Ein giftiges Kapitel spanischer Geschichte

Javier Sebastián enthüllt in seinem Roman „Thallium“ einen handfesten Skandal

Von Eleonore AsmuthRSS-Newsfeed neuer Artikel von Eleonore Asmuth

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Gerado Moreo war der Meinung, dass man niemanden für das verantwortlich machen könne, was seine Eltern getan hatten.“ Als seine Tochter Fátima allerdings von den Verstrickungen ihrer Eltern in eine Serie politischer Morde in Guinea der 1960er-Jahre erfährt, wirbelt der Staub der Vergangenheit ihr ganzes Leben durcheinander. Kurz nach dem Tod ihres Vaters begibt sich die Journalistin auf eine spannende Reise: Sie deckt geheime Aktivitäten spanischer Militärs während der Franco-Diktatur in Westafrika auf und muss dabei feststellen, dass ihre eigene Familiengeschichte auf einer Lüge basiert.

Geschickt und fesselnd vermischt Javier Sebastián, der Autor des erfolgreichen Romans „Der Radfahrer von Tschernobyl“, in seinem zweiten in deutscher Sprache erschienenen Buch „Thallium“ Fakten und Fiktion. Dabei verwendet der Autor eine nüchterne Sprache und lässt den Leser in Form von Rückblenden in die Recherchen Fátimas eintauchen.

Es ist also weniger die Geschichte von Fátima, die Sebastián erzählt, als die ihrer schönen Mutter Carmen Moreo und ihres Liebhabers Rámon Salinas. Beide lernten sich in der Mitte des vergangenen Jahrhunderts in dem malerischen Örtchen Carpentras, in der Provence, kennen. Salinas war – ebenso wie Carmens Mann und Fátimas Vater Gerado – in diesen Zeiten als hochrangiger spanischer Militär oft im Ausland unterwegs. Zu den beiden Männern gesellt sich noch ein dritter Protagonist: Gil Escolano. Alle drei waren in politische Morde im postkolonialen Guinea verwickelt. „Wir müssen denen, die man uns nennt, bloß ein bisschen Thallium verabreichen“ – so lautete der Auftrag. Jahrzehnte später treffen sie im Barcelona der Gegenwart wieder aufeinander. Die düstere Vergangenheit holt jeden von ihnen ein und fordert noch heute ihre Opfer.

Doch zurück zu Salinas und Carmen und die 1960er-Jahre: Er war in Südfrankreich, um in einem Labor eben dieses geruch- und farblose Gift für die Geheimoperation in Guinea herzustellen. Carmen hingegen frönte dem ruhigen Landleben fernab von Ehemann und Heimat und widmete sich dort dem Verkauf ihrer innig geliebten und von vielen Kunden wert geschätzten Trüffel. Abenteuerlustig folgte die junge Spanierin eines Tages ihrem Liebhaber Salinas nach Guinea und wurde – zunächst ohne ihr Mitwissen – Teil des perfiden Plans rund um das Gift Thallium. „Es ging um die Ambitionen der Franzosen, in der Region Einfluss zu gewinnen. Um General Delaunay-Lacombe, um die Trüffeln zweier spanischer Militärs: Gil Escolano und Ramón Salinas. Und um eine Frau aus Toulouse, deren Namen niemand kannte.“

Was sich anhört wie die verworrene Geschichte eines großen politischen Skandals, ist es auch: Durch die Nachforschungen der Journalistin taucht der Leser immer tiefer in das Netz aus Intrigen, Ehebruch, politischen Morden und einer geheimen lebenslangen Liebe ein. Wie eine Detektivin begibt sich Fátima auf die Suche nach der Wahrheit, die – am Ende – ihr eigenes Leben berührt und die Identität ihrer Familie zu zerstören droht.

Gegen die belastenden Tatsachen steht immer die emotionale Bindung zu den Eltern. Ein Konflikt, den Sebastián sensibel ausbreitet: „Endlich entlastete jemand ihren Vater, fuhr es Fátima durch den Kopf“ – doch die Katastrophe lässt sich nicht mehr aufhalten. Der Autor beschreibt, wie sich das Bild der Tochter von der eigenen Mutter wandelt, je mehr Fátima in Carmens dunkle Vergangenheit abtaucht.

Fátima Moreo betrachtete ihre Mutter aufmerksam. Der so vertraute Schwung der Augenbrauen, die Falten auf der Stirn schienen einer anderen Person zu gehören, die in dieser Nacht anstelle ihrer Mutter hier im Nähsessel saß. Denn es war höchst sonderbar, sie von diesem anderen Leben erzählen zu hören.

Eine Auseinandersetzung mit dem Vater bleibt aufgrund seines Ablebens aus – eine nicht seltene Erfahrung im Umgang mit Zeitzeugen. Für den Leser entfaltet sich auf knapp 200 Seiten ein spannendes Mosaik, dessen einzelne Teile sich erst am Schluss des Romans komplett zusammenfügen lassen. Bis dahin lässt Sebastián sein Publikum bisweilen gespannt zurück und verliert sich dabei manchmal in Details. Der aus Saragossa stammende Autor lässt den Leser zwischen Raum und Zeit reisen: Wechselnde Erzählperspektiven und Zeitsprünge erfordern einen aufmerksamen und vor allem konzentrierten Leser.

Javier Sebastián schafft es, mit „Thallium“ ein historisches Kapitel spanischer Geschichte mithilfe fiktiver Figuren zum Leben zu erwecken. Damit leistet er einen literarischen Beitrag zur der in Spanien gerade erst begonnenen Vergangenheitsbewältigung der Franco-Diktatur und beleuchtet gleichzeitig ein Stück spanisch-französischer Kolonialgeschichte, das vielen unbekannt vorkommen wird.

Titelbild

Javier Sebastián: Thallium. Roman.
Übersetzt aus dem Spanischen von Ursula Bachhausen und Anja Lutter.
Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2015.
208 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783803132727

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