Bis das Blut gefriert

Laird Barron liefert in „Hallucigenia“ Horror-Literatur fernab aller Genre-Klischees

Von Sascha SeilerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sascha Seiler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Horrorliteratur – was ist das eigentlich? Eine Genreliteratur, die anders als Krimi oder Fantasy ein Nischendasein fristet? Und von der lediglich Stephen King in den letzten 40 Jahren den Weg in den Mainstream geschafft hat? Eine Literatur, deren Eckpfeiler die großen Namen Edgar Allan Poe und H.P. Lovecraft tragen, zwei Autoren, an denen sich jeder dem Genre zugehörige Autor messen lassen muss. Oder ist die Frage nach Genres letztlich irrelevant? Ist ein literarisches Meisterwerk jüngeren Datums wie Mark Z. Danielewskis House Of Leaves nicht auch ein Horror-Roman? Oder Marisha Peshls tiefschwarzer Roman Night Film? Ja – und nein. Werke wie die Genannten spielen mit dem Genre, sie verwenden aus ihm stammende Versatzstücke, aber niemals würde man sie als der Horrorliteratur zugehörig zählen. Anders Laird Barron, ein amerikanischer Autor, der in seiner Heimat in den letzten Jahren in genau jenem Horror-Genre anscheinend für Furore gesorgt hat, und von dem nun zunächst drei Novellen und eine Erzählung in deutscher Übersetzung erscheinen – wohlgemerkt in einem kleinen Genre-Verlag. 

Man sollte sich von der Präsentation des Bandes zunächst einmal nicht abschrecken lassen: Zwar hat er einen schön gestalteten Einband, doch das anonyme Vorwort des deutschen Verlags kämpft an einigen Stellen schon ziemlich mit den Tücken der deutschen Sprache. Auch die Übersetzung ist teilweise schlampig und an einigen Stellen offensichtlich schlichtweg falsch, wie Leserkommentare von Barron-Fans auf Websites einschlägiger Online-Versandhäuser nahelegen. Warum man das Buch trotz dieser anfänglichen Hindernisse trotzdem lesen sollte? Weil es meisterhafte Geschichten sind, die zum Schrecklichsten, Angsteinflößendsten gehören, was ein Großteil der Leser jemals zu Gesicht bekommen haben wird. Und dies liegt nicht an (kaum vorhandenen) Beschreibungen roher Gewalt oder einem übertriebenen Einsatz von effektheischenden erzählerischen Volten, sondern einfach daran, dass Barron dazu in der Lage ist, auf eine unheimliche, mysteriöse Art Geschichten zu erzählen. Die Charaktere sind erstaunlich dreidimensional und unterwerfen sich, anders als in der Genre-Literatur allgemein üblich, niemals vorgezeichneten Handlungsschemata. Die Plots sind nicht nur originell, sie sind auch so detailverliebt erzählt, dass den Leser das Buch nicht mehr loslässt, auch wenn er sich gerade nicht gruselt. Das Ergebnis ist, und das sollte durchaus auch als Warnung verstanden werden, dass diese Geschichten schlichtweg Angst machen. Und es ist eine Angst, die durch die Möglichkeit erzeugt wird, in das Erzählte einzutauchen und sich mit ihm zu identifizieren. 

Famos verbindet Barron hierbei das beliebte Konzept der American Gothic mit dem Heraufbeschwören urbaner Legenden und einem Hang zum Abartigen, der Zurschaustellung menschlicher Abgründe. Doch ist sein Horror, und hieran erkennt man die Zugehörigkeit der Geschichten zur Genreliteratur, kein psychologischer, sondern ein realer, übernatürlicher. Inspiriert wurde Barron hauptsächlich von H.P. Lovecraft, dessen Necronomicon bei Barron eine mythologische Entsprechung hat, den ominösen ‚Schwarzen Reiseführer’. Dieser taucht auch in einer der hier gesammelten Geschichten prominent auf.

Worum geht es? In der ersten, der Sammlung ihren Titel gebenden Geschichte (die gleichzeitig die schwächste der vier ist) macht ein Ehepaar während einer Autopanne in einem verlassenen Farmhaus eine schreckliche Entdeckung. In Die Prozession des schwarzen Faultiers wird ein hochrangiger Firmenmitarbeiter von der amerikanischen Zentrale nach Hongkong delegiert, um dort die hiesige Belegschaft auszuspionieren; dabei gerät er in die Fänge einer seltsamen Glaubensgemeinschaft. In Mysterium Tremendum, der handwerklich Besten der Novellen, gehen zwei homosexuelle Paare auf einen Camping-Trip und lassen sich vom Schwarzen Reiseführer leiten. Der Leser verliert indes, wie bereits in den Geschichten zuvor, im Laufe der Erzählung den Überblick, wo die ihm vertraute Realität endet und der übersinnliche Horror beginnt. Der Höhepunkt dieses Bandes ist jedoch die letzte, im Gegensatz zu den anderen sehr kurze Geschichte Strappado, die von einer mysteriösen Kunstinstallation berichtet. Gerade sie wird viele Leser noch Wochen verfolgen.

Es wäre zu wünschen, dass dieses Buch sehr viele solcher Leser findet, und dass sich dadurch für den Golkonda-Verlag die Möglichkeit ergibt, weitere Texte Laird Barrons auf Deutsch zu publizieren. Vielleicht könnte dann auch etwas mehr Mühe und Geld in die Übersetzung investiert werden, die zwar längst nicht so schlecht ist, wie einige Leser behaupten, offensichtlich aber unter erheblichem Zeitdruck entstanden sein muss.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

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Laird Barron: Hallucigenia.
Übersetzt aus dem Englischen von Jakob Schmidt.
Golkonda, Berlin 2015.
274 Seiten, 16,00 EUR.
ISBN-13: 9783944720838

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