Das problematische Ich und die Weite der Welt

Dieter Goltzsches Arbeiten auf Papier in einem repräsentativen Text-Bild-Band

Von Klaus HammerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Klaus Hammer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Er ist einer der bedeutendsten deutschen Zeichner der Gegenwart – und innerlich stets unabhängig geblieben. Dieter Goltzsche, der gebürtige Dresdner, seit 1960 freischaffend in Berlin tätig, studierte an der Dresdner Hochschule der Bildenden Kunst bei Hans Theo Richter und Max Schwimmer, zwei Meistern, wie sie stilistisch unterschiedlicher nicht sein könnten: der eine stellte in maßvoller Verhaltenheit allgemeinmenschliche Verhältnisse und handlungsarme Alltagssituationen dar, während sich der andere durch unbegrenzte Bildphantasie, die Leichtigkeit des Strichs und das elegante Spiel der Linien auszeichnete. Von 1958 bis 1959 war Goltzsche Meisterschüler an der Akademie der Künste bei Max Schwimmer, von 1980 bis 1992 Dozent für Malerei und Graphik an der Kunsthochschule Berlin-Weißensee, wo er von 1992 bis 2000 auch als Professor lehrte. Er wurde 1992 Mitglied der Akademie der Künste, und von den vielen Auszeichnungen, die er erhalten hat, sind 1998 der Hannah-Höch-Preis der Stadt Berlin und 2010 der Hans-Theo-Richter-Preis der Sächsischen Akademie der Künste hervorzuheben.

Für den Zeichner, Grafiker und Maler Dieter Goltzsche wurde seine Umwelt zum Fokus, zur Welt im kleinen Maßstab. Sie lieferte ihm Anlass und Hintergrund, um heutige (Großstadt-)Erfahrungen in der ganzen Spanne zwischen Unrast und Einsamkeit, zwischen visionärem Träumen und banaler Alltäglichkeit tagebuchartig einzufangen. Seine Formwelt entfaltet sich aus den ausbalancierten Bezügen farbiger Texturen, aus dem Wechselspiel von Anpassung und Kontrast, aus assoziativen Zuordnungen. Der Improvisation, der Freiheit des Spiels folgt die zunehmende Begrenzung durch Definition, durch Form- und Farbentscheidung. Das Flüssige gerinnt zum Festen, das Diffuse zum Geformten, und dieses wiederum tendiert zur Auflösung. Was auch immer an Emotionen in seinen Arbeiten vorscheint, ist nicht expressiv, sondern zutiefst subjektive Darstellung. „Das Elend der Welt scheint es zu verbieten, aber ich meine, wir können heute erst einmal nur noch eine private Bilderwelt kreieren“, sagte Goltzsche 1998 anlässlich der Verleihung des Hannah-Höch-Preises.

Gegenwärtig findet in der Städtischen Galerie Dresden eine von Sigrid Walther kuratierte Retrospektiv-Ausstellung mit etwa 100 Zeichnungen und farbigen Blättern des Künstlers aus den Jahren von 1956 bis heute statt (bis 22. Mai 2016). Goltzsche hatte der Galerie seiner Heimatstadt im vergangenen Jahr eine stattliche Schenkung grafischer Blätter übergeben. Damit ist nun – so Gisbert Porstmann, der Direktor der Städtischen Galerie Dresden – sein Schaffen auf den Gebieten der Radierung, Lithografie und des Siebdrucks repräsentativ vertreten. Der Katalog mit dem Titel „Blauer Pfirsich – Arbeiten auf Papier“ bildet die ausgestellten Arbeiten in großzügiger Weise – meist ganzseitig – ab, vermittelt aber auch in kurzen Beiträgen wesentliche Aufschlüsse über das Werk des Künstlers. Porstmann gibt zur Überlegung, „wie viel Dresdner Lokalkolorit und barocke Sinnlichkeit sich im Werk Goltzsches mit preußischer Rationalität und Nüchternheit sowie künstlerischen Grundüberzeugungen mischen“. Goltzsche, der die großen Künstler der Dresdner Nachkriegszeit noch erlebte, habe „etwas von dieser besten Dresdner Tradition nach Berlin getragen“.

Mit einem Goltzsche-Zitat „Das Sublime ist vielleicht der Sinn“ hat Eugen Blume, Leiter des Museums Hamburger Bahnhof – Museum für Gegenwart, Berlin, sein Statement überschrieben. Er zeigt, wie sich der Zeichner Goltzsche entdeckte, welche Einflüsse und Vorbilder er aufnahm und selbständig verarbeitete, welche Themen und Sujets er behandelt, in welchen Genres und Medien er zuhause ist, wie er die Lebenswirklichkeit immer unverstellt gesehen und dabei stets die Entscheidung gesucht hat.

