Ohne all das kannst du leben, aber wie?

Über Martin Bieris Gedichtband „Europa, Tektonik des Kapitals“

Von Thorsten SchulteRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thorsten Schulte

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das Gedächtnis ist ein Archiv von Erinnerungen. Aber das Erinnern liefert meist nur Impulse, flüchtige und unvollständige Bilder. Martin Bieri begibt sich auf eine politische Erinnerungsreise durch Europa. Sein Gedichtband „Europa, Tektonik des Kapitals“ versammelt 66 geographische Gedichte und ist zugleich das Gegenteil einer romantischen Länderreise. Seine Gedichte richten einen subjektiven Blick zurück auf Paris, Birmingham, Nizza, Warschau, das Mittelmeer – Erinnerungs-Späne, Bilder, gelöst von räumlichen Ketten und einer linear verlaufenden Zeit. Geschichte scheint durch sie lebendig zu werden, beispielsweise am Ort der Schlacht von Verdun im Ersten Weltkrieg. Spuren der Gegenwart werden aufgegriffen und aktuelle Themen angesprochen. Martin Bieri rüttelt seine Leser – er wählt deutliche Worte: „Die kommen mit letzter Kraft und leerem Herz. Und wir sind im Bild / dieser Kontinentalkatastrophe einfach die Idioten im Hintergrund.“ Aktueller könnten seine Verse nicht sein. Das Leid der Flüchtlinge stört an der Küste Andalusiens unweit der „Häuser für Ferien“ die „letzte europäische Utopie vom guten Leben“ nicht. Ein Tourist macht ein Foto, verschließt die Augen und versichert sich, dass hier nur „der Friede und das Mittelmeer“ seien.

Die Stärke der Gedichte ist ihr Realismus, der sich düster und schwer, wolkenverhangen und kalt daherkommt. Bieri präsentiert die Wunden eines „verlebten Kontinents“. Stets geht er von der Infrastruktur der Orte aus, deren Betonbrücken, Fabriken, Autobahnen und Hochhäusern. Kalter Stahl, Eisenbeton und Glas in klaren geometrischen Formen prägen den „Wahnsinn“, den der wirtschaftliche Fortschritt verlangt: „Der Wahnsinn will Ordnung und Unsterblichkeit“. Die von Städten hinterlassenen Spuren gleichen Rissen in der Seele, „schwarz des toten und des vollen Lebens“, sie lassen Schwindel aufkommen: „Du vergisst, wohin du willst“. Gleichsam wie tektonische Decken überschieben sich Gedichte; Orte wiederholen sich in immer neuem, fahlem Lichtschein. Zugleich läuft ein Countdown: Den Titeln der Gedichte sind Zahlen hintenan gestellt, deren Wert sich bis zum Ende des Bandes von Gedicht zu Gedicht verkleinert. Laut Martin Bieri sind es Kilometerangaben, aus denen sich die Entfernung seines Schreibtisches zum Ort der Handlung ablesen ließe. Die Schlinge zieht sich immer enger und löst Beklemmung aus. Es ist, als käme die Dunkelheit immer näher.

In den dunkelsten Stunden ist es möglich, besonders tief in die eigene Seele zu sehen. Das Gedicht „Herbst im Westen“ bannt die Bodenlosigkeit tiefer Trauer in Verse. Wenn das Kind im Innern stirbt und nur „verhangene Hoffnung“ bleibt, wird das Ich sich seiner Ziellosigkeit bewusst. Schon zuvor wurden Ziele nur „fern im Sinn vergangener Jahre“ vermutet. Immer wieder startet das lyrische Ich Ausbruchsversuche aus der Beklemmung und der Dunkelheit. Eine Ahnung von Schönheit findet sich in Genua, in Nervi, in der Einöde, der „Rückseite des steinernen Mondes“. Es muss scheinbar lange gereist werden und viel Zeit auf Autobahnen verbracht werden, bis Hoffnung gefunden wird. Das Reisen vermag es in Bieris Gedichten, selbstheilende Kräfte zu wecken. Auch an der Küste Cornwalls reckt sich das Ich in den Sturm und fragt: „Ohne all das kannst du leben, aber / wie? Wie das Meer vergessen, wenn du / das Meer gesehen hast?“

Martin Bieris Gedichtband ist die Dekonstruktion eines Wirtschaftstraums, ein Plädoyer gegen Stolz und Besitz sowie die Forderung, sich nicht von Farblosigkeit und Gleichförmigkeit den Sinn des Lebens vernebeln zu lassen. Sind wir wirklich hier oder jagen wir nur „Provinzen des Eigentums“ nach? Im Gedicht „Chéserex“ wird als einziges Ziel einer auf geschorenem Rasen Golf spielenden, reichen Gesellschaft „das zweckfreie Leben“ postuliert. Bieri klagt an: „Milliardenschwere / Mittellosigkeit gegen das Nichtstun, den ewigen Sonntag.“ Bewusst gesetzte Provokationen verstärken die Sprengkraft der Worte. Mit perfekt positionierten Nadelstichen lotet Bieri die Position des Menschen im modernen Europa aus. Die dichte Sprache fasziniert. Auf engstem Raum erzählt der Autor komplexe Geschichten, ohne jemals den Sinn zu verstellen. Wenn zu viele Termine Zuwendung und Ruhe nicht mehr erlauben, dann wachsen Ängste: „Das große Gefühl / der Überschreitung mündet in Ermüdung, Schlafsucht, Schwindel, Angst“. Martin Bieri will die Sinne öffnen für eine neue Wahrnehmung des Lebens, in dem die Liebe zu oft den „Tonalitäten der Moderne“ geopfert wird und Menschen „in der eigenen Größe verschwinden“.

Titelbild

Martin Bieri: Europa, Tektonik des Kapitals. Gedichte.
Allitera Verlag, München 2015.
96 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783869067230

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch