Unheimlich-Hybrides in der Gegenwartsliteratur

Heinrich Steinfests „Das grüne Rollo“ als Spiel mit verborgenen Wirklichkeiten

Von Raphaela BraunRSS-Newsfeed neuer Artikel von Raphaela Braun

Sich als Germanistin mit einem der Romane Heinrich Steinfests auseinanderzusetzen, bedeutet insofern ein Wagnis, als es genau der distanzierte, mausgraue Typus der weiblichen Fachwissenschaftlerin ist, der in zahlreichen Romanen des Autors wegen seiner schlechten Angewohnheit, alles und jedes Ding ausschließlich durch die kalte nüchterne Sezierbrille wahrzunehmen, schlecht wegkommt.[1] Steinfest selbst offenbart sich durch seine Romane und kritischen Bemerkungen zum aktuellen Tagesgeschehen immer wieder als ein Anhänger einer anderen Art von Weltwahrnehmung, als ein Autor, dem es auf die feinen Nuancen im Zwischenmenschlichen und insbesondere auf das Recht jedes Einzelnen, jenseits der ausgetretenen Pfade von klischeebeladenen Denkweisen und Vorschriften sein individuelles Dasein zu wählen, ankommt. Der Autor wird in seinem Bestreben an dieser Stelle ernst genommen, indem er nicht zum Opfer fachwissenschaftlicher Kategorisierungen und Zuordnungen gemacht, sondern mit solchen in einen offenen Dialog gebracht wird. Mit vielen seiner Romane überschreiet Steinfest immer wieder spielerisch sowohl Genregrenzen als auch die binnenfiktionalen Realitätsregeln, weshalb eine Diskussion seiner Texte im Paradigma des „Unheimlichen“ sinnvoll erscheint. Insbesondere der aktuellste Roman „Das grüne Rollo“ (2015) bietet sich schon wegen seiner expliziten Gestaltung mehrerer fiktionaler Binnenwelten für eine solche Betrachtung an. Zudem setzt der Verlag ihn in einen Bezug zu E.T.A. Hoffmann, der mit seiner spezifischen Gestaltung in der Schwebe bleibender Realitätsentwürfe den Diskurs um fantastische und unheimliche Schreibweisen entscheidend mitbestimmt hat. Diesem Bezug soll hier nachgespürt werden.

Heinrich Steinfest und seine hybriden Textgebilde

Steinfest, der seine schöpferische Tätigkeit zunächst als bildender Künstler in Wien begann, suchte bereits seit der Mitte der 1990er-Jahre „ein Gegengewicht zur eher abstrakten und hermetischen Wirkung“ seiner Kunstobjekte, bemühte sich um „einen Ausgleich zur bildungsbürgerlichen Verkopftheit der Kunstwelt“[2] und fand ihn in ersten eigenen Kurzgeschichten. Der Wille zum entgrenzten Spiel ist denn auch in seinem 1995 erschienenen literarischen Debüt, der Kurzgeschichtensammlung „Brunswiks Lösung: von Engeln, Nachtwächtern und anderen Sterblichen“, gut erkennbar. Hier handelt es sich um teils surreale, teils der Science-Fiction entstammende Kurztexte. In den Folgejahren wandte sich Steinfest dann Romanen zu; immer wieder ist zu lesen: Kriminalromanen. Bereits an dieser Stelle aber greifen kategoriale Beschreibungen zu kurz. Richtig ist zwar, dass sich Steinfest bis ins Jahr 2011 bevorzugt Geschichten widmet, in denen kriminalistische Ermittlungen handlungstreibend sind, allerdings verkommen diese neben einer Fülle von wahrhaft kuriosen, witzigen Einfällen für Nebenfiguren, Ausbrüchen in Science-Fiction und Fantasy, küchenphilosophischen, gesellschaftssatirischen Betrachtungen der kleinen Dinge im menschlichen Alltag und der großen Fragen der menschlichen Seelenabgründe gleichzeitig häufig zum Nebenschauplatz.

Steinfests Romane sind sprachlich äußerst innovativ und witzig (dies ist auch der erklärte Anspruch des Autors), wissen zu unterhalten (wenn auch nicht unbedingt durch die plausible Plotführung[3]) und akkumulieren Betrachtungen über Hunde, Kinder, Schulrucksäcke, Engel, das Böse, Fußball, den Zusammenhang von weiblicher Persönlichkeit und modebewusster Kleidung – kurzum: alle möglichen Bereiche des täglichen Seins. Steinfest bevölkert seine Romane gern mit Klischeehaftem und Außergewöhnlichem, das bereits deshalb außergewöhnlich ist, weil es sich von der gängigen Sichtweise wohltuend abhebt. Neben Skurrilem, wie beispielsweise dem berühmten einarmigen, chinesisch-stämmigen Privatdetektiv Markus Cheng aus Wien[4] oder der perfekt gestylten Polizistin Lilli Steinbeck, deren Nase per Unfall klingonisch geformt wurde,[5] finden sich immer wieder auch anrührende Szenen, die Mancher kitschig nennen mag, die aber vielleicht Teil des vom Autor erklärten Ziels sind, „in erster Linie […] zu trösten“.[6] Gleichzeitig reflektieren metatextuell verweisend Figuren über die Verkopftheit des zeitgenössischen Kunstbetriebs, die Verklemmtheiten (und den schlechten Modegeschmack) von Germanistinnen oder die Möglichkeit, einen Krimi zu schreiben, der nicht nur automatisch als Aneinanderreihung flacher Handlungsmuster in einfallsloser Sprache konstruiert ist. Ein Buchhändler in „Batmans Schönheit“ etwa bewertet das Krimigenre, zu dem der Roman selbst zuzuordnen wäre, folgendermaßen:

„Ich habe nichts gegen das Genre an sich“, erklärte der Buchhändler, „sondern gegen die Leute, die in diesem Genre wüten. Kaum fühlt sich einer imstande, einen halbwegs geraden Satz zu bilden, meint er, Kriminalromane schreiben zu müssen. Warum eigentlich? Warum lockt der Krimi die Minderbemittelten und Minderbegabten, deren Kunst sich im Abfassen halbwegs gerader Sätze erschöpft? […] Möglicherweise kommt es davon, daß der Themenkreis so reduziert dasteht: Gewalt, Vernichtung, Demütigung, dieses Bedürfnis nach Exaltation, nach Blut und Qual. – Können Sie mir sagen, was das für Leser sind, die irgendeinen Nutzen daraus beziehen, die detaillierte Beschreibung einer verstümmelten Leiche zu konsumieren, und zwar in der Regel in einer völlig unpoetischen Sprache?“[7]

Genauso bunt gemischt wie die sprachliche und thematische Vielfalt stellt sich meistens auch die Handlungsführung in Steinfests Romanen dar. Unmöglich vorauszusehen, welcher Einfall die Romanrealitäten als Nächstes verschieben wird, unmöglich sich einem Steinfest-Roman mit einer einem einzelnen Genre geschuldeten Leseerwartung zu nähern. Dies kann einen Fan geradliniger kriminalistischer Ermittlungsarbeit und analytischer Handlungsauflösung im Krimi enttäuschen, kann aber eben auch alle Erwartungen im besten Sinne übertreffen. Ob das überbordend Fantasievolle, zur Ausschweifung Neigende, bisweilen Überladene in Steinfests Romanen gefällt oder nicht, ist freilich Geschmackssache.

Dabei darf es mit einem kurzen Blick auf die Tradition der Kriminalliteratur eigentlich nicht verwundern, dass Kriminologisches und Fantastisches so dicht beieinanderliegen können, gehört doch zum Wesentlichen beider Formen, Spannung durch das im Verborgenen Liegende, das erst entdeckt oder enträtselt werden muss, zu erzeugen. Je länger das sogenannte „Unheimliche“ die erzählerische Konstruktion bestimmt, nicht rational erklärt werden oder mit den Regeln der binnenfiktionalen Realität in Einklang gebracht werden kann, desto länger bleiben Figuren und Leser in einem spannungsgeladenen Schwebezustand, desto länger spüren die Rezipienten einen wohligen Schauer. Bereits im 18. Jahrhundert, bekanntermaßen aber spätestens zur Zeit der Romantik häufen sich literarische Erzeugnisse, die mit den verborgenen, den „Nachtseiten“ der menschlichen Seele und ihren Gefährdungen spielen. Verstärkt rückt auch das Verbrechen in den Blick literarischer Bearbeitungen, und nicht selten sind es dieselben Autoren, die beide Themenkomplexe verarbeiten und mit ästhetischen Diskursen ihrer Zeit verknüpfen. Ein besonders bekanntes Beispiel in diesem Kontext ist E.T.A. Hoffmann, der später von vielen, unter anderem von Walter Benjamin, in einer auf eben das „Unheimliche“ verengten Sichtweise als der „Gespenster-Hoffmann“[8] bezeichnet werden sollte. Es ist ausgerechnet dieser Autor, der mit seinen facettenreichen Erzählexperimenten zugleich faszinierte und abstieß, mit dem der Klappentext Heinrich Steinfests aktuellsten Roman „Das grüne Rollo“ vergleichend in eine Reihe stellt. Doch wie nahe liegt ein solcher Vergleich?

