Eine dauernde Konfrontation

Dieter Lamping reflektiert über den jüdischen Diskurs in der deutschen Literatur des 20. Jahrhunderts

Von Alfred BodenheimerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Alfred Bodenheimer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Frage, was eigentlich als deutsch-jüdische Literatur zu bezeichnen ist, hat in den vergangenen hundert Jahren verschiedene Antworten gefunden. Im Wissen um die methodologischen Fallen, die sich hinter dieser Frage verbergen, räumt Dieter Lamping ihr in der Einleitung zu seiner Studie über den jüdischen Diskurs in der deutschen Literatur des 20. Jahrhunderts breiten Raum ein. Das führt ihn zunächst zu folgendem Schluß: "Entscheidend für die Zuordnung eines Autors zur jüdischen Literatur deutscher Sprache ist nicht seine Herkunft, sondern sein Selbstverständnis." Mit Elisabeth Langgässer und Rudolf Borchardt als Gegenbeispielen macht er auch deutlich, wie er diese Zuordnung versteht.

Doch schon seine weitere Differenzierung läßt bedauern, daß Lamping nicht konsequent beim klug gewählten Untertitel seines Buches, beim Ausdruck vom "jüdischen Diskurs" bleibt, sondern ihn eben mit dem der "jüdischen Literatur" vermischt. Wenn er nämlich über Autoren schreibt, die mit Teilen ihres Werks explizit jüdische Themen behandelt haben (wie Heinrich Heines "Rabbi von Bacherach" oder Wassermanns "Mein Weg als Deutscher und Jude"), mit anderen Teilen jedoch überhaupt nicht, so wäre hier die Behauptung angemessen, nur ein Teil ihres Werkes zähle zum jüdischen Diskurs. Lamping spricht jedoch Heines "Buch der Lieder" und dem "Fall Caspar Hauser" Wassermanns die Zugehörigkeit zur jüdischen Literatur überhaupt ab. Das ist problematisch, denn es versperrt die Möglichkeit, den Subtext solcher Werke zu lesen. Daß Wassermann selbst den "Caspar Hauser" nicht der jüdischen Literatur zurechnete, wie Lamping betont, verschärft das Problem eher als es zu lösen. Denn gerade die Außenseiterrolle Kaspar Hausers und das Versagen der ihn umgebenden Gesellschaft bei seiner Integration wären durchaus interessant als Metapher für die Existenz des deutschen Judentums lesbar. Eleganter wird das Problem bei Kafka gelöst: Indem seinem literarischen Werk auch die Tagebücher und Briefe zugerechnet werden, zählt es insgesamt zur jüdischen Literatur; wären die Erzählung und Romane, die jüdische Themen nie explizit beinhalten, allein für Lamping noch nicht jüdische Literatur, so grenzt er sie doch nicht ausdrücklich aus dem als jüdisch betrachteten Gesamtwerk aus.

Wo das Buch exemplarisch wird - etwa bei der deutschen und deutsch-jüdischen Heine-Rezeption oder bei der Behandlung von Celans "Todesfuge" - liegen seine Stärken. Bei dem Heine-Bezug Yvan Golls etwa, bei der Untersuchung von Celans Heine-Rezeption und bei seinen Ausführungen über den kontrafaktischen Bezug der "Todesfuge" zum biblischen "Hohenlied" vermittelt Lamping interessante Einsichten. Konzis und das Wesentliche erfassend ist auch seine Darstellung verschiedener Reaktionen und Verarbeitungsmuster des Exils nach 1933 und die schwierige Selbstpositionierung jüdischer Autorinnen und Autoren zwischen deutschem und jüdischem Exil. Dasselbe kann für die Gegenüberstellung von Günter Grass und Heinrich Böll einerseits und Alfred Andersch andererseits bei ihrer Gestaltung jüdischer Figuren in der deutschen Nachkriegsliteratur gesagt werden, wie auch zu den Bemerkungen zur jüdischen Rezeption von Anderschs "Efraim" von 1967 (eine Bemerkung Lampings zu Anderschs nicht durchwegs unproblematischem Verhalten während der NS-Zeit, insbesondere gegenüber seiner jüdischen Frau, wäre jedoch angesichts der Würdigung seines Romans angebracht).

Besonders komplex wird das Sprechen über den jüdischen Diskurs bei den Autoren der Nachkriegszeit. Wolfgang Hildesheimers "Tynset", Peter Weiss' "Abschied von den Eltern", auch Erich Frieds Gedichtzyklus "Höre Israel" wären hier zu nennen. Bei ihnen wird nicht nur die Rede von der jüdischen Literatur, sondern auch die vom jüdischen Diskurs brüchig - eine Problematik, die Lamping am Beispiel von Grete Weils Werk schildert. Das Judentum als reine "Schicksalsgemeinschaft", wie Hildesheimer es genannt hat, begründet dabei eine neue, vielfach gebrochene Art jüdischen Diskurses. Allerdings hätten Jurek Becker und Edgar Hilsenrath eine ausführlichere Behandlung verdient als ihnen hier zuteil wird. Die Bemerkung Lampings, bei beiden könne "von deutsch-jüdischer Literatur im herkömmlichen Sinn nicht mehr die Rede sein", sondern sie erwiesen sich in der Darstellung der jüdischen Vernichtungserfahrung "als jüdische Literatur deutscher Sprache", läßt aufscheinen, daß durchgängige Differenzierungsmerkmale über "jüdische Literatur" bzw. eben "deutsch-jüdische Literatur" nicht von Kafka bis in die Nachkriegszeit anwendbar sind. Daran können auch die eher dünnen Aufgüsse über heutiges deutsches Judentum von Maxim Biller oder Rafael Seligmann nichts ändern, die eine neue deutsch-jüdische Literatur anstreben. Ihnen widmet Lamping am Ende wieder mehr Raum, denn hier wittert er "den Beginn einer neuen jüdischen Literatur in Deutschland nach dem Holocaust". Nun ist jüdisches Leben in Deutschland unterschwellig aber dauernd mit der Tatsache konfrontiert, im Land der Mörder zu leben - einer Tatsache, die jenen eigentümlichen Zynismus gegenüber dem eigenen Dasein hervorgebracht hat, der die Zugehörigkeitskrise zum Lebensinhalt etabliert. Ob die neue jüdische Literatur in Deutschland über diese Konfrontation hinauswachsen kann, wird sich erst noch erweisen müssen.

Titelbild

Dieter Lamping: Von Kafka bis Celan. Jüdischer Diskurs in der Literatur des 20. Jahrhunderts.
Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1998.
206 Seiten, 23,00 EUR.
ISBN-10: 3525012217

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