Naturgewalten

Ta-Nehisi Coates’ aufrüttelnder Essay „Zwischen mir und der Welt“ handelt von schwarzen Körpern und weißen Träumern

Von Nico Schulte-EbbertRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nico Schulte-Ebbert

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In der eindringlichen Verfilmung A Time to Kill (dt. Die Jury, 1996) des gleichnamigen Romans von John Grisham aus dem Jahr 1989 erschießt der schwarze Familienvater Carl Lee Hailey (gespielt von Samuel L. Jackson) im noch immer stark rassistisch geprägten US-Bundesstaat Mississippi die weißen Vergewaltiger seiner zehnjährigen Tochter Tonya. Sein noch unerfahrener, weißer Verteidiger Jake Brigance (überzeugend dargestellt von Matthew McConaughey) bittet in seinem äußerst emotionalen Schlussplädoyer die weiße Jury darum, ihre Augen zu schließen (Justitia sollte schließlich blind sein) und sich vorzustellen, wie ein kleines Mädchen auf dem Nachhauseweg von zwei jungen Männern verschleppt, vergewaltigt, misshandelt, an einem Baum aufgehängt und schließlich von einer Brücke in einen Bach hinabgeworfen wird. Man erkennt Abscheu, Mitleid, Ekel in den Gesichtern der Geschworenen. Doch Brigance wartet mit einer überraschenden Pointe auf. Er schließt mit den Worten: „I want you to picture that little girl. [Pause] Now imagine she’s white.“

„Unsere Welt ist körperlich“, schreibt Ta-Nehisi Coates in seinem Buch Zwischen mir und der Welt. „Doch ein sehr großer Teil der Amerikaner wird alles daransetzen, den Traum zu wahren.“ Die Lektüre des als Brief an Coates’ vierzehnjährigen Sohn Samori konzipierten Essays stellt eine gerade für Nicht-Amerikaner zutiefst verstörende Erfahrung dar, glaubte man doch, der sogenannte Rassenunterschied zwischen Schwarz und Weiß in den USA sei 150 Jahre nach Abschaffung der Sklaverei mit dem 13. Zusatzartikel zur Verfassung, spätestens jedoch gut 50 Jahre nach der Bürgerrechtsbewegung um Martin Luther King und Malcolm X nivelliert. Coates’ Text zeigt, dass dem noch längst nicht so ist und dass es völlige Gleichberechtigung vielleicht nie geben wird, denn die Gewalt gegen Schwarze ist dem US-System, „das unseren Körper zerbrechlich macht“, so Coates, der Gesellschaft, der Wirtschaft, der Justiz seit Jahrhunderten eingeschrieben; sie ist – mit einem Begriff Johan Galtungs – strukturell. Es ist diese strukturelle Gewalt, die Coates’ Lebensweg von den Straßen in West-Baltimore, den Ecken und Blocks, die von unterschiedlichen Gangs beherrscht werden, von der Schule und der The Mecca genannten afroamerikanischen Privatuniversität Howard in Washington, D. C. bis hin nach New York City und Paris prägt und leitet, besser: diese latente, allzu oft im Letalen endende Gewalt wirkt maßgeblich auf Coates’ Körper und die Körper aller Schwarzen in den USA ein, denn Rassismus ist, nach Coates, primär ein physisches Phänomen: „[U]nsere ganze Begrifflichkeit – race relations, racial chasm, racial justice, racial profiling, white privilege, sogar white supremacy – dient nur dazu, zu verschleiern, dass Rassismus eine zutiefst körperliche Erfahrung ist, dass er das Hirn erschüttert, die Atemwege blockiert, Muskeln zerreißt, Organe entfernt, Knochen bricht, Zähne zerschlägt.“

