Ein Bild und 1000 Worte

Bücher und ihre Nachfolger aus Sicht des Autors Klaus Modick

Von Janna ReichmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Janna Reichmann und Katrin SimoneitRSS-Newsfeed neuer Artikel von Katrin Simoneit

„Manchmal träumen Bücher ihre Nachfolger.“ So leitet Klaus Modick seine zweite Poetikvorlesung als Poet in residence ein. Unter dem Titel Ein Bild und 1000 Worte nimmt Modick seine Zuhörer gleichsam mit auf die Reise zu den Anfängen seines 2015 erschienenen Buchs Konzert ohne Dichter. Facettenreich erzählt er dabei die Geschichte, wie aus einem Bild und ein paar Erinnerungsfetzen ein Roman entstehe. Doch bevor der Schriftsteller konkret auf sein Buch zu sprechen kommt, lässt er die Zuhörer etwas mehr in sein schriftstellerisches Schaffen blicken: Mit der Wendung, dass Bücher manchmal ihren Nachfolger träumten, zielt Modick darauf ab, dass sich für ihn bei der Arbeit an einem literarischen Werk oftmals Ideen oder formal-stilistische Optionen ergeben, die er als Autor schön finden mag, die aber über den eigentlichen Entwurf hinausgehen. Deshalb hat er oftmals schon eine neue Buchidee vor dem Abschluss des aktuellen Werks.

Gleichzeitig führt er anhand einer Anekdote aus, dass nicht aus jeder Idee, die er für gut hielt, ein fertiges Buch hervorging. So wollte er vor einiger Zeit einen Roman über eine Band aus den 1970er Jahren schreiben, die erst im Rentenalter mit ihrer Musik Berühmtheit erlangt. Modick hielt den Einfall für gut, sein Lektor indes nicht. Der Grund: Kurz zuvor war ein Film erschienen, der auf einem relativ ähnlichen Einfall basierte. Modick legte das Projekt in sein Buch der ungeschriebenen Bücher ab und versuchte, sich neuen Dingen zuzuwenden. Das fiel ihm allerdings zunächst nicht leicht: „Ich hatte das Gefühl, in ein Vakuum zu fallen, als würde mir nie wieder etwas Zündendes einfallen.“ Dieses Gefühl kenne jeder Schriftsteller, einschließlich Modick, obwohl er längst zu den erfolgreichen Autoren Deutschlands zählt. Der deutsche Schriftsteller und Maler Wolfgang Hildesheimer definiert diesen regelrechten Inspirationsbankrott laut Modick treffend mit den Worten „Mir fällt nichts mehr ein. Alles ist schon geschrieben, daher ist alles alt.“ Dieses Phänomen sei dabei aber nicht mit einer Schreibblockade gleichzusetzen, die lediglich die Schreibenergie lähme und als wiederkehrendes Phänomen nicht ewig anhalte. Das Mittel gegen Schreibblockaden ist für Modick, mag es sich auch paradox anhören: das Schreiben. Das Mittel gegen Inspirationsmangel ist da fast genauso einfach, denn hier lautet die Lösung Ablenkung. Schließlich müssten Schriftsteller auch mal etwas anderes machen als zu schreiben, und so ereilte ihn die Inspiration zu Konzert ohne Dichter eher zufällig.

Eines Tages erfährt Modick, dass es für denkmalgeschützte Häuser Steuererleichterungen gäbe, und da er selbst in einem solchen wohnt, will er sich diese zu Nutzen machen. Daher fängt er an zu recherchieren. Modicks Haus ist im Jugendstil erbaut und steht in Oldenburg. Er stellt sich die Frage, ob es nicht von Heinrich Vogeler, dem gefeierten Märchenprinzen des Jugendstils, entworfen worden sein könnte. Vogeler wurde 1872 in Bremen geboren und gilt als Mitbegründer der Worpsweder Künstlerkolonie. Aufgrund der Nähe von Bremen und Worpswede zu Modicks Heimatstadt Oldenburg ist dessen Vermutung nachvollziehbar, auch wenn sie sich nach einigen Nachforschungen letztlich als falsch herausstellt.

Trotzdem ist Modicks Neugier geweckt. Bei seinen Recherchen stellt sich bei ihm ein kribbelndes Gefühl ein, erinnert er sich doch vage daran, dass seine Großmutter ihm in seiner Kindheit von Vogeler erzählt hatte. Modicks Großvater soll demnach mehrmals Gast auf dem Barkenhoff, dem von Vogeler entworfenen Haus in Worpswede, gewesen sein, in dem er mit seiner ersten Ehefrau Martha Schröder gewohnt hatte. Umgekehrt hätte Vogeler mehrmals Modicks Großvater besucht. Als Beweis dient Modick eine Portraitskizze Vogelers nach dem Ersten Weltkrieg, die von ihm signiert ist und sich im Besitz von Modicks Großmutter befand. Für Modick ist diese Verflechtung seiner Familie mit Vogeler ein Inspirationsschub, und heute sagt er rückblickend, dass die Arbeit an Konzert ohne Dichter bereits vor 50 Jahren begann, als ihm seine Großmutter das erste Mal von Vogeler erzählt hatte.