Die Kategorie des „Unheimlichen“ als ästhetisch-psychologisches Hybrid

So hybrid wie sich Steinfests Texte geben, ist auch das Feld des „Unheimlichen“, das sich seit der Antike in zahlreichen Texten stimmungshaft verwirklicht findet, das aber auch innerhalb theologischer, ästhetischer, psychoanalytischer und literaturtheoretischer Diskussionen als Kategorie und/oder Empfindung vielgestaltig bestimmt wird. Ein alltagspraktischer Gebrauch des Adjektivs „unheimlich“ wird bereits einige der Dimensionen der fachlichen Debatten unbemerkt enthalten: „Unheimlich“ sein kann den Menschen ein Ding, eine Situation, eine Umgebung, vielleicht ein Film. Diese Sub- oder Objekte entfalten eine emotionale Wirkung auf den wahrnehmenden Menschen, die sich bis hin zu allen physischen Wirkungen des Grauenhaften, wie sie schon eindrücklich bei Edmund Burke nachzulesen sind, ausprägen kann. Darüber, was genau das Unheimliche ausmacht, worin es besteht und welchen Effekt seine Wirkung haben kann, besteht hingegen keine Einigkeit. Als emotionale Wirkung im Menschen, die unabhängig von einem bestimmten historischen Zeitpunkt sowohl durch reale Begegnungen als auch durch die Einwirkung fiktionaler künstlerischer und medialer Erzeugnisse immer wieder entsteht, hat sich das Unheimliche in zahlreiche Diskurse eingewoben, in denen es in irgendeiner Form um archetypische und anthropologische Vorgänge geht.

Kunst und Literatur als ‚Klassiker‘ der menschlichen Affektbehandlung und Affekterzeugung sind insofern selbstverständlich von der Diskussion um das Unheimliche betroffen. Besonders augenfällig wird diese Verbindung am Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts, wenn die Ästhetik unter anderem in Bezug auf das Genre der „gothic novel“ den läuternd-kathartischen Effekt des von textlichem Grauen erzeugten Schreckens beleuchtet. Was zunächst kompliziert klingt, ist einfacher gedacht: Der literarische Text erzeugt spukhafte Szenerien – wer kennt nicht die typischen Zutaten der alten Gruselgeschichte wie Spukschlösser, Ruinen, Geister, nächtlich-undurchsichtige Szenen mit namenlosen Schatten an den Wänden, unerklärliche und oft übernatürlich wirkende Ereignisse – und zeigt perspektivisch zugleich die im Schrecken befangene Figur. Die Atmosphäre und die Perspektive übertragen sich dann im besten Fall auf den Leser, der dadurch ebenfalls vom Schrecken erfasst wird. Was dadurch im Idealfall geschehen soll, hängt eng mit dem ästhetischen Verständnis der Zeit zusammen. Nach diesem kann die Erfahrung bestimmter Affekte zu einer umfassenden metaphysischen Erkenntnis der Welt und des menschlichen Daseins oder alternativ zu einer Erkenntnis des Transzendenten führen. Zwei Dinge sind in besonderem Maße geeignet, dem Menschen diese Erkenntnis zu verschaffen: erstens das in besonderem Maße Schöne, das in seiner den Menschen übersteigenden, zeitlosen Ewigkeit diesem seine Nichtigkeit und Unvollkommenheit vor Augen führt. Und zweitens das Schreckliche. Damit ist eine Form der das menschliche Verstehen überschreitenden und ihn daher in Angst vor dem Nicht-Fassbaren versetzenden Erfahrung gemeint. Eine Form jener Angst ist nun in einem ästhetischen Verständnis auch das Unheimliche.

Seit dem 18./19. Jahrhundert hat sich freilich der Begriff um andere Nuancen erweitert und man assoziiert mit ihm – viel rascher als mit Burke – den Romantik-Adepten Sigmund Freud mit seinem berühmten Essay „Das Unheimliche“ (1919). Seine in der Ästhetik sicher nicht sehr geschulte Abhandlung zu der für ihn zunächst keineswegs eindeutigen Kategorie schließt grundsätzlich an das frühe 19. Jahrhundert an – und zwar insofern, als er für seine Überlegungen bekanntermaßen Beispieltexte aus der Literatur jener Zeit wählt, genauer aus der Romantik. Und noch genauer: aus dem Werk eines besonders an den Ängsten der Menschen interessierten Autors: E.T.A. Hoffmann. Freuds detaillierte Ausführungen zu den unterschiedlichen Formen des Unheimlichen im realen Leben und in der Literatur vermögen nur bedingt, literarische Analysen durchzuführen. Es seien an dieser Stelle aber doch einige wichtige Beobachtungen des Psychoanalytikers wiedergegeben, weil sie zeigen, wie sich eine Verbindung von medizinischer Betrachtung und Literatur herstellen lässt.

