Von Willkommenskultur, Verstehensproblemen und Flüchtlingsquallen

Ein Essay zu den zeitgenössischen europäischen Flüchtlingsromanen „Gehen, ging, gegangen“ (2015) von Jenny Erpenbeck, „Assommons les pauvres!“ (2011) von Shumona Sinha und „The other hand“ (2008) von Chris Cleave

Von Johannes Kolja BadzuraRSS-Newsfeed neuer Artikel von Johannes Kolja Badzura

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Flüchtlingsfrage werde von einem „heftigen“ Meinungsstreit begleitet, so Bundespräsident Gauck in seiner Weihnachtsrede 2015. Einerseits sehe er das „Gesicht eines warmherzigen und menschlichen Landes“, andererseits die „Angriffe auf wehrlose Menschen“. In der gegenwärtigen Debatte variieren politische Äußerungen genauso wie die Flüchtlingsbilder in den Medien. Manchmal scheint die europäische Idee vor dem Ende, so weit driften in Europa die Ansichten zur Flüchtlingskrise auseinander.

Drei „neuere“ Flüchtlingsromane aus Frankreich, Deutschland und Großbritannien zeigen, dass in Westeuropa über Flüchtlinge auch auf unterschiedliche Weisen geschrieben wird. Freilich sind die zwischen 2008 und 2015 veröffentlichten Texte noch keine unmittelbaren Reaktionen auf die Flüchtlingsströme, die seit letztem Sommer in Europa ankommen oder eben vor Ländergrenzen zum Halten gebracht werden. Ebenso wenig ist die Flucht ein völlig neues Thema in der europäischen Literatur (man denke nur an Aeneas‘ Entrinnen aus dem brennenden Troja) und es lässt sich wohl auch bezweifeln, dass die Autor*innen das Ausmaß der heranziehenden „Flüchtlingskrise“ schon in den letzten Jahren vorausgeahnt haben. Dennoch thematisierten ihre Flüchtlingsromane bereits Probleme und Spannungsverhältnisse, vor denen Europa just in diesen Wochen steht. In den Stürmen und brisanten Wetterumschwüngen der gegenwärtigen Situation erhalten die literarischen Repräsentationen des Flüchtlingsthemas – und ihre politischen Untertöne – nun eine besondere Relevanz. Ihre Lektüre verfeinert die Sensibilität der Leser beim Umgang mit aktuell kursierenden Flüchtlingsbildern. Die Romane können in der gegenwärtigen Flüchtlingskrise helfen.

Jenny Erpenbecks willkommener Wilkommenskultur-Roman

Auch Jenny Erpenbecks Roman Gehen, ging, gegangen, der im Herbst 2015 erschienen ist und nur knapp in der Finalrunde des Deutschen Buchpreises scheiterte, wird die Ereignisse des letzten Sommers noch nicht eingefangen haben. Die Geschichte des Romans, der einen Hungerstreik von Flüchtlingen am Berliner Oranienplatz im Jahr 2013 zum Thema hat, ist schnell erzählt. Ein deutscher, gutbetuchter Pensionär gerät aus seinem langweiligen Alltag plötzlich in den Sog erschütternder afrikanischer Flüchtlingsschicksale, die ihn nicht mehr loslassen.

Erpenbecks Roman hat keinen Höhepunkt. Erzählt werden hier vielmehr die zahlreichen Begegnungen und Missverständnisse in einem kleinen alltäglichen Rahmen, den die Autorin gekonnt absteckt. Ihr Held, der emeritierte Altphilologie-Professor Richard, fragt sich, ob die Strickjacke für sein neues Rentnerdasein angemessen sei und von welcher Seite man am besten eine Zwiebel schneide. Gerade in diese belanglose Öde brechen die fremden Flüchtlinge ein, an denen Richard zunächst vorbeigeht, ohne sie wahrzunehmen. Bald stürzen aber ihre ghanaischen und lybischen Geschichten über den Pensionär, der nun seine Zeit mit Deutschkursen – daher die Verb-Tempus-Bildung im Buchtitel – und Behördengängen für Flüchtlinge füllt.

Flüchtlingshilfe also als Lebensinhalt für den Bildungsbürger. Leider erreicht die Aufopferung Richards utopische Höhen, die an Erpenbecks nüchternen Text eine allzu eindeutige Moral hängen, welche der Leser nur schwer aushält. Auf der letzten Seite mündet der Roman gar in einen Appel zum Spenden. Als hätte der Leser das Buch noch nicht verstanden, wird ihm eine Flüchtlingsspendennummer beigelegt. Dabei wurde ihm die ethische Verantwortung bereits in den knapp 350 Seiten exemplarisch von Richard vorgespielt, der nicht nur eine Reihe von Flüchtlingen zur Weihnachtsgans in sein Apartment einlädt, sondern auch für Karons Familie ein 3.000 Euro teures Grundstück in dessen ghanaischer Heimat kauft. Schmunzelnd denkt der ostdeutsche Goetheliebhaber dabei daran, dass er sich bis vor Kurzem einen „Aufsitzrasenmäher“ für den gleichen Preis anschaffen wollte. Gerade diese klischeebeladenen und überspitzten Vergleiche sind in ihrer Unmissverständlichkeit kaum erträglich. Wenn Richards Wochen-Erledigungszettel mit den Worten „Monteur für Reparatur Geschirrspüler bestellen; Termin beim Urologen ausmachen; Zähler ablesen“ neben eine ghanaische Erledigungsliste („Korruption, Vetternwirtschaft und Kinderarbeit in Ghana abschaffen“) für seinen jungen Freund gestellt wird, hat der Leser schon lange den Gegensatz zwischen harmlosen deutschen Alltagssorgen und gravierenden Krisen in Afrika verstanden.

Die Skizzierung dieses Gegensatzes ist gewiss nicht unberechtigt, jedoch treibt es Erpenbeck zu weit, wenn sie dem Leser immer wieder die schroffen Unterschiede zwischen dem deutschen Bildungsbürger und den teils nicht alphabetisierten Flüchtlingen, die „nur Sterne lesen“ können, vergegenwärtigt. Der intellektuelle Rentner lädt Osarobo zum Klavierspielen ein und denkt bei dem stümperhaften Klimpern des Jungen aus Niger, dass in der „abendländischen Musiktradition“ schon seit 600 Jahren „Quintparallelen“ verboten seien. Dabei heißt es über Osarobos „schwarze Hand“: „die Hand ist fremd hier und kennt sich nicht aus. (…) Mit aller Anstrengung erreicht Osarobo nicht, dass die Anstrengung aufhört. Wo beginnt Mozart?“. Einem nur Italienisch sprechenden Flüchtling hat Richard nichts Geeigneteres zu leihen, als den ersten Band von Dantes Divina Commedia. Da der Pensionär vergebens versucht, sich die „fremden Namen der Afrikaner“ zu merken („die Haare und Gesichter sind ja alle so schwarz“), benennt er sie nach Figuren aus abendländischen Mythen und Epen. Der Ghanaer Awad wird für ihn zu Tristan, andere Flüchtlinge nennt er Apoll oder Hermes.

Diese Szenen müssen den Leser leider an eurozentrische Überlegenheitsdiskurse erinnern. Glücklicherweise verhindert Erpenbeck aber das Schlimmste, denn ihr belesener Held wird sich mitunter seiner Machtlosigkeit bewusst. Die Gespräche mit jungen Afrikanern, bei denen er beflissentlich Notizen macht, verrücken für ihn den Götterhimmel. Als er Herodot mit neugewonnener Wachsamkeit liest, erkennt Richard, dass die Vorfahren der Tuareg den Griechen das Streitwagenlenken gelehrt haben und dass Europa erst von afrikanischen Berberfrauen die Poesie erlernt hat. Die Konfrontation mit dem Fremden führt hier zur Hinterfragung des Eigenen. Richard fühlt sich im Zimmer mit den Möbeln seiner Kindheit plötzlich völlig fremd. Wenn er den Flüchtlingen vom Holocaust erzählt, ertappt er sich dabei, wie er vor der Ahnungslosigkeit der Afrikaner von einem Deutschland vor 1933 träumt und sich manchmal damit begnügt, die Afrikaner in ihrem Glauben, dass Deutschland „beautiful“ sei, zu belassen. Eher widerwillig korrigiert er einen Flüchtling, der glaubt, die Berliner Mauer sei vom Westen gebaut worden, um Ostdeutsche am Eindringen zu hindern. Erpenbecks Roman zeigt hier, wie die Begegnung mit Flüchtlingen zu einer Herausforderung werden kann, bei der die „Willkommensgesellschaft“ auch über sich selbst nachdenken muss.

Der Leser von Gehen, ging, gegangen wähnt sich manchmal in einer Dokumentation über die Lage in deutschen Flüchtlingsunterkünften, Fluchtmotive und Asylgesetzgebung. Dies ist aber gewiss kein Nachteil des Textes, in den Erpenbeck auch Gesetzesparagraphen und Senatsbeschlüsse einstreut. Sie schildert präzise, wie unbeholfen Richard sich dem Unvertrauten nähert. Er liest, wie Lüderitz die Kolonie Deutsch-Südwestafrika gründete, und sucht im Atlas nach Burkina Faso. Weiter bringt ihn das nicht und das ist das Gute an diesem Roman! Meisterhaft lässt Erpenbeck den Leser in Richards unsichere Gedankenwelt eintauchen. Er ist heilfroh, mit den Afrikanern Englisch zu sprechen, zumal er sich so nicht zwischen deutschem Duzen und Siezen entscheiden muss, und ärgert sich, wenn die „Schwarzen“ sich bei ihm nicht bedanken. Alte Abenteurer-Afrikabilder verstellen ihm immer noch einen Dialog auf Augenhöhe, als er in einem Deutschkurs eine exotische Prozession sieht. Herausragend sind dabei zahlreiche Metaphern für das Scheitern des Verstehens, wenn Erpenbeck einsilbige Dialoge in einer tristen Bäckerei mit falschem Milchschaum und unangerührtem Cappuccino untermalt.

Auf anderen Ebenen meditiert Gehen, ging, gegangen über den Gedanken des Fortschritts, das Älterwerden, die deutsche Vergangenheit und das Leben eines Ostberliners nach dem Mauerfall. Jedoch bildet die Begegnung mit den Flüchtlingen unbestritten das Zentrum des Textes. Die bruchstückhaften Geschichten der jungen Afrikaner, welche die Autorin in unzähligen Gesprächen mit Flüchtlingen gut recherchiert hat, machen den Roman interessant. Jedoch bleiben die jungen Geflüchteten im Text nahezu ausschließlich ehrliche, anständige – lediglich einmal verdächtigt Richard einen Flüchtling des Diebstahls –, aber vor Allem hilflose Objekte, in denen der belesene Westeuropäer einen neuen Lebensinhalt findet und die er unbedacht als „Amsel, Drossel, Fink und Star“ bezeichnet. Wenn Erpenbeck die ethische Vorbildfunktion von Richards „Flüchtlingspraxis“ nicht so eindeutig auftischte, würde man lernen, dass es auch der Willkommenskultur nicht immer gelingt, europäische Überlegenheitsgefühle abzustreifen und Verstehensprobleme zu beseitigen. Erpenbeck hat beinahe aus Versehen den von vielen herzlich willkommen geheißenen Roman der Stunde geschrieben. Wohlwollend könnte man ihn, wie Literaturwissenschaftler es gerne tun, als „welthaltig“ bezeichnen. Schließlich erfährt der Leser in dem mitunter poetischen aber meist nüchtern gehaltenen Text, wie Jesu Geburt im Koran geschildert wird, in welchem Land man Arlit spricht, was „Großmutter“ auf Ghanaisch heißt und welches Land vom französischen Konzern Areva ausgebeutet wird. Den Deutschen Buchpreis gewann Gehen, ging, gegangen zu Recht aber nicht. Dafür hat es zu wenige Risse, obwohl die Autorin richtige Fragen stellt. Vielleicht braucht Europa in der gegenwärtigen Lage eine littérature engagée. Diese sollte jedoch auf überzogene Vergleiche und auf ein derart utopisches Romanende, in dem sich die ganze Bildungsbürgerschicht um Richard der armen aber austauschbaren Flüchtlinge annimmt, verzichten.

Sinhas eigenwillige Prosa der Wut und der Schlag auf den Schädel eines Flüchtlings

Ganz anders – aber ähnlich austauschbar – zeichnet Shumona Sinha die Flüchtlinge in Assommons les pauvres!, dem bereits zum „dunklen Zwilling“ von Erpenbecks Wilkommenskultur-Hymnus erkorenen französischen Roman. Dreiste Flüchtlinge werfen sich hier „wie ungeliebte Quallen“ an Europas Strände und spucken ihre Lügen aus. Der nur etwa 130 Seiten zählende Roman erschien bereits 2011 in Frankreich. Als sei er aber gerade für den Flüchtlingskrisen-Sommer in der Bundesrepublik bestimmt, wurde seine deutsche Übersetzung Erschlagt die Armen! im August 2015 vom Nautilus-Verlag ins Feld geschickt.

Sinhas Roman ist einzigartig und unbequem. Trotzdem ist er ein Glanzstück poetischer Prosa, in dem die Einwanderung von Menschen mit anderen kulturellen Hintergründen durchaus als potenzielle Bedrohung für die europäische Kultur vorgestellt wird. Aber der Reihe nach. Assommons les pauvres! (1869), genau so heißt ein postum veröffentlichtes Prosagedicht von Baudelaire, in dem ein Mann einen Bettler schlägt. Bei Sinha – fast anderthalb Jahrhunderte später – ist es eine namenlose Ich-Erzählerin, die in einer Pariser Metro einen Asylbewerber niederstreckt. Ein satter Schlag mit der Weinflasche, in dem sich die in der Flüchtlingsfrage aufgestaute Ratlosigkeit brüsk entlädt.

Der Roman beginnt in einer Zelle. Dort sitzt die reuelose Täterin, die nun über den rätselhaften Schlag, die Geschichte ihrer Entwurzelung und über Flüchtlingsfragen nachsinnt. Vor ihrer Inhaftierung hatte sie als Dolmetscherin in einer grauen Asylbehörde der Pariser Peripherie gearbeitet, wo sie die Stellungnahmen südasiatischer Migranten aus ihrer Muttersprache (Bengalisch) übersetzte. Nun ist es an ihr, sich vor einem Monsieur K. – eine unverkennbare Referenz zu Kafkas absurdem Prozess – zu verteidigen.

Vor der Folie kafkaesker Verstrickungen soll man die Flüchtlingsthematik also lesen. Was aber ist der widersinnige Kern der Flüchtlingsfrage, der letztlich die Erzählerin so rat- und sprachlos lässt, dass sie mit ihrem Zeigefinger keinen Namen mehr an die beschlagene Zellenscheibe schreiben kann? Da Elendsflüchtlinge ausgesperrt blieben, so die Erzählerin, gäben sich Migranten vor europäischen Richtern als politisch oder religiös Verfolgte aus. In Europa ließe sich dann kaum noch die Wahrhaftigkeit der Flüchtlingsgeschichten feststellen. Daraus schlussfolgernd nennt sie das europäische Asylsystem eine „Lügenfabrik“.

Nun kann man hinter dieser Idee eine herkömmliche Kritik an administrativen und die hilflosen Flüchtlinge unterdrückenden Strukturen vermuten. Sinhas Ansatz ist aber ein interessanterer. Flüchtlinge sind in ihren magisch-ambivalenten Zeilen keinesfalls so schuldlos und moralisch unbefleckt wie bei Erpenbeck. Verantwortlich hierfür ist zwar auch das europäische System, welches das Wort „misère“ (Elend) verbiete, aber kaum minder strafwürdig seien die Flüchtlinge selbst. In schonungslosen Sätzen wird beklagt, dass Migranten bei Schleppern neue Lebensgeschichten kauften, um sich glaubhaft als Flüchtlinge zu präsentieren. Angekommen in Europa „kotzten“ sie ihre retuschierten oder gleich gänzlich erfundenen Erzählungen vor den Gerichtshöfen aus und rieben sich dort heimlich Zwiebeln in die Augen, um durch künstliche Tränen Mitleid zu erwecken.

Die Erzählerin kann nicht mehr hinhören, so sehr vermischt sich in ihrem Kopf das Lispeln der sich immer ähnelnden Flüchtlingsberichte zu einem nebulösen Chaos. Die Migranten – noch „dunkler als ihre Schatten zur Mittagszeit“ – brauen sich zu einer bedrohlichen Regenwolke zusammen, die jeden Moment auf die Stadt einprasseln kann. Die „Märchen der menschlichen Zugvögel“ haben „gebrochene Flügel“ mit „schmierigen, stinkenden Federn“; ihr Motor ist das „Verlangen nach dem weißen Horizont“. Wahrheit kann nun nicht mehr von Lüge unterschieden werden und die Erde ist eine im Schlamm planschende, grunzende Muttersau, welche ihre zahlreichen Ferkel nicht ernähren kann.

Die poetische Dichte von Sinhas Sätzen ist schön, obwohl sie vom Unschönen spricht. Man erlaubt es ihr wohl, Flüchtlinge animalisch zu zeichnen, weil die 1973 in Kalkutta geborene Autorin von ihren Landsmännern und eben nicht allein aus der Position europäischer Stärke heraus spricht. So ist es kein überheblicher europäischer Blick auf minderwertige Migranten, sondern eher dessen literarische Entlarvung. Alle Flüchtlinge werden zu Wildtieren, Fischen, Wolken, Bisons und Quallen, die aus ihren Höhlen herauskommen. Sinhas Ausgangspunkt dafür ist ein Zitat, demzufolge das griechische Wort für Freiheit sich einst auf Wildtiere jenseits der Zäune bezog. Die Wildheit der Flüchtlinge wird aber nun an den Schreibtischen der Asylbehörde gezügelt. Die von müden Fliegen umschwirrten Blutpfützen der asiatischen Straßen, die Flussarme und die „offenen Schenkel des Wassers, boshaft und ausschweifend wie eine Hure“; all die Flüchtlingsgeschichten werden feinsäuberlich in Word-Dateien formatiert. Dabei überführen Richter regelmäßig Migranten der offensichtlichen Lüge, wenn z.B. ein vorgeblich verfolgter Christ nicht weiß, was Weihnachten ist. Die Erzählerin ekelt sich im Besonderen vor frauenverachtenden südasiatischen Eindringlingen, welche mitnichten akzeptieren, dass ausgerechnet eine Frau ihre Anträge übersetzt.

Wenn das Gehirn der Erzählerin von Flüchtlingsgeschichten wie ein Mülleimer überquillt, dann trifft sie sich mit den Männern der Stadt, um „das Ende der Worte“ und den „Anfang der Körper“ zu feiern. Beim Casual Sex wird aber auch der westeuropäische Mann zum wilden „Terrier“, der gleich mit der ganzen Hand in sie eindringt, wie um einen „Fischbauch“ zu leeren. Dem Männlich-Barbarischen stellt sie ihre weibliche „Philosophie des Unterleibes“ und die homosexuelle Liebe zur Beamtin Lucia entgegen. Die Kollegin – „neutral wie eine Landschaft in der Dämmerung, ein verschneiter Berggipfel, überzogen mit rosafarbenen Leuchten“ – kann der Erzählerin ihre lähmende innerliche Leere aber nicht nehmen und auch ihre bengalischen Eltern werden für sie nun unerreichbar. Die erstickte Stimme des Vaters kann sie nur noch als in einem Tunnel rumorenden Wind vernehmen.

Die von ratloser Ohnmacht angesichts der Flüchtlingsfrage befallene Erzählerin formuliert nun in ihrer Zelle eigenwillige und traurige Sentenzen. „Das Leben ist ein öffentliches Schwimmbad. Schmutzig und voller Eindringlinge.“ Einsame Monologe können sich nicht mehr zu Dialogen entwickeln und die wuchernden Wörter sind etwas „fast Biologisches“. Auch das Leben der Erzählerin wird nun in ein administratives Formular von Monsieur K. gezwängt. Ein Urteil bleibt jedoch aus, denn der Leser muss es selbst fällen.

Sinhas Skandalroman polarisiert. Die 2001 nach Paris migrierte Autorin, die ebenso wie ihre Protagonistin als Übersetzerin in einer Asylbehörde arbeitete, verlor nach der Publikation ihres Romans ihren Arbeitsplatz. Sie hatte zwar keinen Flüchtling geschlagen, ihre poetische Prosa muss aber als schallende Ohrfeige gegen die europäische Asylpolitik gelesen werden. Es ist eine brillante und atemberaubende Maulschelle, die Baudelaires Spuren standhält und diese mit weiblichem Zorn bereichert. Die eigenwillige Bildersprache mag mancher als unangemessen für das Thema empfinden. Der Dunst nach Urin, Schweiß und Gewürzen stinkender Flüchtlinge lässt in den Büros „langsame, regenschwere Wolken […] wie Kühe umherstreifen“ und schwankende Kokospalmen „über das dunkle Himmelsschild wischen“. Kapitelüberschriften wie „Die Nacht bleibt vage wie Anouk Aimé“ heben die Kluft zwischen magischer Sprache und abstoßendem Inhalten weiter aus, die auch auf formaler Ebene die schwierige Übersetzungsarbeit der Erzählerin „zwischen den Erdplatten“ problematisiert, die auch gerade in Europa geleistet werden muss. Sinha ist es gelungen, die Komplexität des Flüchtlingsthemas ohne einseitige moralische Verurteilungen hochpoetisch zu verarbeiten, dabei sowohl die von „kulturell fremden“ Flüchtlingen ausgehenden Bedrohungen als auch die Absurditäten europäischer Asylgesetzgebung anzuzeigen. Ihr glänzender Roman – der gegenwärtig ambivalenteste und zauberhafteste Flüchtlingsroman – offenbart, wie verstrickt die Flüchtlingssituation war und wohl immer noch ist.

Chris Cleave und der unheimliche nigerianische Strand

Kann man als Europäer aus der Perspektive eines Flüchtlingsmädchens schreiben, darf ein weißer privilegierter Mann aus der Sicht einer schwarzen Nigerianerin einen Roman verfassen?

Little Bee (2009) – so der Titel der deutschen Übersetzung des 2008 erschienen britischen Romans The other hand – ist ein selbstsicheres „Ja“ auf diese Frage. Ein „Ja“, das seinem Autor durchaus Kritik einbrachte. Dem 1973 in London geborenen britischen Schriftsteller und Journalisten Chris Cleave wurde die Praxis kultureller Aneignung vorgeworfen, denn im Gegensatz zu Sinhas und Erpenbecks „Blicken von außen“ wird in Little Bee aus der Sicht einer Geflüchteten geschrieben. Gewiss wurde in Sinhas Schlagt die Armen! wie auch in Erpenbecks Gehen, ging, gegangen der Blick der Helden durch Migrationserfahrungen verrückt. Hier der Ostberliner Altertumswissenschaftler, der auf dem Weg nach Spandau immer noch eine imaginäre Grenze überschreitet, dort die Über-Setzerin zwischen den Welten, die aber lange bereits den Status einer Asylbewerberin hinter sich gelassen hat. Doch in beiden Texten wird meist aus externer Perspektive auf Flüchtlinge geblickt, während Cleave dezidiert aus der Innenperspektive einer jungen Nigerianerin schreibt. Neben Sinhas rätselhaften Sätzen ist Cleaves Intention dabei klar. Indem er seinem Text ein Zitat des britischen Innenministeriums mit einer orthographischen Unreinheit vorausschickt, wird sein Credo deutlich: Eine Regierung, die nicht einmal das Wort „Flüchtling“ korrekt schreibe, könne kaum eine gute Einwanderungspolitik betreiben.

Little Bee ist die Geschichte des gleichnamigen Flüchtlingsmädchens. Auf einem Dampfer zwischen Teesäcken versteckt, ist Little Bee der Gewalt aus Nigeria entkommen. Nach Jahren in einem grauen südenglischen Abschiebegefängnis kommt sie im Londoner Südwesten bei der britischen Mode-Journalistin Sarah O’Rourke unter. Geschildert wird nun die Begegnung zweier Welten. Die Protagonistinnen seien wie durch „Photoshop zusammengeschustert“ worden, so heißt es. Abwechselnd erzählen die junge Nigerianerin und die britische Mittelschichtsmutter jeweils in ihrem eigenen Tonfall ihre geheimnisvoll ineinander verwobenen Geschichten.

Hier also die illegale Einwanderin Little Bee, aus einem gottverlassenen Dorf am Nigerdelta, die ihren wahren Namen auf der Flucht ablegte, eine Vergewaltigung hautnah miterlebte und ihre posttraumatische Angst vor bösen Männern auch auf der britischen Insel nicht loswird. Daneben Sarah O’Rourkes allzu harmloses Leben, die Verhätschlungen ihres vierjährigen Sohnes; Routine-Sex, den sie als „Wartungsarbeit an einem Heizkörper“ empfindet, mit ihrem für die Times schreibenden Mann; dann und wann ein Stell-Dich-Ein mit einem öden Ja-Sager; Gespräche mit einer Kollegin über untypische Orgasmen.

Der Vergleich zwischen dem Dorf ohne Elektrik am Nigerdelta und den englischen Seidenrollos und Eiswürfelmaschinen würde sich eigentlich als stereotypbelastetes, altgedientes und oft bedientes Bild der Konfrontation von Fortschritt und Zurückgebliebenheit lesen. Aber Cleaves Geschichte, über der von Beginn ein Geheimnis schwebt, ist so spannend, dass der Leser die manchmal wenig virtuos inszenierten Unterschiede verzeihen kann. Subtil in den Text geflochtene Andeutungen lassen den Leser ahnen, dass Little Bee und Sarah sich bereits vor Jahren an einem unheimlichen Strand begegnet sind, als die Engländerin ihre Ehe im Ostnigeria-Urlaub „kitten“ wollte. Rätselhafte Bemerkungen zu Ländern und Regionen des Geistes, die man „auf Armeslänge“ von sich fernhalten sollte, und das Geheimnis um einen „fundamentalen Verlust“ am malariaverseuchten Nigerdelta, der Sarahs Gatten in tiefe Depressionen trieb, hellen sich erst kaum auf. Klar wird zunächst nur, dass Sarah damals am nigerianischen Strand einen Finger durch eine Stahlmachete verloren und dafür das Flüchtlingsmädchen „gewonnen“ hat.

Über dem Text und auch über Sarahs – und letztlich unserer – westeuropäischen Welt hängen fremde Nebel einer entfernten Gegend. Little Bee erinnert hier an Joseph Conrads berühmte – wenngleich nicht ohne die Züge rassischer Überlegenheit ausgekommene – Erzählung Herz der Finsternis (1899), an die Reise zu den horrorhaften Schreien im Dunkel des Kongostromes, über denen der Europäer in den Wahnsinn abgleitet. Bei Cleave fallen auf geheimnisvolle Weise die Ankunft der Nigerianerin und der Selbstmord von Sarahs Mann auf denselben Tag und bei der einzigartig detaillierten Schilderung einer Vergewaltigung bricht Sarah zusammen. Das trickreiche Wechseln der Erzählperspektive lässt hier kaum erkennen, ob die schrecklichen Ereignisse – deren Hintergründe und Motive der Autor etwas mager ausführt – von Sarah verstanden werden. Der Text stellt eindringlich die gerade in diesen Wochen so elementare Frage, ob die Lage in Afrika überhaupt für Europa begreiflich ist.

In Little Bee geht es aber auch um das konkrete Zusammenleben von Sarah und Bee in England, um das illegale Flüchtlingsleben in Europa. Wiederkehrende Motive in den Berichten beider Erzählerinnen machen dem Leser kulturelle Andersartigkeit erfahrbar. Während für Little Bee der Kampf ums Überleben alltäglich war, ringt Sarahs Sohn im Batman-Kostüm gegen imaginäre Feinde aus Gotham City. Über den Irak-Krieg kann Sarah gar schmunzelnd sagen: Der Krieg „hatte in dem Monat begonnen, in dem mein Sohn geboren wurde, und sie sind gemeinsam aufgewachsen. Zuerst waren beide ein Riesenschock und verlangten ständige Aufmerksamkeit, doch mit der Zeit wurden sie selbstständiger, und man konnte sie auch mal eine Weile aus den Augen lassen.“ Little Bees selbstbewusste und ironische Anklage über Horrorfilme in europäischen Kinos liest sich, wie folgt: „In eurem Land ist Horror etwas, von dem man eine Dosis nimmt, um sich daran zu erinnern, dass man nicht daran leidet.“ Verschiedene Themen – wie Hoffnung, Freiheit und Zukunft – werden auf diese Art aus angeblich nigerianischer und typisch-englischer Sicht behandelt, um den Unterschied zwischen existenziellen afrikanischen Sorgen und dem offenbar unbekümmerten Leben in Westeuropa – wie bei Erpenbeck – vorzuführen. Dabei bricht der alte Gegensatz zwischen westlicher Zivilisation und afrikanischer Wildheit  leider gelegentlich in den Text ein, etwa wenn Bee in den ihr unvertrauten Autobahngeräuschen einen niederstürzenden Wasserfall zu hören glaubt und die britischen „Wunder“ (Parkettboden und Mobiltelefon) bestaunt.  

Die Kontraste zwischen vermeintlich „entwickelter“ und „unterentwickelter“ Welt wären hier kaum zu entschuldigen, wenn der Text nicht Momente hätte, in denen Little Bee auf clevere Art ihr interkulturelles Wissen in eine bizarre Kritik am europäischen Vorurteilsdenken ummünzen würde. Sie erkennt: „dass ich in eurem Land alles sagen kann, solange ich zufüge: So lautet ein Sprichwort bei mir zu Hause“. Ihr stechender Witz gewinnt leichtfüßig und herausfordernd die Leserherzen, wenn sie sich für ihr gutes Englisch entschuldigt. Ihr Wunsch, eine britische Pfundmünze zu sein, die problemlos Ozeane überquere, ist eine sowohl unorthodoxe wie auch groteske Kritik an der globalen Ausbreitung von Kapitalismus und Kolonialismus. Grotesk wie vieles in diesem besonderen Roman, der Gesellschaftskritik mit Ironie und Spannung verflicht. Ein wenig enttäuschend ist dann lediglich der etwas simple Romanschluss, wenn Sarah erkennt, „wie oberflächlich“ ihr Leben doch war. Sie begleitet die durch einen unglücklichen Zwischenfall von der britischen Polizei entdeckte und nun abgeschobene Little Bee zurück nach Nigeria. Dort will die Westeuropäerin, während Bee von nigerianischen Soldaten gefasst wird, die Leidensgeschichten der Menschen in der umkämpften Erdgas-Region aufschreiben. Auch Sarah also übernimmt, wie ihr Schöpfer Cleave, im Schreiben die Stimme hilfloser Menschen.

Der Leser dieses politischen Thrillers mit außergewöhnlichem Plot muss für sich entscheiden, ob Cleave die Stimme der Nigerianerin realistisch trifft. Unüberhörbar scheint gerade in ihrer mitunter nahezu essayistisch angelegten „Erste-Welt“-Kritik doch der künstliche und kratzende Akzent eines englischen Autors durchzuklingen. Oder liegt das an den Ohren der Leser? Scheitern wir vielleicht an der Vorstellung eines intelligenten und zwischen den Welten virtuos jonglierenden Flüchtlings? Cleaves Verdienst ist es, unserem Reservoir an Flüchtlingsbildern eine selbstbewusste Flüchtlingsfigur beigefügt zu haben. Little Bee unterscheidet sich von Sinhas und Erpenbecks Flüchtlingen, denn sie ist ein zwar traumatisiertes Subjekt, aber eben doch ein Subjekt.

Allen voran wirft Cleaves Roman die Frage auf, wie und aus welcher Perspektive über Flüchtlinge geschrieben werden soll. Viele zeitgenössische Autoren werden sie auf ihre Weise beantworten müssen, denn die europäische Literatur kann es sich nicht leisten, das aktuell dominierende Thema der Gesellschaft zu vernachlässigen. Zwar gibt es natürlich wertvolle Berichte von geflüchteten Schriftstellern selbst, aber angesichts des Ausmaßes der Flüchtlingskrise und der politischen Gemengelage braucht die europäische Gesellschaft auch eine Literatur, welche sich mit Geschichten von „Flucht“ und „Geflüchteten“ beschäftigt und sich ebenso Problemen des Umgangs mit dem Fremden wie der Vermittlung zwischen den Welten widmet. Sie kann und soll dabei Handlungsoptionen, aber auch ihr Gelingen und Scheitern aufzeigen, aufwühlen, Orientierungen schaffen, differenzierte Flüchtlingsbilder präsentieren, welche die mediale Berichterstattung detailliert ergänzen, und sie darf dabei auch spannend sein! Selbst wenn wir, Leser*innen, immer wieder unsere Augen von den bald faltigen Bücherseiten abwenden und auf die nackte europäische (und außereuropäische!) Wirklichkeit heften müssen, so zeigen uns Sinhas Quallen, Erpenbecks afrikanische Tristans und Cleaves „das Englisch der Königin“ sprechende Little Bee Wahrheiten. Wahrheiten in Romanwelten zwar, aber Wahrheiten, deren Vorbilder uns vielleicht in der Gegenwart begegnen.

Hinweis der Redaktion: Der Beitrag ist seit dem 26.4.2016 auch bei Literatur Radio Bayern zu hören.  

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Chris Cleave: Little Bee. Roman.
dtv Verlag, München 2014.
474 S. , 10,00 EUR.
ISBN-13: 9783423219075

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Shumona Sinha: Erschlagt die Armen! Roman.
Übersetzt aus dem Französischen von Lena Müller.
Edition Nautilus, Hamburg 2015.
127 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783894018207

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Jenny Erpenbeck: Gehen, ging, gegangen. Roman.
Knaus Verlag, München 2015.
351 Seiten, 19,99 EUR.
ISBN-13: 9783813503708

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