Da sein Interesse für Vogeler und dessen Leben nun vollends geweckt war, begann er mit einer umfassenden Recherche über den damaligen „Superstar“ des Jugendstils Vogeler, der 1905 die Große Goldene Medaille für Kunst und Wissenschaft in Oldenburg verliehen bekam. Vor allem sein 1,75 mal 3,10 Meter großes Gemälde Sommerabend, dem ein eigener Raum der Nordwestdeutschen Kunstausstellung gewidmet war, entzückte das damalige Publikum, sei es doch voller Musik. Für Modick werden seine Nachforschungen vor allem dann richtig spannend, als er herausfindet, dass das Gelände der Oldenburger Ausstellung nicht weit von seinem jetzigen Wohnort entfernt liegt. Sein Gefühl, etwas gefunden zu haben, wird dringlicher, und so fährt er nach Worpswede, wo Vogelers Barkenhoff heute als Museum für die Öffentlichkeit zugänglich ist. Als Modick dort Vogelers Bild Sommerabend sieht, ist er gebannt und irritiert zugleich: „Alleine die Tür zum Raum strömte einen Magnetismus aus. Die Anziehungskraft zeigte mir, dass der Stoff in mir seinen Autor entdeckt hatte. Dieses bisher unerforschte Terrain löste in mir sofort Fragen aus, etwas mit dem Bild stimmte nicht.“ Es zeigt keine harmonische Idylle, wie es die verbreitete Deutung des Bilds will, sondern eine Ansammlung genervter Menschen, die sich nichts mehr zu sagen haben. Für Modick kristallisiert sich eine zentrale Frage heraus: Warum wirkt dieses Bild, das von Vogeler zwar exakt durchkomponiert wurde, dadurch aber nicht harmonisch, sondern hochgradig artifiziell erscheint, so zerrüttet? Vor allem der leere Platz zwischen den Frauen auf der linken Seite des Bildes ist für Modick ein demonstrativer Fingerzeig der Abwesenheit. Er beginnt, sich weitere Fragen zu stellen: Wer fehlt auf dem Bild? Warum fehlt diese Person? Und: Ist die Abwesenheit der Grund für die leblose Kälte, die das Bild ausstrahlt? Mit diesen Gedanken beendet Modick seinen Rundgang auf dem Barkenhoff. Die Antwort auf die erste Frage findet er in einer Biographie Vogelers: Bei der fehlenden Person soll es sich um Rainer Maria Rilke handeln. Es folgen mehrere Monate der Recherche, in denen Modick durch die fragmentarischen Werke Vogelers, die Tagebücher Rilkes und umfangreiche Sekundärliteratur erfährt, dass das Bild eine komplizierte Geschichte und das Resultat eines dreifachen Scheiterns darstellt: Vogelers Ehe, sein Künstlertum und die Freundschaft mit Rilke, der auf dem Bild fehlt. Die Abwesenheit Rilkes, den Modick in seinem Buch als Schnorrer darstellt, der durch seine Dreiecksbeziehung mit seiner späteren Frau Clara Rilke-Westhoff und Paula Modersohn-Becker Unruhe in der Künstlerkolonie stiftet, inspiriert ihn dabei sofort zum Titel des neuen Romans: „Ich wusste sofort, dass der Titel des Buches schon feststand. Kunst schafft Bedeutung, wo Leerstände sind. Der Leerstand ist in diesem Fall Rilke – das ‚Konzert ohne Dichter‘ war geboren.“ Der Titel, betont Modick, ist für ihn wie ein Kompass, an dem sich die Entstehungsgeschichte orientiert. Gleichzeitig gibt er zu, dass Arbeitstitel, die Bücher während des Schreibprozesses tragen, häufig vor der Veröffentlichung noch einmal geändert werden. So hieß Modicks Roman Klack während der Entstehungsphase Am 30. Mai ist der Weltuntergang. Bei Konzert ohne Dichter blieb es allerdings beim ersten Namen.

Das fertige Manuskript gefällt, auch dem Lektor sagt es zu, und sein Verlag ist sich sicher, dass das Buch zumindest nicht floppen werde. Der enorme Erfolg stellte dennoch für alle eine Überraschung dar und war für Modick gleichsam ein Beweis dafür, dass es letztendlich kein narrensicheres Rezept für einen Erfolgsroman gibt. „Sonst könnte“, wie er schmunzelnd anführt, „jeder einen schreiben“. Konzert ohne Dichter ist ein Stoff, in den der Schriftsteller förmlich hineingestolpert ist. Nach Modicks Darstellung scheint es so, als hätte der Roman gleichsam ihn gefunden. Das käme durchaus vor, erklärt er, so viele Zufälle wie bei der Erschließung dieses Buches seien ihm gleichwohl noch nie zuvor untergekommen.

Ein zentraler Aspekt, der sich durch alle drei Poetikvorlesungen von Modick zieht, ist die Ansicht, dass Literatur immer autobiographisch sei: Für Modick gibt es immer konkrete Beziehungen zwischen dem Roman und seinem Autor. Bei Konzert ohne Dichter ist das einerseits die Nähe des Stoffes zu seinem Wohnort und andererseits das Mäzenatentum, das er im Buch thematisiert. Konzert ohne Dichter handelt vom Konflikt zwischen Prätention und Bescheidenheit, dem Konflikt zwischen Rilke und Vogeler, wobei sich Modick eher Vogeler verbunden zeigt. Wie Vogeler im Buch sieht Modick Künstler eher als Handwerker an und entfernt sich vom jungen Rilke, der als Mensch ein Schnorrer und Schürzenjäger gewesen sein mag, dafür als Künstler ein Genie repräsentierte. Die späteren Werke Rilkes erachtet Modick im Übrigen als sehr gut, jedoch ist dieser späte Rilke für Konzert ohne Dichter nicht relevant. Dennoch müsse dies nicht das endgültige Ende für Rilke bedeuten. Denn: „Wer weiß“, schließt Modick seinen Vortrag, „manchmal träumen Bücher bekanntlich ihre Nachfolger.“

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen