Kompliziert, komplex, zumindest aber sehr speziell

Gabriele Thießen geht anhand dreier Tagebücher Liebeskonzepten in der Münchner Boheme um 1900 nach

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Nicht selten werden Bücher nicht ganz so bekannten AutorInnen von namhafteren KollegInnen bevorwortet. Die vorangestellten Worte sind in diesen Fällen selbstverständlich stets voll des Lobes für das jeweilige Werke und dienen dazu, dieses und seine VerfasserIn zu fördern. Allerdings laufen gerade die Allerwohlwollendsten unter den Protektoren auch schon mal Gefahr, ihren Protegés einen Bärendienst zu erweisen. Etwa, wenn die Elogen allzu übertrieben ausfallen und die überschwänglich vorgetragenen Lobeshymnen auf die Schützlinge den Lesenden allzu schrill in den Ohren klingen. Das kann schon einmal dazu führen, dass man vorab – und womöglich zu Unrecht – gegen das Buch eingenommen wird. Gefahr, dies zu bewirken, läuft auch Rainer Hering, der Gabriele Thießens Studie zu „Liebeskonzepten der Münchner Boheme um 1900“ bevorwortet hat. Das Buch ist in der von Hering mitherausgegebenen Reihe Bibliothemata unter dem Titel „Da verstehe ich die Liebe doch anders und besser“ erschienen.

Natürlich ist es Rezensentenpflicht trotz allzu wilder Wirbel auf der Werbetrommel des Herausgebers weiterzulesen und sich selbst ein Bild zu machen. Das aber wird zunächst auch nicht durch die von Thießen selbst verfasste Einleitung aufgehellt. Erklärt die Autorin doch auf der ersten Seite sogleich, „aus Gründen der besseren Lesbarkeit“ verzichte sie „auf eine geschlechtsspezifische Differenzierung“ von Bezeichnungen wie „Historikerinnen und Historikern“. Denn „sämtliche entsprechenden Begriffe gelten selbstverständlich für beide Geschlechter“. Die Wahl eines größeren Schrifttyps wäre der Lesbarkeit ihres Textes jedenfalls weit zuträglicher gewesen als das von ihr verwandte generische Maskulinum. Und Thießens Vorliebe für einen gepflegten Nominalstil geht sogar nicht nur zu Lasten der Lesbarkeit, sondern ist zudem der Genauigkeit des Ausdrucks nicht immer zuträglich.

Doch Thießen ist Historikerin und so stehen im Zentrum ihrer Arbeit weder linguistische oder stilistische Fragen, sondern „Liebeskonzepte Schwabinger Bohemiens im Spannungsverhältnis zwischen sozialem Umfeld und individueller Situation“. Es ist dies das Forschungsfeld, in dem sie mit „neuen Erkenntnissen für die emotionsgeschichtliche Forschung“ aufwarten möchte. Dabei nimmt sie „ausschließlich partnerschaftliche Liebeskonzepte“ in den Blick, die allerdings in der Schwabinger Boheme für sich schon vielfältig genug waren. Anhand dieser Konzepte wirft sie die Frage auf, „ob sich in Sachen Liebe“ um 1900 unter den Kunstschaffenden der Schwabiger Subkultur „ein gemeinsamer Normen unterworfener Gefühlsstil ausbildete“. Thießen unterteilt die Frage in drei weitere, spezifischere: „Welche Liebeskonzepte werden von der Münchner Boheme in ihren Selbstzeugnissen dargestellt? Auf welche Faktoren lassen sich diese Konzepte zurückführen? Inwieweit charakterisieren sie die Boheme als ‚emotional community‘?“

Ihnen geht sie am Beispiel der Liebeskonzepte von Franziska zu Reventlow, Oskar A.H. Schmitz und Frank Wedekind nach. Als Quellen dienen ihr die Tagebuchaufzeichnungen der drei AutorInnen, die sie sinnvollerweise nicht als unhinterfragbar autoritative Quellen versteht, in denen sich die Liebeskonzepte und das Liebesleben ihrer VerfasserInnen vermeintlich authentisch widerspiegeln, sondern als Texte, „in denen Inszenierung und Identität zu einem Selbstbild verknüpft sind, das der Autor sowohl vor sich selbst als auch vor einem evtl. von ihm gedachten Lesepublikum zu vertreten bereit ist bzw. war“.