Nachdem Between the World and Me (interessanterweise haben die Welt und das Personalpronomen in der deutschen Übersetzung ihre Positionen getauscht) im Juli 2015 bei Spiegel & Grau erschienen war, wurde es mit positiver Kritik in der englischsprachigen Presse dermaßen überschüttet, dass die wenigen kritischen Stimmen – darunter etwa diejenige Michiko Kakutanis in der New York Times, die Coates an manchen Stellen einen „manichäischen Ton“ sowie „eine gefährliche Neigung zu Verallgemeinerungen“ vorwarf – kaum ins Gewicht fielen. Coates konzipierte den Text bewusst als weiteres, jedoch eher antichristlich-atheistisches Glied in einer Traditionskette afroamerikanischer Schriftsteller wie Sonia Sanchez, Amiri Baraka oder James Baldwin, auf dessen Essay „My Dungeon Shook. Letter to my Nephew on the One Hundredth Anniversary of Emancipation“ aus The Fire Next Time (1963) Coates explizit anspielt. Ferner entlehnt der Autor den Titel seines Buches dem gleichnamigen Gedicht des Romanciers Richard Wright, das 1935 in der linksgerichteten Partisan Review erschienen ist, und das einen Lynchmord beschreibt. Coates stellt seinem Text die erste Strophe dieses Gedichts voran, die in der Übersetzung Eva Hesses lautet: „Und eines Morgens unterwegs in den Wäldern stieß ich auf einmal darauf, / Stieß darauf in einer grasbewachsenen Lichtung, umstellt von Ulmen und Eichen mit tiefrissiger Borke. / Und die rußige Szene erstand vor mir bis ins Kleinste und schob sich zwischen mich und die Welt.“

Aus Wäldern, in denen das furchtbare Geschehen stattfindet, werden in Coates’ Text Straßen, Schulen, Parkplätze, Tankstellen, Stadtviertel; aus dem versteckten Morden wird das öffentliche, legale, ja selbstverständliche und geduldete. „Die Welt“, so Coates, „die echte Welt, war eine mit barbarischen Mitteln gesicherte und beherrschte Zivilisation“. Insofern ist dieses Kurzportrait eines schwarzen Lebens in den USA nicht als Überlebensratgeber für kommende schwarze Generationen gemeint – und Coates ist durchaus pessimistisch, was Änderung in diesem Problemfeld betrifft; es ist vor allem ein Buch der Angst und der Sorge, ein Buch der Trauer und der Wut, ein Buch der Hilflosigkeit und der Anklage, doch vor allem ist es ein Buch, das die gravierende soziale Spaltung Amerikas thematisiert. Seinem Sohn und all den anderen schwarzen Jugendlichen will Coates durch diesen pädagogischen Brief die Augen öffnen für das, was er „den Traum“ (the Dream) nennt. „Ich kenne den Traum schon mein ganzes Leben lang“, schreibt Coates:

Er besteht aus schmucken Häusern mit hübschen Vorgärten. Grillen am Memorial Day, Nachbarschaftszirkeln und Garageneinfahrten. Baumhäusern und Pfadfindern. Der Traum riecht nach Pfefferminz und schmeckt nach Erdbeerkuchen. Und so lange wollte ich in diesen Traum flüchten und mir mein Land wie eine Decke über den Kopf ziehen. Aber das geht nicht, die Möglichkeit bestand nie, denn der Traum ruht auf unserem Rücken, sein Bettzeug ist aus unseren Körpern gemacht.

Im Traum lebt der weiße Amerikaner ohne Angst – zeitlos, geschichtslos, gewissenlos.

Von seiner Kindheit und Jugend spannt Coates den Bogen in die Gegenwart, die Kindheit und Jugend seines Sohnes, indem er sein zentrales Körper-Motiv mit der Metapher der Nacktheit verstärkt: „Schwarz zu sein im Baltimore meiner Jugend bedeutete, den Elementen der Welt – Schusswaffen, Fäusten, Messern, Crack, Vergewaltigung, Krankheit – nackt ausgeliefert zu sein.“ Die Naturgewalt, die das Leben der Menschen vor nicht allzu ferner Zeit erheblich erschwert oder gar verkürzt hat – etwa in Form von Überflutungen, Erdbeben, Dürreperioden oder Kältezeiten –, wird in Coates’ Leben und dem Leben afroamerikanischer US-Bürger zu einer sozial-urbanen Gewalt. Coates fährt fort:

Die Nacktheit ist kein Irrtum, kein pathologischer Befund. Die Nacktheit ist die angestrebte Folge politischer Entscheidungen, das, was dabei herauskommt, wenn Menschen jahrhundertelang in Angst leben müssen. Das Gesetz war nicht zu unserem Schutz da. Und jetzt, in deiner Zeit, ist das Gesetz zu einem Vorwand verkommen, dich anzuhalten und zu filzen, den Angriff auf deinen Körper fortzusetzen.

