Melodramatik vor Ruinenlandschaft

Die Katastrophe von Fukushima in den Spielfilmen von Doris Dörrie, Nao Kubota und Shion Sono

Von Tobias LindemannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Tobias Lindemann

Die Dreifach-Katastrophe, die sich in der Präfektur Fukushima im März 2011 ereignete, fand für uns Menschen in Europa auf der anderen Seite der Erde statt – und kam uns doch sehr nahe. Einer der wichtigsten Gründe für die starken Reaktionen hierzulande dürften die Fernsehbilder gewesen sein, die uns von den Unglücksorten ohne nennenswerte zeitliche Verzögerung in unseren Wohnzimmern erreichten. Wir sahen Flutwellen, die Autos und Häuser davonspülten, sowie verwüstete und von einem Moment auf den anderen verlassene Orte. Wir erkannten auf einem aus einigen hundert Metern Entfernung aufgenommenen Video, wie das Dach eines Atommeilers durch eine Explosion weggerissen und eine Dampfwolke freigesetzt wurde. Vom Atomkraftwerk in Tschernobyl gab es solche Fernsehaufnahmen nicht, nur die Bilder danach, die einen zerstörten Reaktor in einer menschenleeren Landschaft zeigten. Aber die Folgen des Super-GAUs in Tschernobyl und der Diskurs über Kernenergie in der Bundesrepublik nach 1986 sorgten dafür, dass viele Deutsche die Fernsehbilder vom 11. März 2011 schnell einordneten: Was hier passierte, war schrecklich und folgenreich. Und wenn es im hoch technologisierten, für seine Disziplin und Akkuratesse bekannten Japan passieren kann, dann kann es auch bei uns passieren.

Die Mechanismen der modernen Medienlandschaft sowie die allzeit verfügbaren Aufzeichnungsgeräte für Videobilder – Kameras und vor allem Smartphones – haben die Dreifach-Katastrophe auch zu einer Katastrophe der Bilder gemacht. Bilder voller Schrecken und Wucht. Es konnte nur eine Frage der Zeit sein, bis sich das Kino dieser Ereignisse annehmen würde, diese Bilder zitieren, die Katastrophe interpretieren und die Folgen kommentieren würde.

Land kaputt, Touristin (wieder) happy: Doris Dörries „Grüße aus Fukushima“

Der jüngste in der noch überschaubaren Reihe von Spielfilmen zu Fukushima kommt aus Deutschland. Doris Dörrie drehte „Grüße aus Fukushima“ im Frühsommer 2015 mit einem kleinen Team an Originalschauplätzen in der Präfektur. Darin gibt es Sequenzen, in denen sich die Filmemacherin der Wucht der besagten Bilder nicht erwehren kann. Sie zeigt die verlassene, sich langsam wieder in Wildnis verwandelnde Landschaft, streift mit der Kamera Hunderte mit kontaminierter Erde gefüllte Plastiksäcke und blendet sogar dokumentarische Bilder von der Überflutung eines Dorfes ein. Geigerzähler sind omnipräsent, nur die AKW-Ruine zeigt sie nicht. Die kontrastreichen Schwarz-Weiß-Bilder des Films signalisieren Entbehrung, Verfall, existenzielle Bedrohung und Trauer.

Im Mittelpunkt der Handlung steht die deutsche Mittzwanzigerin Marie, gespielt von Rosalie Thomass, die vor ihrem in den Sand gesetzten Leben nach Japan flieht. Hier will sie mit einer ehrenamtlichen Gruppe von Clowns den Menschen in einer Notunterkunft etwas Zerstreuung bringen. Die aus ihren zerstörten, verstrahlten Orten evakuierten Japanerinnen und Japaner, verkörpert von den tatsächlichen BewohnerInnen des Containerdorfes, können jedoch wenig mit den Bemühungen der jungen Deutschen anfangen. Marie lernt hier Satomi kennen, eine ältere Frau, die als einzige Englisch spricht – gespielt von Kaori Momoi, die bereits für Akira Kurosawa, Shohei Imamura, Takeshi Miike und andere japanische Regiegrößen vor der Kamera stand. Die ruppige Satomi will in das Sperrgebiet zurückkehren und ihr zerstörtes Haus wieder bewohnbar machen. Marie wird erst zur Komplizin bei ihrer Flucht, dann zur Helferin bei der Renovierung; schließlich entsteht eine Freundschaft zwischen den beiden so unterschiedlichen Frauen.