Als Tagebücher „versprechen“ die Aufzeichnungen zwar „eine Selbstdarstellung, die nicht retrospektiv überarbeitet wurde“, womit sie verbürgen würden, wie sich die VerfasserInnen während der „ Entstehungszeit“ ihrer Aufzeichnungen selbst sahen oder doch zumindest gerne sehen würden oder – falls die Aufzeichnungen Dritten in die Hände fallen oder gar publiziert werden sollten – gesehen werden wollten. Schmitz aber hat seine ursprüngliche Niederschrift im Nachhinein intensiv bearbeitete, wie die Autorin selbst einräumt. Doch die „Selbstdarstellung“ in seinem nachträglich verfertigten „Tagebuchtyposkript“ sei dennoch „in engem Zusammenhang mit der Lebenswirklichkeit der Boheme entstanden“ und thematisiere zudem „Aushandlungsprozesse zwischen bohemischen und anderen Liebes- und Lebenskonzepten“. Dies rechtfertige, es als Quelle heranzuziehen. Frank Wedekinds oft kaum mehr als stichwortartige Notizen wiederum lassen nicht erkennen, ob und inwieweit er sie nachträglich überarbeitet hat. Jedenfalls aber vernichtete er einen nicht eben geringen Teil seiner Tagebücher und traf somit eine Auswahl dessen, was überhaupt überliefert werden sollte. Thießen gelten seine Tagebuchaufzeichnungen gleichwohl und vermutlich nicht zu Unrecht als „geeignete Vergleichsfolie“ für die impliziten Liebeskonzepte der Tagebücher von Reventlow und Schmitz.

Im Falle von Reventlows Tagebüchern zieht Thießen die Edition von Irene Weiser und Jürgen Gutsch heran. Damit trifft sie im Unterschied zu manch anderen Forschenden, die noch immer auf die (ver-)fälschenden Ausgaben von Brigitte Kubitschek oder gar von Reventlows Schwiegertochter Else zurückgreifen, die einzig wissenschaftlich vertretbare Entscheidung.

Bevor Thießen selbst in medias res geht, setzt sie sich ebenso kritisch wie detailfreudig mit der gegenwärtigen Forschungslage auseinander und unternimmt eine Definition des „Analysebegriffs ‚Liebeskonzept‘“, den sie „in drei wesentliche Bestandteile aufschlüsselt“, die von der Autorin ihrerseits als Analysekategorien verwendet werden: „a) Beschreibung und Bewertung der eigenen Empfindung ‚Liebe‘, b) Beschreibung und Bewertung des die Empfindung auslösenden ‚Liebesobjekts‘, c) aus der Empfindung resultierende Handlungsmotivationen“. Damit hat die Autorin ein wohldurchdachtes begriffliches Konzept zur Analyse von Liebeskonzepten entwickelt.

Thießen behandelt die Tagebücher der drei AutorInnen zunächst separat in je eigenen Kapiteln, denen sie jeweils einen „biographischen Abriss“ voranstellt, wobei sie unnötigerweise betont, dass diese „keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben“, was Abrisse ja bekanntlich nie tun. Im Hauptteil eines jeden der drei Abschnitte arbeitet sie mithilfe ihrer Analysekategorien die jeweiligen Liebeskonzepte der drei AutorInnen heraus und beleuchtet darüber hinaus die Bezeichnungen, die den TagebuchschreiberInnen für die verschiedenen Arten der Liebe, der Zuneigungen und sonstiger Empfindungen in Liebesverhältnissen zur Verfügung stehen. Dies führt zu einigen aufschlussreichen Erkenntnissen. Reventlow besaß von den Dreien das variantenreichste und auch in ihren Metaphern differenzierteste Vokabular, um ihre Emotionen auszudrücken und zu beschreiben. Oft können ihre bildhaften Beschreibungen „dem Wetter und den Jahreszeiten zugeordnet werden“. Dabei fand sie für jede ihrer „ernsthaften Liebschaften“ andere Metaphern, in die sie ihre Gefühle kleidet. Endeten „besonders aufwühlende Beziehungen“ vorübergehend oder endgültig „zeichnete Reventlow häufig ein Krankheitsszenario“. Variantenreicher noch als die Bezeichnungen ihrer eigenen Gefühle sind die besonderen Merkmale, mit denen sie in den Tagebüchern ihre verschiedenen „Beziehungspartner“ beschreibt. Dabei stellt Reventlow ein schöpferisches Sprachgefühl von beeindruckender Präzision und Phantasie unter Beweis, das sie auch in ihrem Roman „Von Paul zu Pedro“ bei der Charakterisierung diverser Liebhabertypen an den Tag legt.

