Stummfilmleidenschaften

Paul Leppin führt in „Severins Gang in die Finsternis“ ins alte, unheimliche Prag

Von Johannes GroschupfRSS-Newsfeed neuer Artikel von Johannes Groschupf

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mit dem Untertitel Ein Prager Gespensterroman wurde dem Publikum etwas versprochen, was der Roman nicht einlöste. Durch die Verbindung zu Prag als Topos des Unheimlichen wollte der Delphin Verlag bei der Erstveröffentlichung im Frühjahr 1914 den schwer verkäuflichen Autor Paul Leppin besser auf dem Buchmarkt platzieren; Teil dieser Marktstrategie war auch das theatrale Titelbild von Richard Teschner. Es zeigte einen düsteren Raum, der von durchsichtig gezeichneten Gespenstern und Totenköpfen bevölkert ist.

Mit Leppins Roman hat das jedoch nur wenig zu tun. Gespenster treten hier nicht auf, die Dämonen wirken im Inneren. Der Roman ist der Décadence verschrieben, hat jedoch nichts mit dem Mystizismus der Meyrinkʼschen Phantastik zu tun. Leppins Held Severin ist ein Flaneur im Baudelaireʼschen Sinn, er wandert rastlos durch die Schattenseiten, die abseitigen Winkel der Stadt und verbrennt an seinen inneren Leidenschaften.

Der Jüngling Severin ist 23, hat das Studium nach drei Semestern abgebrochen und versieht nun einen verhassten Schreibdienst. „Nun saß er während der Vormittage in dem hässlichen Bureau und hielt sein kränkliches und bartloses Bubengesicht über die Zahlenreihen gebeugt. […] Eine lästige Müdigkeit bohrte in seinen Schläfen, und er drückte mit den Fingern die Augäpfel in den Kopf, bis sie schmerzten.“ Sein eigentliches Leben beginnt, „wenn er am Abend, vom Schlaf betäubt, auf die Straße trat“. Anhand der Stadtwanderungen Severins ließe sich vermutlich eine Topografie des alten Prag entwerfen. Hier schreibt jemand, der sich auskennt, der zu allen Jahreszeiten unterwegs war, bei jedem Wetter, tagsüber ebenso wie nachts. Es ist eine unheimliche Stadt: „Die Stadt, die er kannte, war anders. – Ihre Straßen führten in die Irre, und das Unheil lauerte auf den Schwellen. Da klopfte das Herz zwischen feuchten, verräterischen Mauern, da schlich sich die Nacht an erblindeten Fenstern vorbei und erwürgte die Seele im Schlaf. Überall hatte der Satan seine Fallen aufgestellt.“

Severins Schicksal sind die Frauen, er taumelt von einer zur anderen, kann sich nicht entscheiden, kann nicht lieben, kann nicht bleiben. Die jüdische Susanna bekommt ein Kind von ihm, ohne dass es ihn weiter kümmert. Die tschechische Zdenka wartet immerfort auf ihn, doch er verlässt sie immer wieder. In einer kurzen Phase der gemeinsamen Liebe bringt er ihr „die stille Sprache der Stadt“ bei. Die Begegnung mit der Schauspielerin Karla bleibt ein Intermezzo. Dann sein Verhängnis: das Animiermädchen Mylada. „Ihr Körper war klein wie der eines Kindes, und hinter dem dünnen Kleid reckten sich ihre Brüste.“ Sie bezaubert und beherrscht alle Männer in der Kneipe, sehr ähnlich der Rosa Fröhlich aus Heinrich Manns Professor Unrat (1905). Severin verfällt ihr. Sein Name wird im Übrigen gelegentlich in Verbindung gebracht mit Leopold von Sacher-Masochs Hauptfigur Severin in Venus im Pelz (1870), ebenfalls die Geschichte einer Unterwerfung, jedoch in deutlich anderer seelischer Konstellation.

Paul Leppins Herkunft und Heimat ist die Lyrik, er ist kein Erzähler. Ihn interessieren Stimmungen und Atmosphären, seelische Schwingungen, Launen und Träume. Die kurzen Kapitel seines schmalen Romans kennen kaum Dialoge. Oft ist es nur ein einziger Satz der wörtlichen Rede, der am Ende einer Erörterung der Seelenlandschaft steht: „Geh nach Hause, Karla – Ich liebe dich nicht mehr.“ In einer anderen Szene: „Was tust du hier? – fragte sie, und ihre erloschenen Augen drohten. Ihre Gestalt wuchs groß und gebieterisch in der Dämmerung, und Severin sah voll Grauen, daß sie ein Kind erwartete. Susanne! – flüsterte er.“ Diese überaus geladenen Zweizeilendialoge erinnern an den Stummfilm mit seinen eingeschobenen Dialogtafeln.