Diese Geschichte erzählt die deutsche Regisseurin mit einer Mischung aus Melancholie und  – trotz der Schwarz-Weiß-Bilder – Leichtigkeit. Einen Großteil seiner Komik bezieht „Grüße aus Fukushima“ aus den Kommunikationsproblemen zwischen Ausländerin und Einheimischen, ein seit „Lost In Translation“ von Sofia Coppola bekanntes Schema, das nicht unbedingt glaubwürdiger wird, wenn die Hauptprotagonistin nach mehreren Tagen nicht einmal arigato kennt. Aber immerhin ist so für comic relief gesorgt.

Wie schon in ihren anderen in Japan gedrehten Filmen „Erleuchtung garantiert“ (1999) und „Hanami – Kirschblüten“ (2008) zeigt uns Doris Dörrie Japan als Land der Therapie. Diesmal ist es Marie, die „Heilung“ oder „Erlösung“ von ihrer Vergangenheit sucht. Schnell erkennt sie die Naivität ihrer Unternehmung und schilt sich selbst als „dummes Mädchen, das hierherkommt, um anderen zu helfen und dabei seine Probleme zu vergessen“. Zu Hause hat sie ihren zukünftigen Mann kurz vor der Heirat mit dessen bestem Freund betrogen – die Hochzeit platzte, die glückliche Zukunft war zerstört. Doch was, scheint Dörrie in ihrem Film zu fragen, ist solch eine private Tragödie im Angesicht der Dreifach-Katastrophe? Diese hat Satomi heimgesucht, die nicht nur ihr Haus verlor und ihren Heimatort verlassen musste, sondern als letzte Geisha des Ortes auch den Tod ihrer Schülerin Yuki mit ansehen musste. Satomi hat massive Schuldgefühle, weil sie Yuki in die Tsunamifluten stieß – über Versehen oder Absicht sowie mögliche Motive schweigt der Film allerdings, überhaupt liegen die Stärken von „Grüße aus Fukushima“ eher bei Atmosphäre und schauspielerischer Interaktion als bei einer stringenten logischen Handlung. Yuki erscheint schließlich Marie und Satomi nachts als Geist, kann aber erfolgreich besänftigt werden, was für beide Frauen einen entscheidenden Moment der „Heilung“ bedeutet. Mit diesen Geister-Szenen pflegt Doris Dörrie die bereits aus den oben genannten Filmen bekannten mystisch-spirituellen Aspekte ihres Japan-Bildes. Für Marie führt der Aufenthalt in Japan schließlich doch zu einer Läuterung, die ihr so in Europa nicht möglich gewesen wäre, und nebenbei hat die junge Deutsche der alten Japanerin das Leben ‚repariert‘, so scheint der Film zumindest zu behaupten. Land immer noch kaputt, aber Touristin stolz und happy.

Angesichts der melodramatischen Geschichte von Satomi und Marie über Schuld, Vergebung und Weiterleben verschwindet die Dreifach-Katastrophe irgendwann aus dem Blick der Filmemacherin Dörrie. Der von Erdbeben, Flut und Strahlung zerstörte Ort wird zur apokalyptischen Kulisse für ein menschliches Drama reduziert. Diese Herangehensweise ist durchaus legitim, dennoch ist es irritierend, wie die fiktiven Geschichten über persönliche Schuld die zu Beginn des Films angedeuteten Fragen nach der politischen und wirtschaftlichen Verantwortung für die Reaktorkatastrophe verschwinden lassen. Dies scheint auch der Regisseurin aufgefallen zu sein, weshalb sie am Ende des Abspanns Bilder von japanischen Anti-Atom-Demonstrationen zeigt. Eine Geste des Engagements, die nicht vergessen machen kann, dass es Doris Dörrie über weite Strecken des Films um etwas ganz anderes ging.