„Reventlows Liebesideale erscheinen“ zwar „kompliziert, komplex, zumindest aber sehr speziell“, doch „lässt sich“, wie Thießen überzeugend zeigt, zumindest ihr „Ideal von einem Liebesobjekt […] auf großbürgerlich-aristokratische Vorstellungen von Männlichkeit zurückführen“. Ihr Tagebuch erweist sich insgesamt als „Protokoll ihrer Gefühlswelt“, das – wenig überraschend – ein „polygames Liebesideal“ offenbart, indem weder Reventlows Liebe noch ihr sexuelles Begehren „Exklusivität besaßen“. Ihr Liebeskonzept lässt auch ohne weiteres das „zügellose Leben an der Seite eines dauerhaften Partners“ zu, das Reventlow in manchen Phasen ihrer Schwabinger Zeit geradezu exzessiv pflegt. Allerdings kann Thießen zeigen, dass Reventlow ihrerseits an den kurzen Liebschaften ihrer dauerhaften Partner so sehr litt, dass sie sie nicht „in dem Maße“ zu tolerieren vermochte, wie sie es von ihnen für die ihrigen forderte.

Anders als Reventlow „reproduziert“ Oskar A.H. Schmitz in seinem Tagebuch „traditionelle Vorstellungen von weiblicher Weiblichkeit und männlicher Männlichkeit“, für die Weiblichkeit dann „am rechten Fleck saß“, „wenn sie dem Mann in Sachen Geist untergeordnet blieb und seine Sinne ansprach“. Überhaupt war es „für Schmitz’ Charakterisierung des Liebesobjekts konstitutiv“, dass sich die Frau dem Mann fügte. Damit korrespondiert ganz offensichtlich sein „suchtähnliches Verhalten hinsichtlich erotischer Abenteuer und Bordellbesuche“.

Wie Thießen zeigt, trennte Schmitz’ Liebeskonzept Liebe und Sinnlichkeit entsprechend den „Polen“ Geist und Körper. Beide, Liebe und Sinnlichkeit, überschnitten sich Thießens Analyse zufolge für Schmitz in der Leidenschaft. Dabei blieb Schmitz – trotz seiner Promiskuität – in einem „bürgerlich-romantischen Ideal von der großen Liebe“ befangen.

Schmitz’ Beschreibungen seiner Gefühle und Liebesobjekte nehmen sich gegenüber denjenigen Reventlows geradezu ärmlich aus. Die Geliebten werden bei Schmitz kaum einmal in ihrer Individualität erkennbar. Vielmehr „versah er [sie] meist mit ähnlichen, auf Verdinglichung oder Verniedlichung hindeutenden Begriffen“. Die Schilderungen seiner eigenen Empfindungen gegenüber seinen Geliebten lassen, wiederum anders als bei Reventlow, keine qualitativen Unterschiede erkennen, sondern vermögen nur die jeweils unterschiedliche „Intensität des Gefühls“ auszudrücken.

Ebenso wie Schmitz entindividualisiert und verdinglicht Frank Wedekind seine Geliebten, dabei konzentriert sich sein Sexualleben insbesondere „auf Kokotten“. Wedekinds „Beschreibung der jeweiligen Gefühle“ sind in seinen Aufzeichnungen „in Umfang und Genauigkeit verhältnismäßig knapp“. Weder unterscheidet er „verschiedene Arten des Liebens“, wie Reventlow es zu tun pflegte, noch auch nur eine „variierende Intensität der eigenen Empfindung“, wozu Schmitz immerhin noch in der Lage war. „Im Grunde“, so fasst Thießen zusammen, „beschrieb“ Wedekind „nur das Vorhandensein von Verliebtheit als ein kurzfristig auftretendes Wohlgefühl oder Liebe als etwas vergangenes und damit insgesamt vergängliches“.

