Von der unhintergehbaren List kapitalistischer Lebensformen

Michael Hardt und Antonio Negris „Common Wealth“ plädiert für die Möglichkeit politischer Autonomie in modernen Produktionszusammenhängen

Von Murat GüzelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Murat Güzel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Moderne Menschen unterscheiden sich, durch ihre Lebensformen und ihre sozialen Beziehungen. In ihrer Neugier und Abenteuerlust erfahren sie sich selbst, im Ausprobieren moderner Verwirklichungsmöglichkeiten nähern sie sich dem Ideal eines homo ludens. All dies geschieht nach wie vor im oftmals totgesagten kapitalistischen Produktionsprozess. Mit dem Ende des Kalten Krieges und dem verheißungsvoll propagierten „Tod aller Ideologien“ gab es auch gute Gründe, von uniformistischen Bewegungen aller Art Abstand zu nehmen. Sie schienen nicht nur überwunden zu sein, auch eine neue Ära sollte sich vor dem Horizont individueller Autonomie, Authentizität und Idiosynkrasie anbahnen. Um nicht „gleich“ gemacht zu werden, galt es, „anders“ zu sein. Zusehends fanden postmoderne kapitalistische Existenzweisen unisono Ausdruck in dieser allgemeinen Maxime: Die Dialektik sozialer Distinktionsbemühungen sollte dafür sorgen, dass die Moderne ihren (totgeglaubten) Konformismus nun in ihrem Nonkonformismus wiedererkennt.

Dass dabei der Kreislauf von Produktion und Reproduktion und die Dynamik der ökonomischen und technischen Globalisierung im letzten Jahrhundert eine Hauptrolle spielten, zeigen nicht nur die massiv veränderten Voraussetzungen und Bedingungen der wirtschaftlichen Produktion, sondern auch eben jene Lebensformen innerhalb des kapitalistischen Produktionsprozesses. Für mehr Konformismus plädieren Michael Hardt und Antonio Negri in ihrem Buch Common Wealth zwar nicht, dass aber in dieser Reproduktions- und Kooperationsstruktur die gesellschaftlichen Subjekte – entgegen sozialer Distinktionstendenzen – beständig eine „gemeinsame“ (common) Welt schaffen, an politischen Aushandlungsprozessen indes systematisch behindert werden, das ist ihnen gewiss. Ihr „Common Wealth“ ist daher strukturell erzeugten Nonkonformismen entgegengesetzt, indem es die Formation einer politisch wirkmächtigen Organisationsform (Multitüde) vorsieht, die aus unterschiedlichen Singularitäten (Individuen) zusammengesetzt sein soll, gleichwohl sich der Schwierigkeit eines globalpolitischen Unterfangens bewusst ist.

Wie schon die vorangegangenen Publikationen von Hardt und Negri, steht auch Common Wealth im Zeichen des poststrukturalistischen Machtdiskurses. Während sie anfangs mit Empire (2000) noch den überindividuellen Charakter entpersonalisierter Machtstrukturen (und infolgedessen den Leerlauf hegemonialer Bestrebungen) herausstellten, lieferten sie daraufhin mit Multitude (2004) eine profundere Untersuchung zum politischen Potenzial von wirkmächtigen Organisationsformen nach, deren Handlungsgrundlage sie in einer geteilten Gemeinsamkeit sahen. Vor diesem Hintergrund scheint nun die jüngste Publikation eine präzisere Antwort bezüglich der Frage geben zu wollen, was die gemeinsame Handlungsgrundlage der Multitüde innerhalb postmoderner kapitalistischer Existenzweisen sein kann.

„Common“ sind daher nicht nur bereits existierende Dinge, wie etwa natürliche Ressourcen, sondern das, was durch die Sozialität der einzelnen Akteure generiert wird (z.B. Sprache, Ideen, Wissen etc.). Auf sozialer Interaktion beruhend, kann das „common“ weder in private noch in öffentliche Kategorien unterteilt werden – es ist Gemeinbesitz, nicht Eigentum. Doch welche Effekte haben diese Diagnosen im Hinblick auf die kapitalistische Organisation des Produktionsprozesses? Offensichtlich scheint für Hardt und Negri, dass die Erfolge des Kapitalismus nicht ihm selbst zuzuschreiben sind, sondern den sozialen Verhältnissen zwischen produktiven und kreativen Menschen, auf die das Kapital angewiesen ist, um sich zu erhalten. Der kapitalistische Organisationsprozess, so die alles übertrumpfende These, produziere in diesem Sinne immer schon das „Richtige“, verdecke es aber durch die bloße Faktizität des Eigentums. Vor diesem Hintergrund ist auch die Einteilung der sechs Kapitel des Buches zu verstehen: Die ersten drei (Republic, Modernity, Capital) behandeln strukturelle Ambivalenzen kapitalistischer Gesellschaften, die zum einen die Ausbildung eines „common“ behindern, in denen aber zum anderen Möglichkeiten und Ansätze für revolutionäre Potenziale erkannt werden können. In den letzten drei Kapiteln nehmen Hardt und Negri daher eine politisch-ökonomische Analyse des „common“ vor, um neue Handlungsräume für die Politik der Multitüde zu erschließen, die schließlich lernen müsse, sich selbst zu regieren.

Wie ist jedoch dieses revolutionäre Potenzial fruchtbar zu machen? So lautet zumindest die Frage, auf die das Buch von Hardt und Negri hin betrachtet werden muss. Denn klar ist, wenn der Kapitalismus ein Inklusionsmechanismus ist, der immer schon das „Richtige“ produziert und kein „Außen“ zulässt, dann kann es streng genommen kein kritisches Potenzial geben, das als „kommunikative Macht“ (so Habermas 1992) im politischen Aushandlungsprozess genutzt werden kann und sich nicht in der kapitalistischen Totalität erschöpft. Die Autoren müssen dieses Problem ganz offensichtlich umwenden und das revolutionäre Potenzial im Kapitalismus suchen. Aufgrund dieser Konstellation erscheint ihr (vermeintlich alternativloser) Vorschlag, die Armut nicht als Mangel und Knappheit von Gütern, sondern in erster Linie als Kreativitäts- und Innovationspotenzial zu verstehen, sowohl intuitiv sonderbar als auch – angesichts der realen Armutsbedingungen in weiten Teilen der Erde – äußerst provokativ: „The poor, in other words, refers not to those who have nothing but to the wide multiplicity of all those who are inserted in the mechanisms of social production regardless of social order or property.“ Die unpersönliche, aber herrschaftliche Machtstruktur manifestiert sich dagegen in erster Linie in Eigentumsansprüchen, die auf die verborgenen Strukturverhältnisse zwischen politischer Souveränität, globalem Kapital und dem Rechtssystem hinweisen. Historische Beispiele der fortgeschrittenen Kapitalismen des Westens verdeutlichen für Hardt und Negri dieses komplexe Geflecht, um ihren Vorstoß letztlich in die These münden zu lassen, dass Privateigentum und Kapital nicht nur eine Hegemonie über die materielle Produktion haben, sondern auch über die immaterielle.

Die Produktion des modernen Subjekts, die die Biopolitik des Kapitalismus kennzeichnet, trifft die produzierenden Körper, ähnlich wie nationale, religiöse, rassistische und gegenrassistische Fundamentalismen, „von oben“, da sie sie entweder negativ deuten und infolgedessen mit bestimmten religiösen oder nationalen Züchtigungsmaßnahmen verbinden oder sie positiv besetzen und mit einer metaphysischen Verabsolutierung des Körpers versehen. In beiden Fällen wird aber das Materielle, die Körperlichkeit des Seins, überlaufen. Den konzeptionellen Übergang von „Menschen“ zu „produzierenden Körpern“ erklären Hardt und Negri deshalb durch die Konstruktion des Seins, die nicht durch transzendente Werte erklärt werden kann, sondern allein durch den produktiven Körper (oder den Leib), der als eine Ganzheit den Umfang aller menschlichen Handlungsmöglichkeiten bildet.