Für das deutsche Kinopublikum und die hiesige Presse hat Doris Dörrie längst den Status der filmischen Mittlerin zwischen Deutschland und Japan inne, der man vieles abnimmt, ohne es zu hinterfragen. So widersprach auch das Feuilleton der Süddeutschen Zeitung nicht, als Dörrie in einem Artikel über die Dreharbeiten zu „Grüsse aus Fukushima“ im Mai 2015 behauptete, vor ihr habe noch niemand – auch kein japanischer Regisseur – in einem der Containerdörfer gedreht, in denen immer noch rund 120.000 Evakuierte aus der Sperrzone leben. Genaue BeobachterInnen des japanischen Kinos wissen es aber besser, denn in exakt solch einer Unterkunft spielt zu großen Teilen der Spielfilm „Ieji“, der bereits 2013 entstand und 2014 im Panorama der Berlinale zu sehen war.

Zwei Brüder und eine Fuhre verstrahlter Erde: „Ieji“ von Nao Kubota

„Ieji“ erzählt ebenfalls von einer Rückkehr in die Sperrzone. Hier ist es Jiro, der Sohn einer Reisbauernfamilie, der nach vielen Jahren in Tokyo wieder auf den verlassenen elterlichen Hof zieht. Illegal selbstverständlich, denn wenige Monate nach der Reaktorkatastrophe ist das Leben im Sperrgebiet strengstens untersagt. Jiros Familie musste den Hof innerhalb weniger Stunden verlassen und lebt nun unter beengten Verhältnissen in einer Notunterkunft. Jiros Halbbruder Soichi, der den Bauernhof zuletzt führte, leidet hier unter der Untätigkeit und unter dem Ohnmachtsgefühl, gegen die Entscheidungen von Politik und Atomwirtschaft nichts tun zu können. Währenddessen geht Soichis Frau Misa einer Beschäftigung bei einem Escortservice nach – Tomiko (Jiros Mutter beziehungsweise Soichis Stiefmutter) kümmert sich um die Tochter der beiden. Die Monotonie des Alltags in der Notunterkunft ist mit Händen zu greifen und steht im starken Kontrast zur archaischen Freiheit, die Jiro in der Sperrzone erlebt. Jiro trifft seinen Schulfreund Kitamura, streunt mit ihm herum und rekapituliert die Zeit, als er sich entschließt, dem Dorfleben den Rücken zu kehren. Der inzwischen verstorbene Vater, ein Patriarch alter Schule, engagierte sich in der lokalen Politik und pries das nahe gelegene Atomkraftwerk als wichtigen Arbeitgeber, der das Dorf mit Stolz erfüllen sollte: „Alle kennen Tokyo, niemand kennt unseren Ort. Aber was wäre Tokyo ohne den Strom, den wir hier erzeugen?“ Als sein hitziger Halbbruder Soichi dem Vater imponieren will und einen politischen Kontrahenten schädigt, nimmt Jiro die Schuld auf sich, bewahrt die Familie vor dem Gesichtsverlust und verlässt freiwillig das Dorf. In Tokyo gelingt es ihm aber selbst nach Jahren nicht, beruflich Fuß zu fassen. Jiro kehrt zurück, als nach der Dreifach-Katastrophe die verhasste Dorfgemeinschaft zerbricht und „endlich alle Menschen weg sind“.

