Spiel mit Wirklichkeiten

Marie Hermanson entführt mit ihrem Roman „Der unsichtbare Gast“ in scheinbar ferne Welten

Von Volker HeigenmooserRSS-Newsfeed neuer Artikel von Volker Heigenmooser

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Kernthema der schwedischen Autorin Marie Hermanson sind Albträume, die Menschen auf Seele und Leben lasten können. Hermansons Markenzeichen ist eine Literatur, die sich in einer Art Zwischenreich zu bewegen scheint: einerseits in einem mit Realien ausgestatteten Raum, andererseits jedoch offen für Imaginiertes, für Mystisches. Das Changieren zwischen diesen Sphären beherrscht sie wie kaum eine andere zeitgenössische Autorin und es hat einen starken Reiz, sich dieser hart am Rand der erzählten Wirklichkeit balancierenden Literatur auszusetzen.

Das gilt auch für den Roman „Der unsichtbare Gast“, dessen Originaltitel „Skymmningslandet“, also „Land der Dämmerung“, heißt. Der aus der Perspektive einer am Geschehen beteiligten Figur erzählte Ich-Roman beginnt damit, dass die Erzählerin von ihrem geradezu unerträglichen Job als Aushilfszimmermädchen in einem Hotel berichtet. An dem Tag, von dem sie berichtet, muss sie nicht nur Scheiße aus dem Waschbecken entfernen, sondern sie verliert auch noch ihre Wohnung, die sie unter der Hand gemietet hat.

„Ich war also obdachlos. Mir war, als würde ich fallen. Ich hatte an diesem schrecklichen Tag schon mehrmals das Gefühl gehabt, am Boden angekommen zu sein. Aber der Boden verschwand immer wieder und jetzt stürzte ich ins Bodenlose.“ Dieser Sturz ist noch nicht beendet, als sie in ihrer Verzweiflung zu ihren Eltern fährt, um dort wenigstens für einige Zeit eine Bleibe zu finden. Doch ihr Kinderzimmer gibt es nicht mehr, die Mutter hat eine Wand herausnehmen lassen, um das Wohnzimmer zu vergrößern. Außerdem ist ihr der Plausch mit ihren Lehrerkolleginnen wichtiger als die Not ihrer Tochter, die sie gar nicht wahrnimmt. Martina, so der Name der Ich-Erzählerin, verlässt daraufhin konsterniert ihr Elternhaus. Glücklicherweise gibt es im richtigen Leben den Zufall, den im Roman die ordnende Hand der Autorin ersetzt. In einem Café sitzend, sieht Martina ihre ehemalige Schulfreundin Tessan. Die zwei verstehen sich immer noch prächtig und Tessan bietet ihr spontan eine Übernachtungsmöglichkeit an ihrer Arbeitsstelle an – einer ganz offensichtlich merkwürdigen Arbeitsstelle. Denn als Tessan ihre alte Freundin mit auf ein geradezu verwunschenes altes Landgut nimmt, muss sie sich, bevor sie der Besitzerin des Guts vorgestellt wird, erst umziehen. Sie schlüpft in ein Kostüm im Stil der 1940er-Jahre. Und damit befindet sie sich plötzlich auch in dieser Zeit.

Geschickt baut Hermanson die Spannung auf und entwickelt das Tableau des Romans: Eine alte Dame lebt ganz offensichtlich in der Vergangenheit und hat scheinbar wichtige und geheime Aufgaben, die im Zusammenhang mit ihrem Vater, einem Diplomaten, stehen. Ihr dienen Tessan als Hausmädchen und fortan auch Martina als Sekretärin. Regelmäßig finden große repräsentative Abendessen statt mit längst gestorbenen Gästen. Das erinnert zwar an „Dinner for one“, wie Tessan zugibt, allerdings ist die Gastgeberin, die alte Dame Florence, nie dabei. Sie begutachtet jeweils das Tischarrangement und verteilt auch noch die Tischkarten. Danach zieht sie sich zurück, um noch ein Nickerchen zu machen. Doch das dauert dank der starken Schlaftabletten, die sie nimmt, bis zum nächsten Morgen, wie Tessan Martina erklärt. Das Ganze scheint ein sogenanntes „Live-Spiel“ zu sein, wie die unversehens zu der Gruppe stoßende Judit begeistert meint. Wobei das gar nicht der richtige Name des magersüchtigen Mädchens ist. Den hat sie, die Situation im Haus schnell erfassend, einem Buch über ein aus dem nationalsozialistischen Deutschland geflüchteten jüdischen Mädchens entnommen, das sie für Florence spielt.

Als schließlich im Laufe des Sommers – Gerüche, Wärme und Atmosphäre vermag Marie Hermanson wunderbar zu zeichnen – noch zwei junge Männer, Andreas und Pontus, auf das Gut kommen, eskaliert die Situation, weil Pontus, ein erfolgloser IT-Unternehmer, der vor allem eine große Klappe hat, aber sonst eher ein Versager und Blender ist, es auf das Gut als Erbe abgesehen hat. Nachdem Florence einen Schlaganfall erlitten hat und im Krankenhaus im Koma liegt, taucht jedoch plötzlich ein weiterer junger Mann auf. Er scheint der Erbe von Florence zu sein, jedenfalls verhält er sich so. Das kann nicht gut gehen und das tut es auch nicht. Die scheinbare Idylle mit der Flucht in die 1940er-Jahre – Schweden war neben der Schweiz das einzige Land in in Europa, das nicht vom Zweiten Weltkrieg überzogen war – zerstört sich quasi selbst. Am Schluss sind alle drei auf das Gut gekommenen Männer tot. Nur die Frauen überleben; auch die alte, aus dem Koma erwachte Florence.

Auch wenn man nach dieser Zusammenfassung auf die Idee kommen könnte, es mit einem Krimi zu tun zu haben, ist dieser Roman kein Kriminalroman im engeren Sinn. Dafür kann man dankbar sein angesichts der immer stärkeren und fast ausschließlichen Konzentration von schwedischer Literatur auf Thriller. Vor allem im Ausland, insbesondere im deutschsprachigen Raum, scheint mit schwedischer Literatur kaum mehr etwas anderes verbunden zu werden. Dass es auch anders geht, belegt dieser Roman von Marie Hermanson, die das Leben unter den Zwängen des Hier und Heute im Grunde gekonnt als unzumutbar und mit großem Gespür für die Psychodynamik ihrer Figuren thematisiert. Regine Elsässer hat den Text gelungen ins Deutsche übersetzt – und zwar ohne Stolpersteine, weil praktisch an keiner Stelle die Ausgangssprache durchschimmert. Das macht die Lektüre rundum zu einem Vergnügen.

Titelbild

Marie Hermanson: Der unsichtbare Gast. Roman.
Aus dem Schwedischen übersetzt von Regine Elsässer.
Insel Verlag, Berlin 2015.
244 Seiten, 16,99 EUR.
ISBN-13: 9783458176480

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