Ebenso selbstverständlich wie die bei ihren Handlungen aus ihrer Körperlichkeit schöpfenden Individuen ist, dass jeder Widerstand gegenmoderner Bewegungen nur als eine freie Handlung eines politischen Körpers verstanden werden muss. Denn klar ist, dass Handlungen und Handlungsverhältnisse nicht notwendigerweise so sind, wie sie sind. Fernab von sozialen Gesetzmäßigkeiten ist jede Handlung zunächst eine freie, da sie sich auf den Umfang aller Handlungsmöglichkeiten des Körpers bezieht, aber in der konkreten Situation genauso gut auch hätte unterlassen werden können. Gerade aber durch kollektiven Aktionismus und direkten Widerstand können Machtverhältnisse etabliert werden. Denn, wenn Handlungen frei sind, können sie auf einen „Willen“ (eines Einzelnen oder der Menge) zurückgeführt werden. Gerade dadurch ergibt sich aber auch die Chance, eine bestimmte Machtstruktur zu reproduzieren, indem dieser Wille, weil er eben nicht vollständig determiniert ist, von anderen gebeugt und unterworfen werden kann. Ausweg und Abhilfe aus dieser „Sackgasse“ bietet einmal mehr der vom Kapitalismus unabdingbar produzierte menschliche Körper, der gegen ihn gewandt werden kann.

Die offensichtliche „Provokation“ in der Analyse Hardts und Negris liegt aber gerade in der Pointe, die strukturell erzeugten Armuts- und Katastrophenbeispiele des Kapitalismus als Ausgangspunkt zu nehmen, gleichzeitig aber am Beispiel des Versagens bisheriger antikapitalistischer und gegenmoderner Bewegungen und Aktionismen eine Erklärung zu bieten, weshalb ein Wandel nur mit, und nicht gegen den Kapitalismus erfolgen kann. Denn der alles inkludierende Kapitalismus gibt keine Gelegenheit, ihn in direkter Konfrontation zu überwinden. Jeder Versuch, sich der „kapitalistischen Ausbeutung“ und einem „totalen Verblendungszusammenhang“ zu entziehen, verliert in der allumfassenden Totalität des Kapitalismus sein Dasein. Als Gegenkräfte sind sie daher nicht Lösung, sondern Teil des Problems: „To understand modernity, we have to stop assuming that domination and resistance are external to each other, casting antimodernity to the outside, and recognize that resistances marks differences that are within.“

Moderne und postmoderne Phänomene wie Sklaverei, Rassismus, Klassenkämpfe etc. und ihre entzaubernden Gegenspieler sind daher keine voneinander unabhängigen Entitäten, sie sind vielmehr Erscheinungen, die – jeweils unter kapitalistischer Kontrolle stehend – in einem Kontext von Zwang, Gewalt und bestehenden, hierarchisch organisierten Wissensformen vermittelt und zusammengehalten werden. Ausgehend von diesen Prämissen erscheint die Frage nach einem „kritischen Außen“ bei Hardt und Negri abermals funktionslos. Die biopolitische Macht, das Leben zu organisieren, erscheint derart totalitär, dass externe Formen des Widerstands darin keinen Ort haben können, also im Wortsinne utopisch werden.

Trotzdem muss jedoch der politische Körper der Multitüde immer unbestimmt, offen und in ständiger Bewegung und Veränderung bleiben. Denn wie sonst ließen sich geographisch, historisch-kulturell und habituell dezentrierte Lebensweisen (intersectionality) in einer globalen Multitüde zusammenbringen? Jeder Versuch, sie in eine Identitätspolitik (Klassenkampf der Arbeiterbewegung, religiöse, nationalistische, feministische Formationen etc.) zu überführen, würde letztlich bestehende hierarchische Verhältnisse reproduzieren. Deshalb hat die Multitüde nicht nur diese Hierarchien zu überwinden, gleichzeitig muss sie die Vielfalt ihres politischen Körpers nutzen, um schließlich selbst vielfältige Lebensformen und Existenzweisen zu schaffen. Schließlich wäre im Rahmen des kapitalistischen Produktionsprozesses denkbar, dass der technische Fortschritt in der Ökonomie in einer bestimmten Weise auf das Feld des politischen Handelns übergreift. Wenn sich daher die im Produktionsprozess erforderten Fähigkeiten wie Kooperation, Kommunikation, Arbeitsdisziplin etc. verändern und immer effizienter werden, so können es auch die politischen Potenziale der Singularitäten tun, indem sie die Ausbildung und Entstehung neuer politischer Organisationen forcieren. Zu keinem Zeitpunkt aber kann dagegen der Kapitalismus an der Blockierung subjektiv-produktiver Werte und somit an einer Trockenlegung der Sozialität der einzelnen Akteure interessiert sein, da er sie beständig abschöpfen muss.

Die überaus anspruchsvollen Analysen Hardts und Negris müssen sich dabei vor allem zwei Herausforderungen stellen: Erstens bleibt unbestimmt, inwiefern die Multitüde überhaupt politisch handlungsfähig und wirkmächtig sein kann, wenn sie aus unterschiedlichen Singularitäten zusammengesetzt sein muss. Zweifelsohne kann sie auch lediglich als eine Form politischer Organisation verstanden werden, wobei dies keineswegs bedeuten muss, dass sie politisch etwas zu leisten vermag. Darüber hinaus ist zweitens der Status der „revolutionären“ Singularitäten fraglich, weil sie sich nicht selber aus dem kapitalistischen Produktionsprozess ergeben. Die Singularitäten mögen zwar im kapitalistischen Produktionsprozess eine bestimmte Arbeitsdisziplin und fachliche Fähigkeiten entwickeln, aber dass die kapitalistische Fabrik (ähnlich wie die immer stärker Immobilienwerte produzierende Metropole) nicht der Ort für ein innovatives Revolutionspotenzial ist, welches fruchtbar gemacht werden kann, wird allein durch die darin bereits vorgegebene Kooperationsstruktur deutlich. Weshalb Hardt und Negri einerseits das revolutionäre Potenzial in den exkludierten Massen sehen wollen, die sich qua ihres sozialen Status an keine „Normen“ halten müssen, andererseits aber für die Formation der Multitüde auf die „Errungenschaften“ des kapitalistischen Produktionsprozesses in Gestalt der inkludierten Subjekte setzen, bleibt rätselhaft. Die unausweichliche Diagnose, dass der alles inkludierende (und z. T. gleichzeitig exkludierende) Kapitalismus notwendigerweise in der Armut „Chancen“ produziert und dies schließlich der politischen Bewegung der Multitüde zugute kommen kann, liest sich mehr wie eine „umgekehrte“ Verelendungstheorie, als eine politstrategische Analyse zur Bündelung revolutionärer Kräfte und der Eröffnung neuer Handlungsspielräume für die Multitüde. Obwohl Hardt und Negri die im kapitalistischen Produktionsprozess strukturell generierte Armut ausdrücklich als innovatives, kreatives und flexibles Handlungspotenzial verstehen wollen, erscheint zudem ihr Vorstoß fraglich, schlechterdings die Empörung (indignation) über die eigene Armut als ein Machtreservoir zu bestimmen, das selbst ein revolutionäres Handeln anleiten kann. Überdies erkennen sie zwar richtigerweise den normativen und handlungsanleitenden Charakter der „Chance“, schlussfolgern aber in eine entgegengesetzte Richtung. Denn wer seine soziale Desintegration als ein (unberechenbares) Handlungspotenzial versteht, wird sich weniger empören oder eine bestimmte Form des Widerstands aufnehmen, sondern sie vielmehr als probates Mittel einsetzen, über die er qua Exkludiertsein ohnehin schon „verfügt“, um das Fehlen eines integrierenden Sozialstaats „auf eigene Faust“ zu kompensieren.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Michael Hardt / Antonio Negri: Common Wealth. Das Ende des Eigentums.
Campus Verlag, Frankfurt a. M. 2010.
437 Seiten, 34,90 EUR.
ISBN-13: 9783593391694

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