Mit seinem ersten Spielfilm gelingt dem schon viele Jahre als Dokumentarfilmer aktiven Regisseur Nao Kubota eine realistische Erzählung, die viele Aspekte mit einbezieht, ohne überfrachtet zu wirken. Über knapp zwei Stunden lässt sich der Film viel Zeit und wählt eine betont ruhige Bildgestaltung, um die komplexen Zusammenhänge zwischen den Figuren darzustellen, überzeugend dargestellt von Jungstar Ken‘ichi Matsuyama und Independent-Schauspielgrößen wie Sakura Ando oder Masaaki Uchino. Regisseur Kubota und sein Drehbuchautor Kenji Aoki flechten Themen ein, die ohnehin in der japanischen Gesellschaft akut sind: den Abschied vom traditionellen Familien- und Männerbild, die Zunahme prekärer Beschäftigungen, die Landflucht und eine Jugend, die sich dem Leistungszwang verweigert und lieber als freeter ihren Lebensunterhalt bestreitet. Aber der Film stellt auch konkrete Fragen zur politischen Verantwortung für die Reaktorkatastrophe, benennt die Stigmatisierung der Betroffenen („Wer wird einmal ein Mädchen heiraten, das in Fukushima geboren wurde?“) und demonstriert die Machtlosigkeit der „kleinen Leute“ sowie die daraus resultierende Wut und Depression.

Eine drastische Wendung erfährt die Erzählung, als Soichi von Jiros Rückkehr auf den elterlichen Hof erfährt und gleichzeitig Soichis Nachbar Nobuaki Selbstmord begeht. Die beiden sich fremd gewordenen Brüder finden heraus, dass Nobuaki zuletzt vorhatte, eine Ladung kontaminierter Erde mit seinem Truck nach Tokyo zu fahren und vor das Landwirtschaftsministerium zu kippen. Sie beschließen, den Akt verzweifelten Protestes an Nobuakis Stelle auszuführen. Auf der Fahrt in die Metropole entsteht eine neue Verbundenheit zwischen Jiro und Soichi. Sie kehren um, und während Jiro letztendlich beschliesst, die im Containerdorf nicht mehr mit ihrem Alltag klarkommende, an Demenz leidende Mutter in die Sperrzone mitzunehmen und den Reisanbau wieder aufzunehmen, geht Soichi auf das Angebot eines Bekannten ein, in einem Dorf außerhalb der Zone eine brachliegende Reisplantage zu übernehmen und gemeinsam mit Frau und Kind neu anzufangen.

„Ieji“, der Titel des Films, lässt sich mit „Heimweg“ oder „Weg nach Hause“ übersetzen, aber der englische Titel „Homeland“ impliziert noch etwas anderes: die Heimaterde, die im Film eine zentrale Rolle spielt. Nicht so sehr als patriotischer Begriff, sondern ganz konkret als Erdboden mit verschiedenen Bedeutungen: als kontaminiertes Erdreich, aber auch als Humus, in dem Reis angepflanzt wird, und sogar als Symbol des Protestes, wenn Nobuaki plant, eine LKW-Ladung verseuchte Erde nach Tokyo zu bringen. Nao Kubotas unaufgeregt daherkommender Film findet oberflächlich betrachtet ein versöhnliches Ende. In Jiros Entschluss, sich gegen das Aufenthaltsverbot im Sperrgebiet aufzulehnen und damit sowohl gesundheitliche Risiken als auch gesellschaftliche Ächtung auf sich zu nehmen, steckt aber auch ein Anarchismus, den der Großteil der japanischen Gesellschaft als Provokation auffassen dürfte.

Von philosophierenden Androiden und hypochondrischen Schwangeren: drei Filme von Shion Sono

Als Provokateur gilt auch der seit den 1980er-Jahren aktive Filmemacher Shion Sono. Sein umfangreiches Werk mit zahlreichen Low-Budget-Produktionen lässt sich auf kein Genre festlegen. Sono spielt mit Thriller-, Trash- und Horror-Elementen, er neigt häufig zu verstörender Gewalt und explizit dargestellter Sexualität. In Japan hat er einen Ruf als Enfant terrible, aber auch als role model für eine junge Generation von Filmschaffenden. Angesichts dieser Eckdaten ist es verwunderlich, dass sich die Dreifach-Katastrophe gerade in Sonos Werk so stark niederschlug wie bei keinem anderen Filmschaffenden und für drei sehr unterschiedliche Filme sorgte.

