Polysemie der Burg

Joachim Zeunes Büchlein „Ritterburgen“ räumt trotz des Titels mit Vorurteilen auf

Von Ulrike LauferRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ulrike Laufer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das in der Reihe Wissen des C.H.Beck-Verlages und damit im kleinen Format erschienene Taschenbuch mit dem Titel „Ritterburgen“ will vor allem eines: Aufklären. Und zwar darüber, dass der Buchtitel eigentlich falsch gewählt ist. Der Autor Dr. Joachim Zeune ist ein bekannter und gesuchter Spezialist für Mittelalterarchäologie und Burgenforschung. Mit zahlreichen Publikationen hat er das verbreitete Phänomen „Ritterburg“ hinterfragt, beschrieben und dabei versucht, eben dieses als Mythos und vielfachen Irrtum zu entlarven. Dass ausgerechnet er nun ein kleines komprimiertes Wissenskompendium zum Thema Burg mit „Ritterburg“ überschreibt, ist keine Resignation sondern wohl ein Kompromiss mit dem Verlag. Denn auch ein wissenschaftlicher Verlag kann sich guten Verkaufsargumenten nicht entziehen und Burgeninteressierte suchen ihre Informationen nun mal unter dem Stichwort „Ritterburg“ und nicht unter „Adelsburg“ oder „Feudalburg“. Der Verlag weist in einer verschämt im Impressum untergebrachten Danksagung und Vorbemerkung selbst darauf hin, dass diese Bezeichnungen wissenschaftlich gesehen als Titel richtiger gewesen wären. Ein mittelalterliches oder mittelalterlich anmutendes Bauwerk mit „Graben, Mauern, Türmen und Zinnen“ (nach der Überschrift zum 2. Kapitel des kleinen Kompendiums) ist in den seltensten Fällen die Burg rauflustiger Ritter, sondern in erster Linie ein „Machtsymbol und Herrschaftsinstrument“ (so die Überschrift zum 4. Kapitel) und natürlich auch eine „ewige Baustelle“, wie im fünften Kapitel ausgeführt. Um sich so etwas leisten zu können und auch ein Interesse an einem entsprechenden Millionengrab zu haben, braucht es eine gewisse Entrücktheit vom normalen Leben, bereit „ze turneie und ze strite“, d.h. als „Träger des Burgenbaus“ (Kapitel 3) muss man mindestens von Adel sein. In einem weiteren Kapitel widmet sich der Burgenforscher der Metamorphose einer Burg  zum Schloss sofern nicht im Verlauf der Jahrhunderte der Unglücksfall einer Zerstörung und eines Niedergangs zur Ruine und in späteren Zeiten zur archäologischen Grabungsstätte stattgefunden hat.

Diese klaren und deutlichen Ausführungen darüber, wie man sich denn nun eine Burg, ihre Entstehung, Entwicklung, ihre Bewohner und ihre Nutzung wirklich vorzustellen hat, sind eingerahmt von drei kurzen prägnanten Kapiteln, die dem Wissenskompendium über den neuesten Stand der Burgenforschung Würze verleihen. Im einleitenden Kapitel „Hogwarts und Camelot. Unser Leben mit dem Mittelalter“ geht es nämlich um die Entlarvung des Klischees und die dauerpräsente Anhänglichkeit an ein Mittelalter, das es so nie gegeben hat. Joachim Zeune weist nach, dass die übersteigerte Erwartungshaltung an die Burg als Sehnsuchtsort von Tugend, Macht und Pracht schon im 12. Jahrhundert, in der Blütezeit des Burgenbaus, literarisch begründet wurde. Hartmanns von Aue „Erec“, Wolframs von Eschenbach „Parzifal“ und der mit Gold und Edelstein verzierte Palas der Burg Dodone, die Ulrich von Zatzikhofen im „Lanzelet“ beschreibt, haben wesentlich dazu beigetragen.

Mittelalter- und Burgenromane haben auch in unserer Zeit Konjunktur. Sie treffen nicht nur den Geschmack eines „Reenactment“-Publikums, das sich in der Rolle von Burgfräulein und Raubritter gefällt und dem Burgentourismus einen neuen Boom beschert. „Event“, „Abenteuer“ und ein mehr von der Fantasie als von wissenschaftlichen Erkenntnissen geleitetes „Burgerlebnis“ erfüllen allgemeine Erwartungshaltungen, haben aber mit seriöser Geschichtsvermittlung wenig gemein.

Das Erbe des Mittelalters findet sich nicht nur auf den Burgen. Wir verdanken dieser vermeintlich dumpfen und dunklen Epoche technische Erfindungen, Verbesserungen in Landwirtschaft und Ernährung, zahlreiche Städtegründungen und auch das Aufblühen der Wissenschaften. Dass sich in dieser Zeit neben dem Lateinischen und Französischen auch der Gebrauch der deutschen Sprache – wenn auch in verschiedenen Ausprägungen –  durchsetzte, führte dazu, dass noch im 21. Jahrhundert zahlreiche Redewendungen benutzt werden, die aus Alltag und Kultur des Mittelalters entlehnt worden sind. Wer sich allerdings heute auf das hohe Ross setzt und das Heft in die Hand nimmt, kann trotzdem ein rechter Spießbürger sein. Das war damals anders.

Auch die Burgenrezeption schlug sich in der Sprache nieder. Joachim Zeune fügt seinen baugeschichtlichen Betrachtungen der Burgen am Schluss des kleinen Kompendiums ein Nachdenken „Über das Nachleben der Burg“ bis in die Spätromantik und den Historismus des 19. Jahrhunderts an. Sprachbilder rund um die Burg gab es schon in der Bibel, bzw. ihren Übersetzungen. Die Burg schützte jedoch nicht nur Glauben, Gottvertrauen und göttliche Verheißungen sondern auch Tugend, Keuschheit und reine Liebe, bzw. Minne. Gleichzeitig demonstrierten ihre trutzigen Mauern und Türme Macht und Einfluss. Diese übersteigerte Symbolhaftigkeit brachte mit der letzten Blüte des Rittertums im 15. und 16. Jahrhundert einen Boom der Burgenrezeption mit sich. Obwohl die Technik der Artillerie inzwischen leistungsfähige Kanonen entwickelt hatte, so dass hohe Türme und dicke Wehrmauern kaum mehr strategische Hindernisse darstellten, wurden wieder mächtige Gebäude mit hohen Bergfrieden und Wachtürmen sowie militärtechnisch vollkommen unbrauchbaren Zinnen im Stauferstil beauftragt. Auch entstand allerlei Hausrat und kunstgewerblicher Zierrat mit Zinnen, Türmen oder entsprechenden Abbildungen von Burgen.

Nachdem im Dreißigjährigen Krieg viele Burgen geschleift und im Zeitalter des Barock entweder verlassen oder endgültig zu Schlössern umgebaut worden waren, erwachte am Ende des 18. Jahrhunderts erneut das Interesse an Rittertum und Burgenromantik. Im deutschsprachigen Raum eröffnete Goethe prominent den Reigen mit dem „Götz von Berlichingen“, Schiller folgte wenig später mit dem nicht so bekannten „Ritter Toggenburg“. Wir wissen, wie es weiterging: Hofgesellschaften, Künstler und schließlich auch Bürger bemächtigten sich des neu auflebenden Mittelalterbooms und feierten Kostüm- und Ritterfeste, um die sie heutige Reenactment-Gruppen nur beneiden können. Der Boom griff auf die Architektur über und begeisterte sowohl Bauherren des Hochadels wie auch des Bürgertums. Am Ende saßen alle vereint in den großen Opern Richard Wagners und schwelgten bei „Parsifal“, „Tristan und Isolde“ oder auch dem „Tannhäuser“ nicht nur in großartigen Bühnenbildern und ergreifender Musik sondern auch in der irrigen Vorstellung von einem „deutschen Mittelalter“, „deutschem Burgenbau“ und „deutschem Rittertum“.

Man hätte sich an dieser Stelle des Werks eine nachhaltigere Aufdeckung dieses bis weit ins 20. Jahrhundert gepflegten Irrtums gewünscht. Zeune verzichtet darauf, wohl auch deshalb, weil er seine Leser schon in den vorherigen Kapiteln auf internationale Vorbilder und entsprechende kulturelle Adaptionen aufmerksam gemacht hat. Dies ist angesichts des knappen vorgegebenen Formats legitim. Allerdings wäre ein Hinweis auf eine gleichzeitig oder gar schon früher in England, Frankreich, Österreich und anderen europäischen Ländern stattgefundene Mittelalter- und Burgenrezeption hier wünschenswert gewesen.

Immerhin waren nicht nur in Europa die Burgenbegeisterten der Spätromantik und des Historismus im 19. Jahrhundert und noch im 20. Jahrhundert wesentlich mehr an historischer Realität und einem Abgleich mit wissenschaftlicher Forschung, historischen Quellen und archäologischen Funden interessiert, als so mancher, der sich heutzutage Fantasyfilmen und Romanen mit mittelalterlichem Inhalt hingibt.

Joachim Zeune widmet das letzte Kapitel der Fragestellung „Die Burg als lebendiges Denkmal?“ und beklagt darin den „Verlust an historischer Authentizität“. Der Bau und Wiederaufbau von Burgen im 19. und 20. Jahrhundert war auch von Motiven der Selbstdarstellung und politischer Selbstvergewisserung geleitet. Besonders schlimm traf es 1938/42 die Reichsburg Trifels. Die einstige Schatztruhe des mittelalterlichen Kaisertums, in der nicht nur die Reichskleinodien sondern allerlei weiteres Wertvolles aufbewahrt wurden, darunter auch der Gefangene Richard Löwenherz, geriet im Zuge des NS-Propagandabau zu einer „bombastischen“ Monumentalarchitektur. (Was ihrer Beliebtheit als touristisches Ausflugsziel in der Folge nicht geschadet hat).

Schlimmer traf es viele Burgen und Burgruinen, als in der Charta von Venedig 1964 zwar endlich europaweite Richtlinien zum Schutz von Denkmälern gefunden, gleichzeitig jedoch neue Nutzungen und damit verbundene bauliche Ergänzungen oder Änderungen ausdrücklich erlaubt wurden. Die Forderung, dass diese An- und Umbauten gerade auch in ihrer Materialsprache deutlich zu erkennen sein müssten, ließ die Fantasie der Anhänger moderner Architekturen aufblühen und führte zu skurrilen Burgenrestaurants oder Tagungshotels etc. in kühn gemischter Stahl-Glas-Ruinen-Optik mit – so Joachim Zeune – oftmals „katastrophaler“ Beeinträchtigung des eigentlichen Denkmals.

Dass es auch anders gehen kann, zeigt das Beispiel der Sanierung der Burgruine Hohenfreyberg. Zeune weist allerdings selbst daraufhin, dass es sich hier nicht um eine Sanierung für eine neue Nutzung sondern um eine Bestandssicherung gehandelt hat. Damit wurde ein „außergewöhlich reizvolles Ruinenflair“ bewahrt. (Die Rezensentin möchte daran erinnern, dass diese aufwändige Sanierung zwischen 1995 und 2006 wohl nur aufgrund der Einbettung in eine an ähnlichen Bauwerken reiche und touristisch gut erschlossene Burgenlandschaft im Ost-Allgäu gewagt werden konnte und dank finanzieller Mittel eines ismaelitischen Prinzen und UN-Politikers aus der Familie der Aga Khan ermöglicht worden ist.)

Nicht immer stellen sich solch glückliche Konstellationen ein und das Dilemma einer „erfolgreichen Denkmalpflege“ zwischen einer den Burgen oder Burgruinen gerecht werdenden Sanierung und einem dauerhaften Erhalt als „lebendiges Denkmal“ bleibt schwierig.

Nach wie vor lassen sich Menschen von  einem „wild-imaginierten Mittelalter“ faszinieren und die Burgherren von heute, private wie öffentliche, beeilten sich, diese Erwartungen zu bedienen. Der Autor macht kein Hehl daraus, dass „Erlebnisburgen“ nur selten seinen Vorstellungen von einem „korrekten Umgang“ mit Burgen entsprechen. Sie sind und bleiben aber ein wichtiger Weg, um Konsens in der Gesellschaft zum Erhalt der mittelalterlichen Bauwerke zu erzeugen und die notwendigen Mittel für ständig notwendige Sanierungen zu generieren.  

Allerdings bleibt dabei das ewige Label „Ritterburg“ zu diskutieren. Wir leben in Zeiten, in denen gewalttätige Auseinandersetzungen, Waffenverherrlichung und eine ohnedies oft chauvinistisch konnotierte Verherrlichung von Kampf und Ehre zu Recht abgelehnt werden. Natürlich ist eine Burg ohne Waffen und Verteidigungstechnik nicht denkbar. Aber in den „Ritterspielen“ wird oft genug verdrängt, dass Pfeil und Bogen, Armbrust und Schwert Tod und schreckliches Leid mit sich brachten.  „Rittertum“ und „Burg“ können auch auf andere Art und Weise faszinieren: Die Welt des Mittelalters war gefährlich und hart, aber erfindungsreich. In der hohen Zeit des Burgenbaus lebten Handel, Technik und Wissenschaften auf. Diese Welt war bunt und neugierig und beinhaltete einen ständigen Austausch zwischen Orient und Okzident.

Es ist dringend geboten, das von der Wissenschaft schon längst als folkloristisch entlarvte Beiwerk von Verlies, Folter und Hexenturm auf den meisten der sogenannten „Erlebnisburgen“ zu verabschieden. Joachim Zeune hat seinen Ausführungen anstelle eines Nachworts „Die zwölf schlimmsten Irrtümer über Burgen“ angefügt. Allein diese machen das Büchlein lesenswert. Seinen „schlimmsten Irrtümern“ ist noch ein Dreizehnter anzufügen. Nämlich den, dass Burgen nur dann für Touristen attraktiv sind, wenn sie den gängigen aber vollkommen unhistorischen Vorstellungen von „Ritterburgen“ entsprechen.

Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg

Titelbild

Joachim Zeune: Ritterburgen. Bauwerk, Herrschaft, Kultur.
Verlag C.H.Beck, München 2015.
128 Seiten, 8,00 EUR.
ISBN-13: 9783406660917

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