Mit der Farbe bei dem virtuosen Zeichner Goltzsche beschäftigt sich Katrin Arrieta, künstlerische Leiterin des Kunstmuseums Ahrenshoop. Das Arbeiten mit Farbe bot dem Künstler die „Möglichkeit zur Reibung und zur Problematisierung“. Während er als Zeichner eher „zur Formulierung, ja ins Fabulieren kommt“, eröffnet die Farbe ihm „ein notwendiges und ersehntes Feld reiner Spekulation“. Aber der Gegenstand der Spekulation, den er mit der Farbe verbindet, ist nicht so sehr „Form als reduzierte und vom Licht bestimmte Körperlichkeit“, sondern „das von körperlicher Determination befreite Lichtereignis“. Goltzsche gehe mit Farben wie ein Komponist mit Tönen um. Im ständigen Rückbezug auf das Schwarz-Weiß der Zeichnung gewinnt die Farbe bei ihm etwas „Elementares, gleichsam am Beginn der Schöpfung Angesiedeltes“.

Michael Lüthy, Professor für Geschichte und Theorie der Kunst an der Bauhaus-Universität Weimar, setzt sich dagegen mit Goltzsches Linie auseinander. Die Maßverhältnisse, die der Künstler mit seinen Blättern realisiert, stehen „vermittelnd zwischen der zweidimensionalen Flächenordnung und der dreidimensionalen Ordnung des Motivs“. Da das Liniengefüge aber beiden Ordnungen angehört, springen Flächen- und Raumordnung beständig ineinander über. Das Umspringen von Fläche zu Raum und von Lineament zu Motiv kann sich deshalb nie zu einer Figuration verfestigen, die sich von der Zeichnung lösen und für sich stehen könnte. Lüthy sieht die herausragende Qualität von Goltzsches Zeichnungen darin, das „reine Sehen“ des Gegenstandes und die zeichnerische Form so perfekt auszubalancieren, dass weder der eine noch der andere Aspekt den Vorrang gewinnt.

Beim Blättern im Bildteil des Bandes kann man immer wieder bewundernd feststellen, wie der Künstler in seine Sujets eingreift, in spielerischer Freiheit, in der Lust am poetischen Fabulieren, damit die Bildsituation, die immer auch die seine ist, offen wird, offen bleibt. Das Fragmentarische, das non finito ist seinen Arbeiten eigen. Mit dem sichtbar leicht, nie massiv materiell oder auffallend ekstatisch gesetzten Pinselstrich bricht er die Farbflächen auf und nimmt ihnen alles Dekorative. Neben einem kontrastfördernden Schwarz springt die „warme“ Farbe Rot den Betrachter förmlich an, während die „kalte“ Farbe Blau vor ihm zurückweicht. Die suggestive Wirkung von gegeneinander gesetzten Primärfarben erprobt Goltzsche in ganzen Blättern, wobei er sich auf höchst unterschiedliche Motive konzentriert. Der Vielansichtigkeit der Welt, die das jeweils eine, stets unvollkommene oder falsche Weltbild abgelöst hat, entspricht im Künstlerischen die Vielfalt des offenen Experiments.

Schon seit geraumer Zeit hat Goltzsche über die Reduktion der Farbe zu einer neuen experimentellen Offenheit gefunden: Die gegenständliche Welt bannt er in Chiffren und Hinweisen, die den deutungswilligen Betrachter in wahre Labyrinthe führen. Die Betonung liegt ebenso sehr auf der Beschreibung des problematischen Ich als auch auf einer Hommage an die Weite, die geistige Transparenz wie Konzentration der uns umgebenden Welt. Mitunter lassen sich ortlose Szenerien, Figuren, Köpfe, Gesichte und andere zeichenhafte Elemente in entzifferbaren, manchmal im Bildtitel aufgelösten Konstellationen ausmachen. Einen „Text“, eine „Erzählung“ gibt es allerdings nicht. Immer bleiben Bildreste, instabile, schwebende Strukturen, Linien, die sich umschlingen und sich dann im Ungewissen verlieren. Das semantische Feld von Warnzeichen wird zunehmend durch zurückgebliebene Spuren menschlicher Präsenz ersetzt. Sind dies Reste von Eigensinn, Zeugen emotionalen Protestes, Hoffnungspartikel oder Motivfragmente einer verklingenden Menschlichkeit?

Im Raum der zeichenhaften Abstraktion vertritt Goltzsche eine lyrisch-musikalische Komponente. Wie ein musikalischer Satz oder eine lyrische Struktur ist das Ereignis nicht zu bestimmen, sondern allein anschauend zu empfinden. Seine Arbeiten sind wie konzertante Sätze oder Metaphern einer lyrischen Empfindung, eines visuellen Erlebnisses der Welt. Die Erinnerung an das Gegenständliche wird geweckt und zugleich wieder gelöscht. Allein in der Empfindung klingt das Erlebnis nach.

Abgeschlossen wird der repräsentative Band durch die Auflistung und Abbildung der fast zweihundert grafischen Blätter, die Goltzsche der Städtischen Galerie Dresden 2015 übereignete, sowie die Bio- und Bibliographie des Künstlers.

Titelbild

Sigrid Walther / Gisbert Porstmann (Hg.): Dieter Goltzsche. Blauer Pfirsich – Arbeiten auf Papier.
Sandstein Verlag, Dresden 2016.
216 Seiten, 28,00 EUR.
ISBN-13: 9783954982004

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