Bereits im Mai 2011 drehte Shion Sono den auf einem Manga von Minoru Furuya basierenden Spielfilm „Himizu“ in den unmittelbar von der Tsunami-Katastrophe betroffenen Gebieten. Die verwüstete Landschaft an den Originalschauplätzen dient aber nur als Hintergrund für eine Filmhandlung, die um die Themen Gewalt, Erziehung und Katharsis kreist. Die Filmkritik zeigte sich von der metaphorischen Geschichte über zwei Teenager, die sich von der disziplin- und gewaltgeprägten Erziehung der Elterngeneration distanzieren wollen, durchwegs sehr angetan. Manche interpretierten das Ende des Films, das für den sich von der Vergangenheit mit seinem brutalen Vater abwendenden Yuichi einen positiven Ausblick bereithält, eine Nachricht an die Post-Fukushima-Generation: Gebt nicht auf! „Himizu“ weist nur indirekte Bezüge zur Dreifach-Katastrophe auf, aber immerhin änderte Sono kurzfristig das Drehbuch, um die aktuellen Ereignisse in den Film aufzunehmen.

Wesentlich direkter wurde Shion Sono ein Jahr später mit seinem Film „Kibô no kuni“, der international unter dem Titel „The Land Of Hope“ vermarktet wurde. Der fiktive Ort der Handlung heißt Nagashima – in diesem Namen fließen unübersehbar Nagasaki, Hiroshima und Fukushima ineinander – und wurde kurz zuvor von einem Erdbeben, einer Flutkatastrophe und einem Atomunfall heimgesucht. Die Polizei ist dabei, das Sperrgebiet zu evakuieren und stößt bei der Familie Ono auf Widerstand. Das ältere Paar Yasuhiko und Chieko weigert sich, ihr seit Jahrzehnten bewohntes Haus zu verlassen, fordert aber Sohn Yoichi und Schwiegertochter Izumi dazu auf, sich in Sicherheit zu bringen. Kaum an ihrem neuen Aufenthaltsort außerhalb der Sonderzone angekommen, stellt Izumi fest, dass sie schwanger ist. Sie verfällt in zwanghafte Verhaltensweisen, weil sie überall Radioaktivität vermutet, die ihr und dem ungeborenen Baby schaden könnte. Ihr Handeln nimmt absurde Züge an – etwa als Izumi in einem Strahlenschutzanzug einkaufen geht – und macht das junge Paar zu Außenseitern. Um die vier Hauptfiguren spinnt sich ein kleines Netz von Nebencharakteren und ihren Geschichten, durch die sich als roter Faden das Thema der Unsicherheit zieht. Wie lässt es sich weiterleben, wenn alle Aspekte des Lebens durch eine Katastrophe infrage gestellt werden? Shion Sono findet in „Kibô no kuni“ kaum Antworten, behält aber eine Perspektive der Hoffnung auf eine bessere Zukunft bei. Die Sensibilität und emotionale Tiefe, mit der er Menschen im Angesicht eines großen Unglücks zeigt, zeugen von großem Einfühlungsvermögen, das man dem Filmemacher in dieser Form fast nicht zugetraut hätte. „Kibô no kuni“ ist bis dato womöglich Sonos erwachsenster Film überhaupt.

