Das A und O der Dinge

Alexander Knopf ediert und interpretiert Friedrich von Hardenbergs „Heinrich von Afterdingen“

Von Johannes SchmidtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Johannes Schmidt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das Wort „*Ding“, so steht es in Johann Christoph Adelungs Grammatisch-kritischem Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, ist eines der ältesten der deutschen Sprache. Die mit dem Asterisk gekennzeichnete rekonstruierte beziehungsweise ungebräuchlich gewordene Form bezeichnete ursprünglich eine „Rede“ oder ein „Gespräch“, eine Belegstelle aus Notkers Psalmenübertragung wird gar mit „Wort“ ins Neuhochdeutsche übersetzt. Das „Ding“ führt also zurück ins Dunkel der Sprachgeschichte, in jenen mythischen Raum, den auch der biblische „Logos“ besetzt. Daneben meint „Ding“ aber auch das Gericht bzw. die Verhandlung, dem heutigen Ohr eher als „Thing“ vertraut; dieser Wortsinn ist schon geläufiger, und nicht nur Adelungs Wörterbuch macht darauf aufmerksam, sondern auch das Deutsche Wörterbuch der Brüder Grimm. Und schließlich gibt es das „Ding“ noch im heute allgemein verbreiteten Sinn, als unbestimmte Bezeichnung irgendeiner Sache oder eines Gegenstands.

Auf all diese Bedeutungen verweist Alexander Knopf im Bericht zu seiner Edition des Heinrich von Afterdingen. Sie dienen ihm als Argumente für etwas, das eigentlich selbstverständlich sein sollte, aber doch seit 200 Jahren unterlassen wurde: dem Roman seinen von Hardenberg vorgesehenen Titel zu geben. „Heinrich von Ofterdingen“ nämlich ist das Ergebnis eines perpetuierten Eingriffs der Herausgeber, angefangen von Friedrich Schlegel und Ludwig Tieck bis hin zur historisch-kritischen Novalis-Ausgabe. Dabei verwendete Hardenberg eindeutig die Schreibweise mit „A“ und das aus triftigem Grund, wie Knopf zeigt. Denn „Afterdingen“ spielt mit der dreifachen Bedeutung des Wortes „Ding“. Einmal verweist es auf die religiöse Dimension des Romans: „Afterdinge“ sind „Nachdinge“, also Nicht(-mehr)-Irdisches. Sodann meint es ein „Nach-Gericht“, also eine nachträgliche und abschließende Verhandlung in einer bestimmten Angelegenheit. Und schließlich thematisiert der Roman – das zeigt Knopf im der Edition beigegebenen Interpretationsband – „Poesie und Poetik“, mithin also Worte und „Nach-Worte“, die ihrerseits wieder stark an die „Nachdinge“ zurückgebunden werden.

Aus diesem dreifachen Grund also – von der bloßen Tatsache des Schriftbefunds ganz zu schweigen – firmiert die bei Stroemfeld erschienene Edition unter dem Titel Heinrich von Afterdingen. Sie versammelt alle zum Afterdingen-Projekt gehörenden Textträger, bietet also neben dem Text der Erstausgabe (die den einzig vollendeten, ersten Teil des Romans zugänglich machte) auch die überlieferten handschriftlichen Entwürfe, die sich vor allem auf den unvollendeten zweiten Teil beziehen. Im Editionsbericht rechtfertigt Knopf diese umfassende Neuedition mit der Inkonsistenz und der Ungenauigkeit der alten historisch-kritischen Ausgabe, die er in einem umfangreichen Variantenapparat nachweist. Seiner These, dass der Erstdruck den Vorstellungen des Dichters am ehesten entspreche, ist zuzustimmen, dem von ihm vorgelegten Text also der Vorzug zu geben – nicht zuletzt wegen der Offenlegung aller Emendationen.

Interessanter jedoch ist die Edition der Handschriften, die, wie es bei Stroemfeld üblich ist, die Originale reproduziert und auf der gegenüberliegenden Seite eine zeichengenaue Umschrift bietet. Knopf schließt damit an die editorische Praxis von Roland Reuß an, der denn auch die Betreuung der als Dissertationsschrift fungierenden Edition/Interpretation übernommen hat. Knopfs Umschrift ist in ihrer intuitiv erfassbaren Struktur besonders verdienstvoll; er benötigt lediglich zwölf textkritische Zeichen, um die Manuskripte ins Druckbild zu übersetzen. Wegen dieser Übersichtlichkeit bei gleichzeitiger Gründlichkeit ist seine Edition den früheren, insbesondere auch der wichtigen, von Sophia Vietor vorgenommenen Astralis-Edition, vorzuziehen. Zu bedauern ist lediglich, dass darauf verzichtet wurde, die einzelnen Manuskripte durch Zwischentitel leichter erkennbar zu machen oder wenigstens ein detailliertes Inhaltsverzeichnis beizugeben; so muss man die Textträger anhand der Autopsie im Anhang zuordnen, was die übrige Handlichkeit der Ausgabe doch schmälert.