Man denkt während der Lektüre des Essays permanent an Shylocks Worte aus William Shakespeares Kaufmann von Venedig: „Wenn ihr uns stecht, bluten wir nicht? Wenn ihr uns kitzelt, lachen wir nicht? Wenn ihr uns vergiftet, sterben wir nicht? Und wenn ihr uns beleidigt, sollen wir uns nicht rächen?“

Ta-Nehisi Coates – sein Vorname leitet sich von der Bezeichnung des ägyptischen Mittleren Reiches für Nubien her –, Jahrgang 1975, schreibt über soziale, kulturelle und politische Themen für die amerikanische Zeitschrift The Atlantic. In dieser erschien im Juni 2014 sein breit rezipierter Essay „A Case for Reparations“, der in der Übersetzung von Britt Somann-Jung als „Plädoyer für Reparationen“ auf den Seiten 151 bis 216 dem titelgebenden Text folgt. Nach eigenen Angaben war der gewaltsame Tod seines Studienfreundes Prince Jones im Jahr 2000 Coates’ Impetus für Zwischen mir und der Welt, das im November 2015 mit dem National Book Award in der Kategorie Nonfiction ausgezeichnet worden ist. Coates lernte Jones Anfang der 1990er-Jahre im Mekka kennen. Wie wichtig ihm diese Freundschaft und ihr für die Thematik seines Buches beispielhaftes Ende ist, zeigt sich im dritten, sehr emotionalen Teil seines Essays, in dem Coates von einem Treffen mit Jones’ Mutter, Dr. Mabel Jones, einer Radiologin, berichtet. Für das Fazit des Todes seines Freundes – ein Undercover-Polizist verfolgte Jones fälschlicherweise und erschoss ihn, da Jones ihn mit dem Jeep überfahren wollte – bedient sich Coates erneut der Naturgewalt-Metaphorik: „Ein Erdbeben kann man nicht vorladen. Der Taifun wird sich der Anklage nicht beugen. Sie haben den Mörder von Prince Jones auf seinen Posten zurückgeschickt, weil er gar kein Mörder war. Er war eine Naturgewalt, der hilflose Hebel der Naturgesetze unserer Welt.“ Und später heißt es: „Der Traum, weiß zu handeln, weiß zu reden, weiß zu sein, hat Prince Jones getötet, so sicher wie dieser Traum mit beängstigender Regelmäßigkeit Schwarze in Chicago tötet.“

„Now imagine she’s white“, fordert Jake Brigance die ‚träumende‘ Jury auf. Der schwarze Körper steht für all die vergessenen Verbrechen, auf denen die demokratisch-freiheitlichen Vereinigten Staaten von Amerika gegründet worden sind. Die Weißen (als „Katholiken, Korsen, Waliser, Mennoniten, Juden“) wurden erst zu Weißen, so Coates,

durch die Plünderung von Leben, Freiheit, Arbeitskraft und Land; durch das Auspeitschen von Rücken, das Anketten von Gliedmaßen, das Erdrosseln von Andersdenkenden, die Zerstörung von Familien, die Vergewaltigung von Müttern, den Verkauf von Kindern und diverse andere Maßnahmen, die in erster Linie dir und mir das Recht absprechen sollten, in Sicherheit über unseren eigenen Körper zu bestimmen.

An manchen Stellen driftet Coates zu sehr in den Duktus eines Predigers mit allzu hölzernen Metaphern ab, was nicht zuletzt an seinen latent metaphysischen Oppositionspaaren Schwarz versus Weiß, Ich versus Welt/Galaxie, Bewusstsein versus Traum sowie seiner Reduktion des schwarzen Menschen auf dessen Körper liegt, die keineswegs metonymisch, sondern faktisch zu verstehen ist. Doch immer – und hierin liegt Coates’ große Stärke – ist er ein Lehrer, ein Vater, ein unmittelbar Betroffener, ja man könnte ihn als einen Zeit- oder besser als einen Körperzeugen in einer jahrhundertealten Körperkette bezeichnen, zu deren Stimme er sich mit seinen Artikeln und Büchern gemacht hat. Zwischen mir und der Welt ist ein Text, der in erschreckender Weise kafkaeske Zustände in der realen Welt beschreibt: Ist man schwarz, ist es sehr gut möglich, dass man eines Morgens verhaftet wird, ohne etwas Böses getan zu haben. Zwischen mir und der Welt ist ein Buch in Form eines Briefes, weniger ein faktengespickter, journalistischer oder gar wissenschaftlich fundierter Text, sondern vielmehr ein persönlicher, ehrlicher, emotionaler Versuch, dem Leser die Bedeutung näherzubringen, was es heißt, heutzutage schwarz zu sein in „the land of the free and the home of the brave“. Dieser Versuch ist Ta-Nehisi Coates in berückender Weise gelungen.

Titelbild

Ta-Nehisi Coates: Zwischen mir und der Welt.
Übersetzt aus dem Englischen von Miriam Mandelkow.
Hanser Berlin, Berlin 2016.
234 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783446251076

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