Verspielt und elegisch zeigt sich Shion Sono in einem seiner jüngsten Filme, der im Mai 2016 in die deutschen Kinos kommt. „The Whispering Star“ – oder im Original „Hiso hiso hoshi“ – ist ein mit einfachsten Mitteln gedrehter Science-Fiction-Film in Schwarz-Weiß. Nach einigen nicht weiter benannten Katastrophen und Kriegen wurde die Menschheit stark dezimiert, die Überreste leben zurückgezogen und über das ganze Weltall verstreut. Menschenähnliche Androiden haben das Kommando übernommen und stellen inzwischen 80% der Bevölkerung. Eine von ihnen ist Suzuki Yoko (gespielt von Sono-Muse Megumi Kagurazaka), die seit mehreren Jahren als interstellare Postbotin in die entlegensten Winkel des Universums Pakete ausliefert. Es sind kleine, persönliche Gegenstände ohne Nachricht, die von einem Menschen zum anderen geschickt werden. Yoko, die auf ihrer einsamen Reise nur ihren anachronistisch anmutenden Bordcomputer als Gesellschaft hat, versteht nicht, was es mit diesen Postsendungen auf sich hat, die bei ihren Empfängern Freude, Verblüffung oder Traurigkeit auslösen. Doch nach und nach wird auch Yoko immer menschlicher, beginnt zu rauchen, lernt das Gefühl der Wut kennen und entdeckt die Freude am Radfahren.

Mit diesem minimalistischen Sci-Fi-Film zollt Shion Sono einer Reihe von Klassikern des Genres Tribut. Der sprechende Bordcomputer zitiert Stanley Kubricks „2001“, die unheimliche Stille an Bord von Yokos Raumschiff erinnert an „Solaris“ von Andrei Tarkowski. Für die Außenaufnahmen, die in ihrer post-apokalyptischen Stimmung an „Stalker“, einen weiteren Tarkowski-Film, denken lassen, begab sich Sono abermals in die Fukushima-Sperrzone. Hier spielt sich das Leben in Ruinen ab, doch die verbliebenen Menschen tragen die Entbehrungen mit verblüffender Gelassenheit. „Hiso hiso hoshi“ ist der philosophischste der drei Sono-Filme und beschäftigt sich nicht nur mit dem Weiterleben nach einer Katastrophe, sondern auch mit der Frage: was macht den Menschen aus? Dafür nimmt sich der Regisseur Freiheiten, die vom Themenkomplex Fukushima wegführen und den Blick auf universelle Themen der Menschheit richten. „Hiso hiso hoshi“ unterstreicht, wie sehr Sono ein humanistischer Filmemacher ist, der selbst in seinen extremsten Filmen selten in Zynismus oder Nihilismus verfällt. Mit seinen wunderbar fotografierten Schwarz-Weiß-Bildern und der Ruhe, die der Film ausstrahlt, sticht „Hiso hiso hoshi“ auch ästhetisch aus dem Werk dieses Film-Workaholics heraus.

Zukünftig werden sich weitere japanische Filmschaffende mit den Ereignissen und den Folgen der Dreifach-Katastrophe auseinandersetzen. Dies legt schon allein ein Blick in die japanische Filmgeschichte nahe, in der bereits die beiden Atombombenwürfe über Hiroshima und Nagasaki tiefe Spuren hinterlassen haben – vom Anime „Astroboy“ über die „Godzilla“-Monsterfilme bis zu Autorenfilmen wie „Kuroi ame“ („Schwarzer Regen“) von Shohei Imamura. Die bisher fertig gestellten Filme lassen den positiven Schluss zu, dass die japanische Filmszene bei der Verarbeitung der Ereignisse vom März 2011 und deren Folgen weniger auf Kitsch und Gefühligkeit, sondern viel mehr auf Kritik, Psychologie und philosophische Fragestellungen setzt. Bedauerlich aber, dass nur ein Bruchteil dieser Werke den Weg in die deutschen Kinos schafft. Als Korrektiv zu einem Film wie „Grüße aus Fukushima“ sollten sie einem deutschen Kinopublikum höchst willkommen sein.

Grüße aus Fukushima
Erscheinungstermin: 10. März 2016
Regisseurin: Doris Dörrie
Länge: 108 Minuten

The Whispering Star (Hiso hiso hoshi)
Erscheinungstermin: 26.Mai 2016
Regisseur: Shion Sono
Länge: 100 Minuten

Die weiteren vorgestellten Filme sind als DVD erhältlich (teilweise nur Import).

Weitere Filmrezensionen hier