Die Edition, so Knopf, „schafft die Grundlagen für die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Text, weil sie, indem sie ihn konstituiert, den Text selbst ,schafft‘“. Die Faksimile-Edition als besondere Variante der Edition „nötigt den Leser, sich mit den manifesten Ambivalenzen, den Diskontinuitäten, kurz: dem rohen Material auseinanderzusetzen, das noch alle Spuren seiner Entstehung an sich trägt“. Sie geht in diesem Sinne über die bloße Textkonstitution hinaus und nähert sich dem, was Christian Benne jüngst in seiner klugen Monografie zur Entstehung des Manuskripts gefordert hat, nämlich einer Rückbesinnung auf den materiellen Charakter der literaturwissenschaftlichen Objekte – eine Forderung, die die Literaturwissenschaft von der ,Textwissenschaft‘ wieder zur ,Philologie‘ transformieren und damit der Editionsphilologie eine zentrale Rolle in der Forschung zukommen lassen will. Freilich verharrt Knopf noch in der von Benne kritisierten Haltung, wenn er vom „Text“ spricht, den der Editor in seiner Arbeit herzustellen habe. Der Vergleich mit Bennes Position zeigt aber deutlich: Die Edition ist ihrerseits ein „Afterding“, ein „Nach-Gericht“. Sie urteilt über das, worüber schon geurteilt wurde, nämlich über die Manuskripte, aus denen sie ihren ,Text‘ gewinnt. Dieses Urteil wiederum gießt sie in weitere „Afterdinge“, in „Nach-Worte“, die, mit Peter Szondi gesprochen, das Werk nicht ersetzen können und sollen. Die Nachbearbeitung des Materials in Form der Edition tritt neben das Original, nicht an seine Stelle; der Paralleldruck von Transkript und Reproduktion macht das sinnfällig.

An diesem Punkt entsteht eine Entsprechung von wissenschaftlicher Arbeit und literarischem Werk. Denn der Heinrich von Afterdingen, das zeigt Knopf in seiner umfangreichen Interpretation des Romans, bietet dem Leser seinerseits vor allem „Afterdinge“, versucht er doch Hardenbergs Idee der „Poësie“ in eine Poetik umzusetzen, die dem abstrakten Ideal auf sprachlicher Ebene so nahe wie möglich kommen soll.

Knopf geht davon aus, dass dem Roman „eine Idee von ,Poësie‘ zugrunde“ liegt, „die nicht mehr das idealistisch gedachte Vermögen der produktiven Einbildungskraft zu ihrer Voraussetzung hat, sondern von den Quellen der christlichen Überlieferung gespeist wird“. Diese Prämisse leitet ihn bei seiner gründlichen, teilweise zum anregenden close reading sich zuspitzenden Analyse des Afterdingen. Er referiert den sprachphilosophischen Stand im Zeitraum der Entstehung und verortet Novalis‘ eigene Position in diesem Diskurs, die sich etwa so umreißen lässt: Sprache ist die einzige Möglichkeit einer Kommunikation des Ich mit allem Äußeren und zugleich die Form des Bewusstseins, weil alles Denken sprachlich ist. Da der Mensch sich aber immer schon in der Sprache findet, eine natürliche und damit historische ,Erfindung‘ der Sprache also auszuschließen ist, muss es sich um eine von Gott kommende Gabe handeln, eine Offenbarung, derer der Mensch teilhaftig wird.

Das Wissen um die metaphysische Abkunft der „*Dinge“, also der Worte, geht Heinrich zu Beginn des Romans verloren – seine anfängliche Sprachlosigkeit ist dafür das äußere Anzeichen. Knopf zeichnet detailliert den Verlauf der Handlung nach und macht plausibel, dass Heinrichs Reise immer nur das Ziel hat, ihn wieder zur Sprache zu führen, ihn also wieder an der Offenbarung teilhaben zu lassen. Zugleich überträgt der Roman dieses Handlungsschema auf sich selbst, indem er vom Wesen der „*Dinge“ in „Afterdingen“ spricht, also in den konkreten Wörtern, die Hardenberg auf das Papier gebracht hat. In ihrer sprachlichen Gestaltung vollzieht die Erzählung das Erzählte nach – die Anordnung der Gedichte, insbesondere der Astralis-Verse steigert nicht nur den sprachlichen Ausdruck, sondern bezieht selbst wieder Stellung zur Verhandlung von Sprachlichkeit im Roman, der damit ein Kommunikationsangebot an den Leser formuliert, das dieser annehmen oder ablehnen kann, wobei die Annahme bedeutet, Heinrichs Offenbarung nachzuvollziehen. Es ist die „Poetik“ des Afterdingen, sich der Metaphysik der „Poësie“ auf diesem selbstreflexiven Wege zu nähern, dies aber zugleich nach außen zu vermitteln, sodass auch andere daran partizipieren können.

Knopfs Interpretation schreibt sich, das macht die Anlage des Romans unumgänglich, in diese Poetik ein. Denn indem er die Kommunikationsstragie logisch deduziert, also in „Nach-Worten“ die „Worte“ des Afterdingen erklärt (die, wie gesagt, ihrerseits nur „Nach-Worte“ der „Poësie“ sind), schafft er einen neuen Zugang zum Offenbarungskreislauf der selbstreflexiven Sprache. Zu diesem Zweck bedient er sich der Wörter, die die Edition darbietet und die ihrerseits im „Nach-Gericht“ des Editors zubereitet wurden, da „der materielle Aspekt der Texte, ihre Schriftlichkeit, durchaus in einen Bezug zur ,Poësie‘ als Geist zu setzen“ ist. Die Schrift als Trägerin der Sprache und die Sprache als Trägerin des Geistes sind die Grundvoraussetzungen der Offenbarung (im Roman) wie auch der philologischen Exegese (in Edition und Interpretation). Die Komplexität des Verhältnisses zwischen der Interpretation und ihrem Objekt (sowie die gleichzeitige Offenlegung dieses Verhältnisses durch die Interpretation) garantiert auf diesem Weg deren Stimmigkeit. Keine leichte Lektüre, aber eine faszinierende.

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Friedrich von Hardenberg: „Begeisterung der Sprache“. Heinrich von Afterdingen. Textkritische Edition und Interpretation.
Zwei Bände im Schuber. Herausgegeben von Alexander Knopf.
Stroemfeld Verlag, Frankfurt a. M. 2015.
600 Seiten, 58,00 EUR.
ISBN-13: 9783866002463

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