Eine Historikerin des Spurlosen

Mit „Zinkjungen“ setzt Swetlana Alexijewitsch den Veteranen und Opfern des Afghanistankrieges ein Denkmal

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Als Swetlana Alexijewitschs Buch „Zinkjungen“ 1989 zum ersten Mal erschien, da war das Afghanistanabenteuer der Sowjetunion nach zehn verlustreichen Jahren soeben zu Ende gegangen. Vom 25. Dezember 1979, als die ersten Armeeeinheiten die afghanische Grenze überschritten, bis zum 15. Februar 1989, als die letzten sowjetischen Truppen dem Land am Hindukusch den Rücken kehrten, hatte man weitestgehend erfolglos versucht, ein moskaufreundliches Regime in dem für die Kreml-Führung strategisch wichtigen Land zu installieren. Auf mehr als 100.000 Mann wuchs die Truppenstärke während der 1980er-Jahre an. Als Michail Gorbatschow, seit 1986 Generalsekretär der KPdSU, sein Wahlversprechen verwirklichte und den von Leonid Breshnew begonnenen Krieg im südlichen Nachbarland beendete, zählte man auf sowjetischer Seite mehr als 15.000 Tote und Vermisste. Weitaus größer noch war die Zahl derer, die körperlich und seelisch versehrt in ihre Heimat zurückkehrten. Den größten Blutzoll allerdings zahlte das afghanische Volk mit bis zu 1,5 Millionen Opfern.

„Zinkjungen“ nannte man jene Gefallenen, die ihren Familien in fest verschlossenen Zinksärgen aus Afghanistan  zurückgebracht wurden. Niemand sollte sehen, was ein von beiden Seiten grausam geführter Krieg von seinen Lieben übriggelassen hatte. Und während sich die Summen, die man den Familien für den Verlust ihrer Söhne und Töchter zahlte, angesichts eines zunehmenden Rubelverfalls geradezu lächerlich ausnahmen, verstanden es die meisten Politiker und Generäle, die den Krieg mit angestiftet und organisiert hatten, sich nach der Niederlage schnell aus ihrer Verantwortung zu stehlen.

Swetlana Alexijewitsch vervollkommnete in ihrem dritten Buch jene Methode, die sie schon in den beiden vorausgegangenen Bänden über den ‚Großen Vaterländischen Krieg‘ (1941–1945) – „Der Krieg hat kein weibliches Gesicht“ (1983, deutsch 1987, Neuausgabe 2013) und „Die letzten Zeugen“ (1985, deutsch 1989) – entwickelt hatte. Aus Dutzenden von Zeugenaussagen komponierte sie eine vielstimmige Collage über die Schrecken des Krieges. Sie befragte Soldaten und Offiziere, Krankenschwestern und Ärzte, Eltern und Ehepartner von Gefallenen oder traumatisiert wieder nach Hause Gekommenen. Jede einzelne Stimme und gar erst das Stimmenganze als Zeugenchor eines mörderischen Jahrzehnts sprechen für sich. Zwar sind die Aussagen von der Autorin sprachlich überarbeitet worden – was letzten Endes auch den Literaturcharakter des Buches mitbegründet –, doch Alexijewitsch selbst vermeidet jeden persönlichen Kommentar.

Das Ergebnis ist erschütternd. Der Leser begleitet Menschen voller Enthusiasmus und Aufopferungsbereitschaft in einen Krieg, der sie aufs Äußerste verrohen lässt. Aus ihre Eltern liebenden, mit Büchern, Bildern und Musik aufgewachsenen jungen Männern werden Tötungsmaschinen, deren Idealismus der blutigen Realität nicht lange gewachsen ist. Während die offizielle Propaganda in der Heimat das Bild des heroischen „Internationalisten-Kämpfers“ pflegt, der dem afghanischen Volk behilflich ist, das Joch des Feudalismus abzuwerfen, Brunnen und Straßen anlegt, sich an der Kollektivierung der Landwirtschaft beteiligt und den Frauen den Weg in eine selbstbestimmte Zukunft ebnet, lebt man vor Ort in beständiger Todesgefahr, schlecht ausgerüstet und katastrophal verpflegt, aus Drogen und Alkohol die Kraft für die nächsten Stunden schöpfend und sich nicht selten selbst verstümmelnd, um dem Horror zu entkommen.