Es ist ganz sicher keineswegs eine Übertreibung, wenn die Autorin den „Gefühlswortschatz“ des Schriftstellers Wedekind als „spärlich“ apostrophiert. Sein Liebeskonzept, so analysiert sie, basierte auf dem „Ausschluss großer Liebesempfindungen“ und zielte darauf „oberflächliche Verliebtheit und körperliches Vergnügen“ auszuleben. Letztlich habe er einem „auf Vermeidungsstrategien abzielenden Liebesideal“ gehuldigt.

Nachdem sich Thießen den drei TagebuchautorInnen jeweils separat gewidmet hat, beantwortet sie im vierten, abschließenden Kapitel die Frage, ob die Schwabinger Bohemiens jeweils „individuelle Gefühlsstile“ entwickelten oder aber die Boheme als solche eine „emotional community“ bildete. Wie die drei vorangegangenen Kapitel zeigten, lassen sich bei Reventlow, Schmitz und Wedekind je „höchst individuell“ Liebeskonzepte ausmachen, womit die Frage bereits beantwortet ist. Doch möchte Thießen in der Boheme nicht einmal eine „‚emotional community‘ ex negativo“ oder eine „emotional refuge“ erkennen, da deren „allgemeingültigen Merkmale“ für eine solche Zusammenfassung nicht ausreichten. Doch womöglich sei gerade „die Gleichzeitigkeit verschiedener Liebeskonzept und Individualität von Gefühlsstilen“ die „spezifische Signatur“ Schwabings gewesen: Eine überzeugende Volte. Denn eben dies, dass alle auch in ihren Liebesleben nach ihrer ganz eigenen Façon selig – oder auch unglücklich – werden konnten, ließ zwar die Boheme, nicht aber das Bürgertum zu.

Thießen belässt es im letzten Abschnitt nicht bei der Beantwortung ihrer zentralen Frage, sondern erörtert nun erstmals auch, ob sich geschlechtsspezifische Liebeskonzepte nachweisen lassen. Zunächst merkt sie recht vage an, es sei „durchaus denkbar, dass in der Boheme ebenso wie im Bürgertum unterschiedliche Gefühlsstile für Männer und Frauen entwickelt wurden“, konstatiert aber sogleich als konkreten Hinweis darauf, dass dem tatsächlich so war, nur Reventlow habe „Besonderheiten in der Darstellung ihrer Liebespartner entwickelt, während Schmitz und Wedekind zur Verdinglichung, Verallgemeinerung und Verniedlichung ihrer Partnerinnen tendieren.“ Zwar zeige der „Blick  auf geschlechtsspezifische Faktoren“ keine wesentlichen Unterschiede zwischen den Einstellungen von Bohemiens und Angehörigen des Bürgertums, resümiert sie, doch habe Reventlow alleine schon mit ihrer Lebensführung als „aktiv Liebender mit polygamer Natur […] eindeutig mit bürgerlich-tradierten Frauenbildern“ gebrochen. Reventlows von ihr selbst realiter gelebte „Vorstellungen von freier Mutterschaft und freier Sexualität“ seien sogar ein aufsehenerregender „Gegenentwurf zu ihrer großbürgerlich-familiären Prägung“ gewesen. Wohl wahr!

Trotz gelegentlicher Redundanzen, der einen oder anderen unglücklichen Wendung wie etwa die Rede von den „europäischen Zentren der deutschen Boheme“ (gab es denn auch außereuropäische?) oder den „unehelichen Müttern“, mit denen offenbar ledige Mütter gemeint sind, sowie der wiederholten Feststellung, dass „ein Gefühl sich irgendwie anfühlt“, hat Thießen ein instruktives Buch geschrieben, das ein bislang zu Unrecht vernachlässigtes Gebiet der historischen Emotionsforschung erhellt, sodass man nach der Lektüre des Bandes selbst mit dem allzu enthusiastischen Vorwort Rainer Herings einigermaßen versöhnt ist. Denn so Unrecht hat er mit seinen Lobpreisungen gar nicht.

Titelbild

Gabriele Thießen: „Da verstehe ich die Liebe doch anders und besser“. Liebeskonzepte der Münchner Boheme um 1900.
Verlag Traugott Bautz GmbH, Nordhausen 2015.
244 Seiten, 41,00 EUR.
ISBN-13: 9783959480260

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