstaunlich ist das allerdings nicht. Denn schließlich stehen die Kinder im Mittelpunkt, und „dass der Vater sich bei den Kindern nicht auskennt“, wissen auch diese selbst. Denn „sowas sind eben nur Angelegenheiten für Weiber“. Ganz anders sind zumindest in der kindlichen Wahrnehmung denn auch die Mütter: „Alles wissen sie, alles verstehen sie“ – bis auf eines allerdings: „Das Fremd- und Erwachsenwerden ihrer Kinder, das sozusagen immer hinter ihrem Rücken geschieht, übersehen sie alle“. Das aber zählt zum Wissen der Erzählinstanz.

Treten die Väter im „Krüglein“ kaum einmal aus dem Hintergrund hervor, so stehen überhaupt recht selten ein Mann und sein Geschick im Mittelpunk der Erzählungen oder gar in deren Titel wie im Falle des „ Lumpensammlers“. In der Erzählung „Baruscha“ wiederum hat Lavant sogar einen männlichen Ich-Erzähler gewählt. Der Titel dieser Geschichte bildete zugleich denjenigen des Erzählbandes, in dem sie erstmals veröffentlicht wurde. Vervollständigt wurde der 1952 erschienene Band seinerzeit durch die märchenhaftgeheimnisvollen Erzählung „Die Goldene Braue“ und die enigmatische Geschichte vom „Messer-Mooth“, deren Hermetik sich nur unter Anwendung etlicher Interpretationskünste öffnen lassen dürfte.

Den insgesamt zwölf Erzählungen des vorliegenden Bandes haben die HerausgeberInnen einen Anhang angefügt, der neben einem Nachwort von Klaus Amann einen editorischen Kommentar sowie „Anmerkungen und Glossare“ bietet. Letztere dürfte mit ihren zahlreichen Wort- und Begriffserklärungen (oft mundartlicher Bezeichnungen) so manche Frage bundesdeutscher Lesenden beantworten. Einige aber lassen sie doch offen, zum Beispiel die, was ein „Zigeunerherd“ ist. Dennoch sollte man ihn aber selbst dann konsultieren, wenn sich scheinbar keine Fragen auftun. Denn nur auf diese Weise erfährt man, dass ein einziger Satz, der weder im Typoskript, noch in dessen Abschrift durch eine Redakteurin zu finden ist, sondern erst später – von wem auch immer – hinzugefügt wurde, einer der Erzählungen eine völlig andere Wendung gibt.

Titelbild

Christine Lavant: Zu Lebzeiten veröffentlichte Erzählungen. Mit einem Nachwort versehen von Klaus Amann.
Herausgegeben von Klaus Amann und Brigitte Strasser.
Wallstein Verlag, Göttingen 2015.
800 Seiten, 38,80 EUR.
ISBN-13: 9783835313927

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