Einem Horror übrigens, der nach der Heimkehr keineswegs aufhörte. Denn nach zehn Jahren Krieg und in einem durch Gorbatschows Perestroika gewandelten gesellschaftlichen Klima waren die Helden plötzlich keine Helden mehr. Stattdessen schlug den „Afghanen“, wie man die Rückkehrer aus dem Nachbarland der Einfachheit halber nannte, nun Misstrauen entgegen. Vorbei die Zeiten, in denen sie von der offiziellen Propaganda in eine Reihe gestellt wurden mit den legendären Verteidigern der Heimat, die der ‚Große Vaterländische Krieg‘ hervorgebracht hatte. Denn sie hatten ihr Land ja nicht vor herandrängenden feindlichen Heeren beschützt, sondern waren aus geostrategischen Gründen in dasjenige eines Nachbarn eingefallen. Dass sie zu gutgläubigen Opfern einer verhängnisvollen Ideologie geworden waren, nahm ihnen plötzlich nicht mehr jeder ab. Und mit den Enthüllungen der neuen Medien über die wahren Hintergründe des Afghanistan-Abenteuers verloren sie weiter an Ansehen in der Öffentlichkeit.

Nicht minder aktuell als Swetlana Alexijewitschs Buch ist die erst in der Neuausgabe von 2007 hinzugekommene, fast 70-seitige Dokumentation eines Gerichtsprozesses vor dem Volksgericht des Minsker Stadtbezirks Mitte. Zwei von der Autorin Befragte – die Mutter eines gefallenen Offiziers sowie ein durch den Krieg zum Invaliden gewordener Soldat – hatten die Autorin 1992 verklagt, durch absichtliche Verfälschung der von ihnen in den Interviews gemachten Aussagen die Wahrheit über jene Zeit entstellt und Ehre und Würde von Menschen verletzt zu haben, die ihre Kriegsteilnahme als patriotische Pflicht verstanden.

Die wortgetreue Wiedergabe von Zeitungsmeldungen über das Ereignis sowie zahlreiche Ausschnitte aus den eingereichten Klageschriften, den Anhörungen der Parteien und ihrer Rechtsvertreter vor dem Prozess sowie dem Stenogramm der Verhandlung vom 29. November 1993 selbst zeigen, in wie kurzer Zeit die allgemeine Stimmung im Land erneut zu kippen vermochte. Die spürbare Einbuße des auseinanderfallenden Sowjetreichs an weltpolitischer Bedeutung führte bei vielen – und nicht nur den Angehörigen der zu Invasoren gestempelten Soldaten und Offizieren – nun dazu, diejenigen ins Visier zu nehmen, die wie Swetlana Alexijewitsch offen und ehrlich über den Wahnsinn des zehnjährigen Krieges berichteten. Geradezu entlarvend liest sich in diesem Kontext die folgende Aussage: „Wegen solcher Schmierfinken wie Ihnen geben wir heute überall auf der Welt unsere Positionen auf […]. Wir haben Polen […] verloren, Deutschland, die Tschechoslowakei […]. Wir werden noch den Tag erleben, da man Gorbatschow dafür vor Gericht stellt. Und Sie auch, Sie sind Verräter. Wo sind unsere Ideale geblieben? Wo ist unsere Großmacht? Für die bin ich 45 bis Berlin marschiert“.

Titelbild

Swetlana Alexijewitsch: Zinkjungen. Afghanistan und die Folgen.
Übersetzt aus dem Russischen von Ingeborg Kolinko und Ganna-Maria Braungardt.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2016.
318 Seiten, 11,00 EUR.
ISBN-13: 9783518466483

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch