Mehr Mut zum lyrischen Wagnis

Zum Gedichtband „Jabkobsleiter“ von Anne Dorn

Von Nils BernsteinRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nils Bernstein

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Immer wieder wird behauptet, Lyrik habe es schwer und werde zu wenig gelesen. Maria Gazetti, bis 2010 Leiterin des Frankfurter Literaturhauses und mittlerweile an der Casa di Goethe in Rom, hatte zu dieser Larmoyanz eine griffige Antwort, denn genauso gut könne man doch auch sagen: „Wie, ihr lest keine Lyrik? Seid ihr wahnsinnig?“ Für einige – und hoffentlich werden es mehr – ist es wichtig, sich diesem Wahnsinn zu entziehen. Ob dies ausgerechnet durch die Lektüre der Lyrik von Anne Dorn geschehen kann, ist indes fraglich. Doch zunächst einmal zu dem, was man objektiv erwarten kann: Die Themen, die im zweiten Gedichtband mit dem Titel „Jakobsleiter“ von Anne Dorn verhandelt werden (ihr erster Band „Wetterleuchten“ erschien 2011), sind oftmals Grundlage für Poesie: Natur, Religion, Altern, Tod, Traum, Liebe. Das Ganze geschieht bei Dorn in ungereimten Versen, die teilweise rhythmisch sehr gut komponiert sind; „ein feines und ausgeprägtes Verständnis für Rhythmik und Form“ attestiert auch Jan Kuhlbrodt ganz richtig im kurz gehaltenen Nachwort. Dem Leser begegnen in dem Gedichtband zahlreiche Pferde („Hufschlaggedröhn tausender Pferde. / Rausch der Geschwindigkeit“) und Vögel („Spottdrossel spektakelt im Kirschbaum“), auch die Hummel („kleine pelzige Kugel“) wird bedacht. Insgesamt wird erfrischend selten zur Metapher gegriffen, offenbar als Ersatz zum Reim etwas zu oft zur Alliteration. Das eigentlich sehr gelungene Gedicht „Trost“ beispielsweise beginnt mit einem „Wieder bewegt der Wind die Wälder“, über das man zunächst einmal hinwegsehen muss.

Gerade in lyrischen Texten findet man häufiger Schilderungen aus dem Alltag, die durch originelle Darstellungsweisen neu betrachtet werden. Genau dies ist jedoch das Problem bei Dorn: Die Darstellungsweise weicht zu wenig ab vom Alltag; es kommt zu keiner neuen Perspektive des Gewohnten und Gewöhnlichen. Schuld daran ist mitunter die etwas zu eindeutige Symbolik oder Appellstruktur, etwa wenn „dreißig Silberlinge“ bemüht werden, das Zitat „Ik bün all hier“ auch noch belegt wird, die apokalyptischen Reiter unter Angabe der Bibelstelle aus der Offenbarung angeführt werden oder der Appell des Gedichtes „Dein und Mein“ in dem Bekenntnis „Ich bin die Forelle“ überdeutlich serviert wird. Hier wird dem Lesepublikum zu wenig Deutungsoffenheit zugemutet, was dazu führt, dass man sich bei so viel Eindeutigkeit etwas unterfordert fühlt. Darüber hinaus ist auch fraglich, ob man einigen Meinungen in der Form ohne weiteres zustimmen möchte, etwa der häufig geäußerten religiösen Haltung der lyrischen Sprechinstanz oder der Diskriminierung eines Straßenmusikers in dem Gedicht „Pentatonisch“. In den oftmals unverhohlen autobiografisch anmutenden Texten heißt es dann auch einmal selbstkritisch: „Scheißnaiv – ich blöde Alte“. Aber diese Selbstkritik mutet eher kokettierend narzisstisch an, als dass sie zum Anlass wird, den eigenen Standpunkt zu reflektieren.

In seinem berühmten Vortrag „Probleme der Lyrik“ erklärte Gottfried Benn einmal, ein Gedicht entstehe nicht dadurch, dass ein melancholischer Jüngling eine blühende Heidelandschaft betrachte. Bei Dorn nimmt man dagegen an, dass zu viel blühende Heide betrachtet wurde, wie auch der auf dem Einband abgedruckte Fliederbusch nahelegt, der im abschließenden Gedicht angeführt wird. Bei Benn heißt es dann weiter, ein Gedicht müsse entweder „exorbitant sein oder gar nicht“. Gelungene Gedichte gebe es sehr selten. Ein solch wirklich sehr gutes Gedicht ist das bereits erwähnte „Trost“ von Anne Dorn. Während einige Gedichte der Autorin kaum Vages enthalten oder gar mit Erläuterungen versehen werden, so ist es bei „Trost“ dagegen die produktive Doppeldeutigkeit und die assoziative Andeutung, die den Reiz ausmachen; Altern und Tod ermöglichen die Reflexion über letzte Fragen.

Nachdem nun Gazetti und Benn angeführt wurden, sei noch ein Hinweis auf Ulla Hahn erlaubt, dies mit der Rechtfertigung, dass Dorn im Klappentext mit Michael Hamburger und William Wordsworth verglichen wird. Die Frage nach einem tertium comparationis zwischen diesen drei AutorInnen – Hamburger, Wordsworth, Dorn – kann hier nicht beantwortet werden. Aber zu Ulla Hahn: Sie sprach einmal den von ihr sicherlich nicht zu allererst gedachten Gedanken aus, ein Gedicht könne so viel Inhalt haben, dass man sich entgegen der Haltung der Vielleser einen ganzen Tag lang mit nur einem einzigen Gedicht beschäftigen könne. Dorn gelingt dies mit dem deutungsoffenen Gedicht „Trost“. Bei den übrigen Gedichten muss jeder selbst entscheiden, ob sie hinreichen, dass man sich durch deren Lektüre Gazettis anfangs angeführter Wahnsinnsbezichtigung erwehren kann.

Titelbild

Anne Dorn: Jakobsleiter. Gedichte.
Poetenladen, Leipzig 2015.
88 Seiten, 17,80 EUR.
ISBN-13: 9783940691682

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