Freud leitet sich den Begriff des Unheimlichen in Auseinandersetzung mit Ernst Jentsch etymologisch mit Hilfe des Grimm’schen Wörterbuchs her. In Absetzung von Jentsch, für den das Unheimliche eine intellektuelle Unsicherheit gegenüber dem Fremden und Unvertrauten bedeutet (insbesondere der Zweifel darüber, ob ein lebloser Gegenstand nicht etwa doch beseelt sei), kreiert Freud ein ambivalentes Verständnis: Das Unheimliche ist zugleich das Vertraute und das Unvertraute. Es ist das mit dem „Heim“ als geschütztem, wohlbekannten Ort verknüpfte „Heim-liche“, gleichzeitig aber auch das dem Blick an diesem Ort enthobene und verborgene „Ge-heime“. Emotional gesehen ist es eine Form der Angst, das ist nicht neu. Diese Angst rührt von zwei Quellen her: entweder von einer verdrängten Vorstellung aus der Kindheit oder von einem überwundenen animistischen Realitätsverständnis aus voraufklärerischer Zeit oder ebenfalls der Kindheit. Als Beispiele führt Freud zunächst gleichberechtigt Fälle aus der Literatur und aus seiner Berufspraxis an, wobei die literarischen Interpretationen, insbesondere die Erzählung „Der Sandmann“ von E.T.A. Hoffmann, den größten Anteil einnehmen. Die Analogie von realem Erleben und dem Erleben der Figuren in der Fiktion beziehungsweise dem Erleben der Fiktion durch den Leser stößt aber bereits in Freuds Überlegungen auf ein Hindernis: Für die Fiktion gelten andere Regeln, sind die Möglichkeiten der Gestaltung des Unheimlichen zahlreicher. So konstatiert Freud, dass im realen Erleben sowohl die Wiederkehr des Verdrängten als auch die Wiederbelebung eines überwundenen Realitätsglaubens das Gefühl des Unheimlichen hervorriefen. Und auch in der Fiktion bringe die Wiederkehr des Verdrängten eine unheimliche Wirkung hervor. Da aber innerhalb der Fiktion die Möglichkeit bestehe, von Beginn an ein animistisches Weltbild als regelkonform vorauszusetzen, wie es zum Beispiel im Märchen der Fall ist, müsse ein wunderbares Geschehen nicht zwangsläufig unheimlich sein. Unheimlich sei in der Fiktion nur das, was einen Urteilsstreit über den Realitätsstatus der Vorgänge innerhalb einer Erzählung auslöse. Die literaturtheoretische Diskussion kennt für diesen Schwebezustand von Realitätszuordnungen in fiktionalen Texten heute einen anderen Terminus: Was Freud beschreibt, ähnelt der Todorov’schen Kategorie des „Fantastischen“.

Tzvetan Todorov hingegen unterscheidet ebenfalls ein „Unheimliches“ und zwar vom „Fantastischen“ und vom „Wunderbaren“. Seinen Ausführungen gemäß „währt das Fantastische nur so lange wie die Unschlüssigkeit“[9] über den Regelstatus des Geschehens. Sobald der Leser die Entscheidung trifft, dass das übernatürliche Geschehen wirklich übernatürlich, das heißt den Regeln der binnenfiktionalen Wirklichkeit nicht gemäß ist, wird es zum Unheimlichen. Wenn das übernatürliche Geschehen hingegen mit den Regeln der Binnenfiktion erklärbar ist, dann ist es wunderbar. Todorov verlässt mit seiner Theorie also die Ebene des Ästhetischen und die Ebene des Psychologischen zugunsten einer strukturellen Argumentation. Für die Festlegung des Textstatus als fantastisch, wunderbar oder unheimlich ist nicht länger von Bedeutung, ob der Leser Schrecken oder einen anderen Affekt verspürt, sondern lediglich, wie er sich hinsichtlich der Wirklichkeitsplausibilität entscheidet.

Diese Überlegungen sollen im Hinterkopf bleiben, wenn nun nach der Vergleichbarkeit der unheimlichen oder fantastischen Gestaltung von Hoffmanns Erzähltexten und Heinrich Steinfests „Das grüne Rollo“ gefragt wird.

Heinrich Steinfest als Erzähler unheimlicher Vorgänge?

Zunächst einmal muss vorweggenommen werden, dass Steinfests Romane in ihrer Wirkung auf den Leser keineswegs auf eine unheimliche oder schaurige Wirkung hin angelegt sind. „Das grüne Rollo“ bildet in dieser Hinsicht ebenfalls keine Ausnahme. Die idealistische Vorstellung einer affektregulierenden Wirkung durch Literatur ist heute eine überholte Vorstellung, auch wenn nicht geleugnet werden kann, dass sich eine bestimmte Sparte des Romans und des Films mit neuen Techniken weiterhin exzessiv an einer unterhaltsamen Form der Horrorwirkung beschäftigt. Welche Implikationen dies für ein grundsätzliches menschliches Bedürfnis nach künstlichen, lustvollen Schauergefühlen birgt, kann hier jedoch nicht diskutiert werden. Von Bedeutung hingegen sind Fragen der binnenfiktionalen Plausibilisierung wunderbarer Geschehnisse. Gibt es sie bei Steinfest, die Rückkehr des Verdrängten oder die Wiederbelebung eines animistischen Weltbildes? Wie verhält es sich im „Grünen Rollo“ mit den binnenfiktionalen Regelüberschreitungen?

Vom Autor selbst ist bekannt, dass er gern Geschichten schreibt, die „gerade noch möglich“[10] sind. Es verwundert daher nicht, wenn ein Blick auf die drei Großkapitel des „Grünen Rollo“ bereits eine Unsicherheit schürt. Es handelt sich um „Das grüne Rollo, der erste von zwei, womöglich drei Teilen“, „40 Jahre später oder Furcht und Schrecken“ und „Der womöglich dritte Teil“. Sie seien inhaltlich kurz vergegenwärtigt. Teil eins ist der Kindheit des jungen Theo gewidmet, der in einer offenkundig den uns Lesern gewohnten Regeln der Realität folgenden Welt lebt. In diese Welt bricht eine zweite Realität unvermittelt ein, als Theo eines Nachts ein mysteriöses grünes Rollo vor seinem Fenster entdeckt. Dessen bloße Existenz ist aus der Perspektive des Jungen deshalb bereits ungewöhnlich, weil seine Eltern erklärtermaßen jede Form der Fensterverkleidung im Haus ablehnen. Zweitens gibt es keine Erklärung für das plötzliche Auftauchen, und drittens stellt sich heraus, dass sich auf dem Rollo eine andere Welt abzeichnet, eine „grünliche Welt“, von der ein Sog ausgeht, dem Theo allerdings erst nachgibt, als er durch das Rollo ein in Lebensgefahr schwebendes Mädchen erkennen kann. Theo kann durch das Rollo mühelos die Welten wechseln (typographisch wechselt dabei die Schrift im Roman von schwarz zu – wer hätte das gedacht – grün). Die grünliche ist von formlosen Männern bestimmt, die Ferngläser an Stelle ihrer Augen tragen und ihn damit durchdringend anzustarren scheinen. Ihre Existenz und ihr Handeln bleiben zunächst unerklärlich und gerade in dieser Unerklärlichkeit im Sinne einer intellektuellen Unsicherheit auch unheimlich. Viele Sachverhalte innerhalb der grünlichen Welt sind dagegen der Welt Theos ähnlich, wieder andere, wie das Messer Lucian, scheinen belebt, durch die von ihnen ausgehende hilfreiche Kraft aber wie ein Wundergegenstand aus dem Märchen. Theo sieht seine Mission darin, das Mädchen Anna, offenbar in der Gewalt der Fernglasmänner, zu befreien. Wie in einer guten Abenteuer- und Fantasygeschichte gibt es Helferfiguren, die auf typisch Steinfestʼsche Weise mit kuriosen, aber nicht übernatürlichen Zügen ausgestattet sind: den Fernfahrer Béla, die herzkranke Hündin Helene und den degradierten Meisterkoch.

Die Rettung des Mädchens gelingt: Theo nimmt Anna mit durch das grüne Rollo in seine ursprüngliche Welt und lässt das Rollo von seiner Tante entsorgen. Annas Auftauchen in Theos Welt schafft überraschenderweise keine Erklärungsschwierigkeiten: Es ist, als sei sie immer dagewesen, als seine kleine Schwester. Nur Theo, der sich an seine Rettungsmission erinnert, empfindet ihre Anwesenheit als nicht natürlichen Vorgang in einer ansonsten natürlichen Welt, verdrängt diesen Widerspruch aber im Laufe der Zeit. Da der Leser in seiner Beurteilung der Geschehnisse von der Perspektive Theos abhängt, kann eine Entscheidung darüber, ob das Geschehen in „Greenland“ ein binnenfiktional wirkliches ist oder nicht, nur in Abhängigkeit davon getroffen werden, wie plausibel Theo als Erzähler erscheint. Ist es möglich, dass Theo in das grüne Rollo eingetaucht ist? Oder handelt es sich im Sinne Freuds bei seiner retrospektiven Erzählung um die Wiederkehr animistischer Vorstellungen aus der Kindheit? Oder wäre drittens die binnenfiktionale Welt im „Grünen Rollo“ als eine denkbar, in der nur Kinder Zugang zu ansonsten übernatürlichen Welten und Gegenständen haben? Letzteres wäre eine Vorstellung, die stark an ein Kinderbuch erinnern würde. Kapitel zwei und drei allerdings verändern die Einschätzung noch einmal.