Dazwischen sind es die endlosen Gänge durch die geheimnisvolle Stadt, die das Seelenleben des Antihelden Severin offenbaren: „Am liebsten waren ihm die Straßen, die abseits von dem großen Getriebe lagen. Wenn er die Augen zusammenkniff und durch die halbgeschlossenen Lider schaute, bekamen die Häuser ein phantastisches Aussehn.“ In seinen örtlichen Beschreibungen ist Leppin sehr präzise, sein Stil impressionistisch, mit Attributen gesättigt. „Nur ein paar tschechische Jünglinge schoben in dem verwahrlosten Garten Kegel und eine mürrische Kellnerin brachte das trübe Bier in zersprungenen Gläsern.“

Mit diesem Roman lässt sich ein längst versunkenes Prag wieder erahnen, jenes Prag, von dem Franz Kafka im Gespräch mit Gustav Janouch sagte:

In uns leben noch immer die dunklen Winkel, geheimnisvollen Gänge, blinden Fenster, schmutzigen Höfe, lärmenden Kneipen und verschlossenen Gasthäuser. Wir gehen durch die breiten Straßen der neu erbauten Stadt. Doch unsere Schritte und Blicke sind unsicher. Innerlich zittern wir noch so wie in den alten Gassen des Elends. Unser Herz weiß nichts von der durchgeführten Assanation. Die ungesunde alte Judenstadt in uns ist viel wirklicher als die hygienische Stadt in uns.

So fern diese Stadtbilder, so ungewohnt ist auch der oft überladene Ton des Romans, jedenfalls für unsere Ohren: „[…] in derselben Sekunde sah er sich selbst in einem unsichtbaren Spiegel, von Lastern entstellt, die ihn ersticken, mit Geschwüren besät, in denen die Verhängnisse wucherten.“ Etwas too much, und das ging schon den Zeitgenossen so; Leppin wurde wenig gelesen. Ungleich dem Golem-Roman von Gustav Meyrink, der im folgenden Jahr erschien, jedoch schon in Auszügen in den Weißen Blättern vorab veröffentlicht worden war und sofort zu einem beeindruckenden Verkaufserfolg wurde, kam Leppins Roman nicht über die Anerkennung der Kollegen hinaus. Für das große Publikum etablierte Meyrink Prag als genius loci der unheimlichen Stadt, was der literarischen Akkuratesse (der Roman entstand über zehn Jahre), dem Rückgriff auf die Golemlegende, die kurz zuvor bereits von Paul Wegener mit großem Erfolg für den Film entdeckt worden war, und den kongenialen Illustrationen von Hugo Steiner-Prag zu danken ist. (Kürzlich hat Veronika Schmeer in ihrer Dissertation Inszenierung des Unheimlichen (Göttingen 2015) die Rolle der Buchillustrationen der deutschsprachigen Prager Moderne 1914-1925 untersucht.) Insofern ist Severins Gang in die Finsternis eher ein Vorläufer.

Wer war dieser Paul Leppin? Am 27. November 1878 in Prag geboren, wuchs er in ärmlichen Verhältnissen auf, der Vater war Schreiber bei einem Rechtsanwalt. Nach Gymnasium und Abitur war an ein Studium nicht zu denken; Leppin wurde Beamter bei der Post- und Telegrafendirektion. Er stieg dort mühsam auf, bei seiner wegen Krankheit vorzeitigen Pensionierung 1928 hatte er es zum Rechnungsobersekretär gebracht. Leppin war vor dem Ersten Weltkrieg der ungekrönte König der deutschen Prager Boheme, der literarischen Generation vor Egon Erwin Kisch, Franz Kafka, Franz Werfel und Max Brod. Mit Kafka verband ihn die Doppelexistenz als Angestellter im Büro und als Künstler. Als Literat war er ein erklärter Anti-Philister, ein Bürgerschreck. Zusammen mit Viktor Hadwiger, Oskar Wiener und Gustav Meyrink war Leppin ein Wortführer des „jungen Prag“. Er war Angehöriger der deutschen Mittelschicht, sprach aber auch fließend Tschechisch und pflegte enge Beziehungen zu tschechischen Autoren, für deren Avantgarde-Zeitschrift moderni revue er gelegentlich Artikel schrieb.

Während Meyrink, Brod, Werfel, Kisch der Stadt den Rücken kehrten und erfolgreich wurden, blieb Leppin in Prag, und er blieb vor allem dem alten Prag verhaftet, dem er in Severins Gang in die Finsternis ein eindringliches poetisches Denkmal setzte. Seine Bekanntheit als Autor reichte kaum über Prag hinaus. In den 1930er-Jahren wurde er verschiedentlich (1934 Schiller-Preis; 1938 Ehrengabe des tschechoslowakischen Kulturministeriums) als lokale Literaturgröße geehrt. 1939 wurde Leppin nach dem Einmarsch der deutschen Truppen verhaftet und kurz interniert. Nach der Freilassung erlitt er einen Schlaganfall, die letzten Jahre musste er im Rollstuhl verbringen. Am 10. April 1945 starb er an den Spätfolgen einer Syphilis.

In den letzten Jahren bekannte Leppin: „Mein tiefstes Erlebnis ist Prag geblieben. Sein Zwiespalt, sein Geheimnis, seine rattenfängerische Schönheit haben meinen dichterischen Versuchen immer wieder aufs neue Auftrieb und Inhalt gegeben.“ Es ist das Verdienst von Thomas Ballhausen und der Edition Atelier, mit diesem Roman ein besonderes Beispiel deutschsprachiger Stadt-Literatur in Erinnerung zu bringen. Der gediegene schmale Band ist ein schöner Auftakt einer Bibliothek der Nacht.

Titelbild

Paul Leppin: Severins Gang in die Finsternis. Roman.
Herausgegeben von Thomas Ballhausen. Bibliothek der Nacht Band 1.
Edition Atelier, Wien 2015.
128 Seiten, 16,95 EUR.
ISBN-13: 9783903005136

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