Teil zwei vollzieht einen deutlichen Zeitsprung. Der 50-jährige Theo berichtet hier aus seinem Leben als Erwachsener. Frappierend dabei ist dabei der Umstand, dass viele der kindlichen Vorstellungen, die Theo im ersten Teil von seinem Leben als Erwachsener offenbart hat, nunmehr offenbar zu Realitäten geworden sind. Er ist Astronaut geworden, hat Frauen nach seinen Vorstellungen geheiratet et cetera. Dies erscheint im Sinne der Erzählführung eines Romans für Erwachsene wenig plausibel und erinnert eher an eine geradlinig gesponnene Kindererzählung, die sich nun mit Science-Fiction vermischt. Theo, der wegen seiner Unruhe bei einer Marsmission lediglich Nachtwächter der Raumfähre sein darf, entdeckt plötzlich das grüne Rollo wieder, um ein weiteres Mal in die grünliche Welt einzutauchen. Dort herrscht der Verfall. Alles wirkt heruntergekommener, hat weniger Form. Dem Protagonisten fällt die Orientierung schwer und doch scheint seine Mission die gleiche wie noch als Kind zu sein: Anna, die nun erwachsen, seine Schwester, depressiv und Alkoholikerin ist, muss vor den „Männern mit den scharfen Augen“ gerettet werden. Diesmal aus einer Schwimmbadbar, in der sie um ihr Leben trinkt. Theo entdeckt jedoch schließlich, dass er seine Mission immer missverstanden hat: Nicht ihm kommt hier eine Retterrolle zu, sondern er muss zu der Selbsterkenntnis gelangen, selbst zu den „Männern mit den scharfen Augen“ zu gehören. Der Beobachtete wird zum „Beobachter“, nimmt Abschied von seiner aktiven Retterrolle und geht in der formlosen Masse der Männer auf, was in jeder seiner Welten den Tod bedeutet.

Der zweite Teil des Romans vermischt nun also beide Welten noch stärker. Er lässt die ursprünglich nicht-übernatürliche Welt dadurch die Möglichkeiten der außerfiktionalen Welt überholen, dass plötzlich Reisen zum Mars und andere Dinge tatsächlich möglich sind. Gleichzeitig gelangt Anna diesmal mit allen Kennzeichen, die sie in der natürlichen Welt trägt, in die übernatürliche grüne; das Messer Lucian, dessen Existenz von Theo inzwischen so weit verdrängt worden ist, dass er sie ganz bezweifelt, wird ebenfalls innerhalb der natürlichen Welt wieder präsent. Der Übergang beider Welten ist damit vollkommen fließend geworden. Innerhalb der Wahrnehmung Theos, die vorerst weiterhin die einzige Erzählperspektive des Romans bleibt, ist die Existenz übernatürlicher Phänomene so letztlich tatsächlich möglich und wird in dem Maße, in dem Theo diese Existenz den Regeln seiner Wirklichkeit einverleibt, binnenfiktional regelgemäß. Einfacher gesagt: Solange Theo an den Bedingungen und Möglichkeiten der grünen Welt zweifelt, solange bleiben die dortigen Phänomene unheimlich, und so lange wäre ihre Verdrängung und Wiederkehr auch im freudschen Sinne etwas Angst Auslösendes, Unheimliches. In dem Maße aber, in dem diese Dinge zu einer Realität Theos werden, die er bruchlos hinnimmt, ändern sie ihren Charakter vom Unheimlichen zum Wunderbaren. Die Frage, ob es sich bei den Geschehnissen im Roman um fantastische handelt, lässt sich auf diese Weise allerdings immer noch nicht beantworten, da dazu gefragt werden müsste, wie verlässlich dem Leser die Perspektive Theos dargestellt wird.

Erhellung oder Verdunkelung für diese Frage birgt der letzte Teil des Romans, der, man erinnere sich, ja nur der „womöglich dritte Teil“ ist. Hier nämlich endet die Perspektive Theos, der über den Tod hinaus nicht von seinem Leben berichten kann. Stattdessen übernimmt nun Dr. Winter, der Hausarzt Theos, die Berichterstattung. Er erklärt, dass der 10-jährige Theo mit einem grünen Rollo aus seinem Kinderzimmerfenster gestürzt und bis zu seinem Tod mit 50 Jahren künstlich am Leben gehalten worden sei. Winter hat das Leben Theos seit dessen 30. Lebensjahr verfolgt und als einen Forschungsfall begleitet. Sein Interesse galt den Vorgängen des Gehirns von Komapatienten und den Fragen nach ihrem Bewusstseinszustand. Ohne dabei in Theos Kopf blicken zu können, entwickelt Winter Messinstrumente, die die Bewusstseinsaktivität aufzeichnen können. Winters Beobachtungen werden immer wieder mit den Umständen von Theos Koma eng geführt und liefern dem Leser nachträgliche Plausibilisierungsangebote für das unheimliche oder wunderbare Geschehen in Theos grüner Welt.

Es zeigt sich eine geschickt angelegte Verwebung der beiden ersten Romanteile mit dem dritten. Der Leser kann nun also Theos Perspektive mit der Winters verbinden und so zu dem Schluss gelangen, dass es sich bei den ersten Romanteilen um den intimen Einblick in die kindlichen und nie erwachsen werdenden Fantasien eines Komapatienten handelt. Die überbordenden Bilder und Abenteuer, alle Elemente der Science-Fiction würden so rational als medizinische Nebenprodukte aufgeklärt. Eine Lösung, von der sich die Kritik häufig enttäuscht gezeigt hat. Ein Teil im Erwachsenenbewusstsein scheint sich kindlicher Fantasterei eben doch gern hinzugeben. Und da bleibt ja andererseits die kleine Verunsicherung durch den Umstand, dass der dritte Romanteil nur den Status „womöglich“ erhält. Zugegeben, dies ist ein im Vergleich zum Gesamtumfang des Erzählkonstruktes ein lediglich sehr kleines Indiz dafür, dass der Roman „womöglich“ insgesamt doch in einer ausbalancierten Schwebe bleiben soll, die man dem Bereich der Fantastik dann zuordnen könnte, aber der Ansatz ist eben doch vorhanden. Zudem lässt sich konstatieren, dass der sehr knapp gehaltene medizinische Aufklärungsteil des Romans im Gegensatz zur ausführlichen Fabulierlust der ersten beiden Teile steht. Die Frage wäre dann angesichts der dominanten Theo-Perspektive, ob hier das Erzählen von Wunderbarem als unbewusst eingesetztes Instrument gegen den Bewusstseinsverlust des Komapatienten gesetzt wird. Erzählt würde hier dann von einem kindlichen Bewusstsein im jahrzehntelangen Überlebenskampf gegen das Nichts, hier in Gestalt der „Männer mit den scharfen Augen“, dem es zuletzt nachgeben muss. Die den Komapatienten Theo umgebende Realität, wie sie Dr. Winter schildert, hätte dann den gleichen Plausibilitätsstatus wie die Bewusstseinszustände Theos, in denen im Grunde gegen jede Regel verstoßen werden kann. Damit aber wäre metafiktional die wunderbare Welt Theos in der Realität Dr. Winters, die den gleichen Regeln wie die außerliterarische gehorcht, erklärlich integriert. Das Wunderbare wäre möglich, allerdings nur in der Fantasie. Dass diese Fantasiewelt Theos vor ihm selbst seinen Zustand verschleiert, ist nun eine Art der Verdrängung, die weniger dem Ausweichen vor einer kindlichen Angst, sondern schlicht seinem eingeschränkten Bewusstseinszustand geschuldet ist. Nein, „Das grüne Rollo“ ist kein unheimlicher Text, und nur bedingt ein fantastischer oder gar wunderbarer – doch wie erklärt sich der Vergleich zu E.T.A. Hoffmann?

Erinnerungen an E.T.A. Hoffmann

Die ersten oberflächlichen Berührungen zu Hoffmanns Erzählwerk ergeben sich auf der Motivebene: Immer wieder werden die Rollen von Beobachter und Beobachtetem zum zentralen Thema im Roman. Sei es durch die merkwürdige Ausstattung der Fernglasmänner, das Rollo selbst als ein normalerweise Einblicke verhinderndes, hier aber erst eröffnendes Objekt oder auch durch den wissenschaftlich mit Instrumenten überwachenden Arzt, der Bewusstseinsprozesse sichtbar machen will. Gleichzeitig finden sich auch bei Hoffmann bisweilen Angebote, die wunderbar anmutende Wahrnehmung von Figuren durch den Wahnsinn zu erklären, in dem sie befangen sind. Aber so ungebrochen (man mag im Vergleich sogar sagen: so plump) wie Steinfest seinen Lesern ein medizinisches Erklärungsangebot macht, ist das Verfahren Hoffmanns niemals. Er hält im Gegenteil meist eine vielschichtige und verflochtene Palette von Deutungsmöglichkeiten bereit, die eine Leserentscheidung meist unmöglich und seine Erzählungen mithin fantastisch macht. Hoffmanns wie Steinfests Schreiben mag ein Plädoyer für das Erzählen als Mittel der Darstellung innerer (auch unbewusster) Bewusstseinszustände sein. Hoffmann aber möchte gerade das Unbehagen über unvertraute Gefährdungen der menschlichen Seele abbilden und auslösen, Steinfest, das scheint wirklich manifest, möchte „trösten“.

Anmerkungen:

[1] Siehe z. B. in Ein dickes Fell (S. 34) die Aussagen des Archivars Kurt Smolek: „Germanistinnen lieben nicht. Schon gar nicht die Literatur. Wußten Sie das nicht? Wenn eine Frau sich für dieses Fach entscheidet, entspringt das ihrer Verachtung gegen das Wort und die Sprache. […] wenn Männer Germanistik studieren, steckt dahinter eine Leidenschaft, eine dumme und lächerliche, mag sein, aber eine Leidenschaft. Bei Frauen ist es immer die Verachtung.“

[2] Vgl. Interview mit Alfred Ohswald, 2004.

[3] Der Autor erklärt selbst, dass sich seine Plots nicht von vornherein planen ließen, sondern sich ebenso wie seine Figuren eigenständig entwickelten, ohne dass er dies immer beeinflussen könne (vgl. Interview mit Ohswald).

[4] Cheng – rabenschwarzer Roman um einen Wiener Chinesen (1999); Ein sturer Hund (2003); Ein dickes Fell (2006); Batmans Schönheit: Chengs letzter Fall (2010)

[5] Die feine Nase der Lili Steinbeck (2007); Die Haischwimmerin (2011)

[6] Steinfest, Heinrich; Ferchl, Irene: Auf Umwegen zum Ziel, S. 8.

[7] Steinfest: Batmans Schönheit. S. 102.

[8] Siehe Walter Benjamin: Berliner Kindheit um Neunzehnhundert, S. 284. Dort heißt es: „Verboten nämlich waren mir die Schriften, von denen ich mir reichlich Ersatz für die verlorene Märchenwelt versprach. Zwar blieben mir die Titel – ‚Die Fermate‘, ‚Das Majorat‘, ‚Heimatochare‘ – dunkel. Jedoch für alle, die ich nicht verstand, hatte der Name ‚Gespenster-Hoffmann‘ und die strenge Weisung, ihn niemals aufzuschlagen, mir zu bürgen.“

[9] Tzvetan Todorov: Einführung in die phantastische Literatur, S. 40.

[10] Die Welt, 29.07.2006.

Literaturhinweise:

Primärtexte

Steinfest, Heinrich: Brunswiks Lösung: von Engeln, Nachtwächtern und anderen Sterblichen. Köln 1995.

Ders.: Cheng – rabenschwarzer Roman um einen Wiener Chinesen. München 1999.

Ders.: Ein sturer Hund. München 2003.

Ders.: Ein dickes Fell. München 2006.

Ders.: Die feine Nase der Lili Steinbeck. München 2007.

Ders.: Batmans Schönheit: Chengs letzter Fall. München 2010.

Ders.: Die Haischwimmerin. München 2011.

Ders.: Das grüne Rollo. München 2015.

Sekundärtexte

Benjamin, Walter: Berliner Kindheit um Neunzehnhundert. In: Gesammelte Schriften. Hrsg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt a. Main 1972ff. Darin: Bd. IV2: Kleine Prosa. Baudelaire-Übertragungen. Hrsg. von Tillmann Rexroth. Frankfurt a. Main 1991.

Burke; Edmund: Vom Erhabenen und Schönen. Übersetzt von Friedrich Bassenge. Neu eingeleitet und herausgegeben von Werner Strube. Hamburg 1989 (= Philosophische Bibliothek 324).

Freud, Sigmund: Das Unheimliche [1919]. In: Ders.: Gesammelte Werke. Bd. XII. Hrsg. von Anna Freud u.a. Frankfurt a. Main 1972. S. 227-268.

Kluy, Alexander: Serienkiller-Komödiant. Ein Besuch beim Autor, Krimipreisträger und Auslandswiener. In: Die Welt am 29.07.2006. Seitenabruf: 27.02.2016 <http://www.welt.de/print-welt/article232220/Serienkiller-Komoediant.html>

Ohswald, Alfred: Interview mit Heinrich Steinfest vom 15.04.2004. Seitenabruf: 27.02.2016 <http://www.buchkritik.at/autoren/steinfest.htm>

Steinfest, Heinrich; Ferchl, Irene: Auf Umwegen zum Ziel. Ein Gespräch mit Heinrich Steinfest über das Eigenleben der Figuren, des Sprachduktus und Gedankenaufzeichnungen. In: Literaturblatt für Baden-Württemberg 21 (2014). H. 4. S. 6-9.

Todorov, Tzvetan: Einführung in die fantastische Literatur. Aus dem Französischen übersetzt von Karin Kersten, Senta Metz und Caroline Neubaur. München 1972.